Archiv


Höhere Mehrwertsteuer trifft vor allem die Familien

Nach Ansicht des Steuerexperten und ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, wie sie die Union erwägt, sozialstaatlich und gleichheitsrechtlich nur schwer vertretbar. Sie würde vor allem diejenigen treffen, die kleine Einkommen haben, und damit insbesondere Familien mit Kindern, die schon jetzt mit einer Schieflage in der Belastung durch die indirekten Steuern zu kämpfen hätten.

Moderation: Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: Am kommenden Montag will die Union ihr Wahlprogramm vorlegen. Fünf Wochen haben Vertraute der beiden Parteichefs Merkel und Stoiber darüber verhandelt. Nun ist der Punkt gekommen, an dem die Chefs die letzten strittigen Punkte entscheiden müssen. Zu diesen Punkten gehört die Verwendung von rund 16 Milliarden Euro. Das ist die Summe, die aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Punkte in die Staatskassen gespült werden wird. Welche Folgen hätte das für Markt und Konjunktur? Zu diesen Fragen begrüße ich nun den Steuerexperten und früheren Verfassungsrichter Professor Paul Kirchhof, derzeit Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Guten Morgen, Herr Kirchhof.

    Paul Kirchhof: Guten Morgen, Herr Liminiski.

    Liminski: Herr Kirchhof, so wie es aussieht, wird die Mehrwertsteuer im Falle eines Wahlsieges der Union um zwei Punkte erhöht. Das scheint das einzig sichere zu sein. Spekuliert wird, ab wann erhöht wird, wahrscheinlich ab 2007. Und wofür die frischen Milliarden verwendet werden sollen? Nach Merkel zur Senkung der Lohnnebenkosten, etwa bei der Arbeitslosenversicherung. Ergibt das alles für den Steuerfachmann einen Sinn?

    Kirchhof: Zunächst muss man sich bewusst machen, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer immer diejenigen trifft, die kleine Einkommen haben und vor allem diejenigen, die ihr ganzes Einkommen konsumieren müssen. Das sind vor allem die Familien, die ihre Kinder ernähren müssen und diese Familien werden ja schon gegenwärtig durch die Verbrauchssteuer etwa auf Alkohol und Tabak, durch die soziale Härte der Ökosteuer, mit 15 bis 20 Prozent ihres gesamten Einkommens belastet. Während die anderen, die höhere Einkommen haben oder keine Kinder haben, sparen und investieren können und bei diesem Sparen und Investieren direkt den Steuern gänzlich ausweichen. Wir haben schon gegenwärtig eine Schieflage in der Belastung durch die indirekten Steuern. Und wenn jetzt die Mehrwertsteuer erhöht würde, also die Kaufkraft dieser kleinen Einkommen um zwei Punkte gesenkt würde, wäre das natürlich sozialstaatlich, aber auch gleichheitsrechtlich nur schwer vertretbar, es sei denn, das Steueraufkommen würde insgesamt zugunsten der Familien verwendet, also die 16 Milliarden, die man erwartet, wären der Baustein, um eine ernste Familienpolitik zu beginnen.

    Liminski: Sie sprechen von den Folgen einer Mehrwertsteuererhöhung für die Familien. Im Gespräch ist aber auch die Einführung eines Freibetrages von 8000 Euro pro Kopf der Familien, bei der FDP sind es etwas weniger. Man wird sich da wohl einigen können. Würde damit die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht auch in etwa ausgeglichen?

    Kirchhof: Ein Freibetrag von 8000 Euro pro Kopf im Einkommenssteuerrecht für jeden Menschen, also auch für das Kind, ist ein ganz gewaltiger Schritt, um das Einkommensteuerrecht in Ordnung zu bringen. Denn gegenwärtig sind die Freibeträge zu gering. Sie fangen nicht das auf, was der tatsächliche Kindesbedarf ist. Aber mehr wäre es auch nicht. Es ist eine begrüßenswerte Reform im Sinne einer familiengerechten Gestaltung der Einkommensteuer. Man müsste weiter denken und sich bewusst machen, dass diese Einkommensteuerregel den Familien mit kleinem Einkommen und vielen Kindern nichts hilft, denn die zahlen sowieso keine Einkommensteuer. Deswegen müsste der nächste Schritt sein, dass wir diese 8000 Euro umrechnen in einen steuerfreien Betrag, den wir bezahlen für jedes Kind, um insbesondere auch diejenigen Familie zu erreichen, die kleine Einkommen haben und bei denen, um die Chancengleichheit der Kinder willen, eine familiengerechte Ausstattung in besonderer Weise wichtig ist.

