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Hoffnung auf "wirklichen Neustart" in Belgien

Nach eineinhalb Jahren hat Belgien wieder eine Regierung. Das neue Bundesstaatsmodell sei eine gute Basis für die Zusammenarbeit, meint der Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, Karl-Heinz Lambertz. Jetzt müsse entschlossen die Schuldenkrise angegangen werden.

Karl-Heinz Lambertz im Gespräch mit Dirk Müller | 07.12.2011
    Müller: Eineinhalb Jahre Vakanz, Stillstand, Rückschläge, gegenseitige Blockaden – nicht wegen des Euro, nicht wegen der Staatsschulden, nicht wegen Renten und Steuern, sondern wegen des immerwährenden Sprachenstreits zwischen Flamen und Wallonen, so liest man es jedenfalls. Elio Di Rupo ist der erste frankophone Ministerpräsident des Landes seit 40 Jahren.
    Darüber sprechen wollen wir nun mit Karl-Heinz Lambertz, sozialistischer Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Guten Morgen nach Eupen.

    Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!

    Müller: Herr Lambertz, was ist schiefgelaufen in Belgien? Ihr Land hat tatsächlich eine neue Regierung.

    Lambertz: Ja! Darüber freut man sich natürlich und das ist von großer Bedeutung, denn die Situation hat zwar sehr lange Zeit in Anspruch genommen, aber sie erlaubt jetzt auch einen wirklichen Neustart und einen Durchstart. Dass es zu einer Lösung kommen würde, daran habe ich persönlich nie gezweifelt. Das habe ich Ihnen ja bei früheren Interviews zu dieser Morgenstunde auch schon gesagt. Dass es lange dauern würde, das war mir auch klar. Aber dass es so lange dauern würde, dass man sogar mit dem eben angesprochenen Bart richtiges Gewicht erzielt, das hätte ich auch nicht gedacht.

    Müller: Haben Sie sich auch frisch rasiert?

    Lambertz: Ich habe gerade meine Rasur hinter mir, ich war in der Dusche und werde auch nach unserem Interview dann mich direkt ins Auto setzen und meinen Tagesablauf beginnen, der unter anderem heute im Wesentlichen in Brüssel stattfindet.

    Müller: Herr Lambertz, eineinhalb Jahre Belgien ohne Regierung. Wir haben das von deutscher Seite auch hier im Deutschlandfunk immer wieder verfolgt – nicht immer en Detail, das ist ganz klar, aber wir hatten so ein bisschen den Eindruck, es geht auch ohne.

    Lambertz: Belgien hatte natürlich eine Regierung und diese hat als diensttuende Regierung ganz ordentlich gearbeitet: EU-Vorsitz, eine ganze Menge wichtiger Entscheidungen. Das Land hat weiter funktioniert, unter anderem auch deshalb, weil der bislang in Belgien entstandene Föderalismus so gestrickt ist, dass die Dinge, die die Menschen direkt betreffen, vor allem von den Bundesländern wahrgenommen werden, und die hatten seit 2009 eine völlig funktionstüchtige Regierung: in Flandern, in der Wallonie, in Brüssel und auch in der deutschsprachigen Gemeinschaft.

    Müller: Da werden sich viele fragen, warum ist es dann nicht so weitergegangen.

    Lambertz: Natürlich braucht ein Bundesstaat irgendwann auch eine Bundesregierung. Warum hat es überhaupt so lange gedauert? – Ich glaube, dass man das, wenn man mal alle Anekdoten und besonderen Umstände wegnimmt, auch dem deutschen Zuhörer sehr leicht klar machen kann. Aus Gründen, die mit dem Streit zwischen Flamen und Wallonen zu tun haben, haben die Flamen gesagt, wir machen keine neue Regierung, solange wir keine neue Föderalismusreform in trockenen Tüchern haben. Und Sie wissen ja auch in Deutschland, wie lange Zeit es braucht, eh man eine Föderalismusreform klar hat. Und die Reform, die jetzt am 11. Oktober zustande gekommen war, ist bei Weitem bedeutender als die Föderalismusreform I und II in Deutschland zusammen. Das war keine leichte Arbeit und dafür braucht man Zeit, und wenn das dann als Bedingung für eine Regierungsbildung im Raum steht, dann kann das schon etwas die Geduld auf die Probe stellen.

    Müller: Der Föderalismus – Sie haben das angesprochen, Herr Lambertz – hat ja auch seine Schattenseiten. Wir diskutieren auch seit Jahrzehnten in Deutschland über diese Schattenseiten, beispielsweise gerade in der Bildungspolitik, was ja in der aktuellen Diskussion immer wieder ganz oben auf der Agenda steht. Warum wollen die Bundesländer in Belgien mächtiger werden?

    Lambertz: Ja! Wenn Sie sich das belgische Modell in Deutschland mal etwas näher anschauen, würden Sie sich sofort klar werden, dass Sie die Probleme, die Sie dort haben, in Belgien nie haben werden, denn in Belgien ist Bildung auf allen Ebenen inklusive Universität eine reine Landesangelegenheit und bleibt es auch. Warum wollen die belgischen Gemeinschaften und Regionen, die belgischen Bundesländer mehr Zuständigkeiten? Das hat etwas mit dem Verhältnis zwischen Flamen und Wallonen zu tun. Es ist von großer Bedeutung, dass in einem Vielvölkerstaat wie Belgien, wo verschiedene Sprachgruppen herrschen, die Autonomie so groß ist, dass jeder für seine eigenen Dinge verantwortlich ist und man beim Bund nur das lässt, was wirklich einen föderalen Mehrwert hat. Das war eine Seite der Diskussion.
    Und die andere Seite war die noch viel kompliziertere, nämlich die, eine neue Finanzverfassung auf die Beine zu kriegen, wo auch mehr Verantwortung bei den Bundesländern liegt. Auch das war nicht einfach, umso mehr, als die Meinungen der Flamen und der Frankophonen in diesen Dingen immer sehr weit auseinanderlaufen. Und der ewige Streitapfel Brüssel war seit vier Jahrzehnten ungelöst auf dem Tisch und hat sich jetzt durch diese famose Regelung um Brüssel-Halle-Vilvoorde herum auch endlich mal als ein zerschlagener gordischer Knoten erwiesen.