    Liminski: Das heißt, Sie wären eher für die Erhöhung des Kindergeldes?

    Kirchhof: Ich wäre für eine Erhöhung des Kindergeldes, das natürlich steuerfrei, weil das eben jede Familie erreicht.

    Liminski: Genügen denn die aktuellen Wahlkampfbausteine, wie zum Beispiel dieser Freibetrag der Parteien oder auch das Elterngeld der SPD den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes?

    Kirchhof: Wir haben einen wichtigen unerfüllten Verfassungsauftrag: Das ist die Korrektur des Generationenvertrages, insbesondere des Rentensystems. Dort haben wir ja die Absonderlichkeit, dass in diesem so genannten Generationenvertrag alle Arbeitnehmer berechtigt sind, die Mütter aber und die Väter, die diesen Generationenvertrag ermöglicht haben, weil sie ihnen den zweiten Vertragspartner, die Kinder, die Jugend geben, aus eigenem Recht gegenwärtig fast nicht berechtigt sind. Und dies ist ein Unrecht, dass das Bundesverfassungsgericht, beide Senate, beanstandet hat, den Gesetzgeber beauftragt hat, bei jedem Reformschritt dieses familiäre Unrecht abzubauen. Da ist wenig geschehen: Kinder werden berücksichtigt in Erziehungszeiten, aber das ist vom Betrag her ein kleines Bonsai-Bäumchen. Das müsste eine große deutsche Eiche werden. Und von daher müssen wir hier in der Generationengerechtigkeit vor allem das herstellen, was wirtschaftlich und familiär die Realität ist. Dieser Generationenvertrag, er eignet sich zunächst einmal zwischen Eltern und Kinder und deswegen muss auch die Rente, dem Grunde und der Höhe nach zunächst einmal den Eltern zu Gute kommen, weil sie von den Kindern bezahlt wird.

    Liminski: Herr Professor, Sie sprechen von einem unerfüllten Verfassungsauftrag. Man könnte ja auch sagen, dass wir einen permanenten Verfassungsbruch leben. Wird dieser Verfassungsbruch durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht noch mehr verschärft?

    Kirchhof: Das kommt, wie gesagt, von der Verwendung des Mehrwertsteueraufkommens. Es ist ja erwogen worden und wird öffentlich diskutiert, dass man diese 18 Milliarden vielleicht verwendet für den Generationenvertrag. Da ist die Frage nur für die Krankheitssicherung und dort ist wiederum die Frage, ob die Kinder unentgeltlich mitversichert sind, was gegenwärtig wohl geplant ist. Dann wäre dieses Konzept ein Schritt in die richtige Richtung, das betragsmäßig noch nicht stimmt, aber es wäre immer hin ein ganz wichtiger Ansatz der Umsteuerung, der vielleicht unsere Zukunftsfähigkeit und damit das Kind in den Mittelpunkt zukünftiger Reformpolitik stellt.

    Liminski: Sie waren auch Verfassungsrichter und Deutschland erwartet nun nach der Vertrauensfrage eine Antwort des Bundespräsidenten. Jedermann weiß, dass bei der Vertrauensfrage der Tatbestand der Unwahrheit gegeben war, denn nach der klassischen Definition von Augustinus ist die Lüge ja eine Aussage, mit dem Willen Falsches auszusagen. Wenn der Bundespräsident Sie um Rat fragen würde, was würden Sie ihm sagen?

    Kirchhof: Ich würde zunächst einmal bewusst machen, dass die erste Frage die ist, ob der Bundeskanzler bei der gegenwärtigen Situation die Vertrauensfrage stellen durfte, ob er also in seiner politischen Einschätzung erwarten durfte, dass seine Partei, seine Koalition, seine Politik nicht mehr trägt. Und wenn wir uns da bewusst machen, dass er den Vorsitz seiner Partei verloren hat, dass eine wichtige Abspaltung in seiner Partei bedrohlich sich ereignet, dass er im wesentlichen Arbeitsmarkt- und Industriepolitik machen wollte, während wesentliche Gruppen seiner Partei die Akzente ganz anders setzen - Ökologie, Gleichberechtigung, neue Lebensformen - wenn wir dann noch an dem Freitag gehört haben, als es um das Thema Vertrauen im Parlament ging, dass der Bundeskanzler sagt, mir fehlt das Vertrauen meiner Gruppe, während der Parteivorsitzende der SPD gesagt hat, Sie haben unser Vertrauen, dann wird, glaube ich, sehr deutlich, dass ein schwerer innerer Konflikt in dieser Partei besteht, und dass der Bundeskanzler deswegen das Recht hatte, mit diesem Antrag sich zu vergewissern, ob er das Vertrauen seiner Partei und Koalition noch hat.

    Und dann kommen zwei weitere Fragen, dann hat der Bundestag darüber abgestimmt und jeder Abgeordnete, auch derjenige, der sich enthalten hat, weiß, was er tut, er kennt die Rechtsfolgen seines Verhaltens, und dann hat der Bundespräsident ein Ermessen, den Bundestag aufzulösen oder nicht und wenn er diese schwierige Situation sieht, dass derjenige, der die Verantwortung für die Politik dieser Regierung trägt, nämlich der Kanzler, selber nachvollziehbar aus vertretbaren Gründen sagt, es macht keinen Sinn mehr, dass ich in dieser Konstellation weiterarbeite, ist dieses wahrscheinlich eine wesentliche Vorgabe, auch für die autonome, verantwortliche Vorgabe des Bundespräsidenten.

    Liminski: Wäre denn eine Ergänzung des Artikels 68 um einen kleinen Satz, der ein Selbstsauflösungsrecht des Parlamentes definierte, machbar? Man argumentiert ja immer mit der Würde der Verfassung, da könne man sich nicht an aktuellen Bedürfnissen ausrichten. Aber Lügen ist doch sicher nicht würdevoller?

    Kirchhof: Ich würde sagen, im Moment, wo wir erleben, die Verfassung zwickt vielleicht ein bisschen, beengt vielleicht ein bisschen, wäre ich sehr skeptisch, wenn man dann immer gleich nach Verfassungsänderung ruft, aber, wenn wir dann, in ein zwei Jahren, ruhige Zeiten erreicht haben und niemand denkt an eine Auflösung des dann amtierenden Parlamentes, dann sollte man ernstlich darüber nachdenken, ob man nicht das Grundgesetz im Artikel 39, dort wo steht, die Periode ist vier Jahre, oder am Ende der Regelung des Bundestages, Artikel 49, eine neue Regelung einführt, die besagt, auf Antrag des Kanzlers - das ist wichtig, damit die Opposition nicht alle Vierteljahr nicht sagen kann: Du kannst es nicht, wir brauchen Neuwahlen - kann der Bundestag mit Dreiviertelmehrheit - das ist die höchste, minderheitsschützende Mehrheit, die wir im Grundgesetz haben - den Bundespräsidenten ermächtigen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen, also eine Ermächtigung des Präsidenten, damit der auch die Möglichkeit hat, sollte da jemals etwas Manipulatives stattfinden, dass er dann gegensteuern kann. Das wäre meines Erachtens eine sinnvolle Lösung, nachdem wir gegenwärtig nicht mehr in Weimar, sondern in sehr soliden und gediegenen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland leben.

    Liminski: Das war Professor Paul Kirchhof, ehemals Verfassungsrichter und jetzt Direktor des Institutes für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Besten Dank für das Gespräch.