    Müller: Herr Lambertz, ich muss da noch einmal nachfragen, damit keine Missverständnisse aufkommen. Sie haben von der Bildungspolitik gesprochen und meinten, diese sei in der Kompetenz des Landes, also des Landes Belgien.

    Lambertz: Nein, nein: der Bundesländer.

    Müller: Der Bundesländer. Das macht die Sache ja ebenso kompliziert wie bei uns.

    Lambertz: Aber es funktioniert bedeutend besser, wenn Sie mir das als Bemerkung erlauben. Man braucht sich ja auch bloß die Pisa-Studien anzuschauen, auch im Vergleich. Und es ist schon wesentlich, dass Bildungspolitik in einem Land, wo die Sprachgruppen und die Kulturen die Grundlage der bundesstaatlichen Ordnung sind, dass die bei den Ländern liegt.

    Müller: Reden wir, Herr Lambertz, über den Sprachenstreit: Wallonen contra Flamen. Sie haben das mehrfach jetzt auch in diesem Interview erwähnt. Das liest man in Deutschland immer wieder: Das ist der Hauptzankapfel, das ist das Hauptproblem. Ist das in Wirklichkeit, Herr Lambertz, ein Konflikt zwischen Arm und Reich?

    Lambertz: Es ist beides und noch eine ganze Menge mehr. Es ist der Unterschied zwischen einer germanisch orientierten Sprachgruppe und einer romanisch orientierten Sprachgruppe, und da gibt es Sprachunterschiede, Mentalitätsunterschiede, die seit eh und je in Belgien bestehen und die eine große Bedeutung haben. Aber es ist auch der Konflikt zwischen ärmer und reicher, denn arm ist in Belgien eigentlich niemand, wenn man das mal weltweit vergleicht. Die Flamen sind heute die finanziell stärkeren, früher waren es die Wallonen, und das spielt auch eine Rolle, vor allem, wenn man über einen Finanzausgleich dann auch diskutieren muss. Das ist fast dann so stark in der Diskussion wie die Debatte zwischen Saarland und Bayern.

    Müller: Haben die Flamen in der Vergangenheit gegen die Wallonen politisch agiert?

    Lambertz: Ich würde das nicht auf ein gegen im Wesentlichen fokussieren, sondern jeder hat seine eigenen Interessen und die sind nicht immer kompatibel und da muss es einen Interessenausgleich geben. Und die jetzt vollzogene oder beschlossene – vollzogen muss sich ja noch werden -, die jetzt beschlossene Bundesstaatsreform, das neue Bundesstaatsmodell erlaubt es, diese Diskussion in einem anderen, in einem angepassteren Rahmen zu führen, wo noch mehr Verantwortung bei den Ländern liegt, und das, denke ich, ist eine gute Voraussetzung, um auch die Kooperation zwischen den einzelnen belgischen Bundesländern, die ebenfalls sehr wichtig ist, nochmals mit einer neuen Dynamik zu versehen.

    Müller: Jetzt sind Flamen und Wallonen in vielen politischen Feldern ja oft politisch gespalten. Jetzt müssen aber beide auch mit dem Euro bezahlen. Die gemeinschaftliche Währung gibt es ja nun auch in Belgien für alle. Was muss da passieren, damit Belgien aus der Schuldenkrise herauskommt?

    Lambertz: Belgien hat aus vielen Gründen eine ziemlich hohe Staatsverschuldung. Wir liegen so etwa bei 98 Prozent zum jetzigen Zeitpunkt. Vor der Finanz- und Wirtschaftskrise lagen wir bei rund 84 Prozent. Das ist ungefähr da, wo Deutschland heute liegt. Und das muss natürlich abgebaut werden. Die Ursachen zur hohen Staatsverschuldung haben übrigens auch etwas mit dem Konflikt zwischen Flamen und Wallonen zu tun, denn in der Vergangenheit wurde dies auch oft dadurch gelöst, dass man sowohl dem einen als dem anderen Recht gab und alles sozusagen doppelt finanzierte. Das kann auf die Dauer natürlich nicht klappen. Da muss Belgien jetzt große Anstrengungen machen, das ist ja auch in diesem Regierungsabkommen jetzt mit vorgesehen, um bedeutende Sparmaßnahmen durchzuführen und dann wieder auf den Weg hin zu einer Staatsverschuldung der Größenordnung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu kommen.

    Müller: Herr Lambertz, noch eine Frage. Wir haben nicht mehr viel Zeit, ich möchte sie trotzdem stellen – aus persönlichem Interesse zugegeben. Werden Sie denn bereit sein, im Rahmen der Sparmaßnahmen auch auf die Straßenleuchten an den Autobahnen zu verzichten?

    Lambertz: Das ist jetzt schon zum Teil eine Maßnahme, die ergriffen wurde, die aber nicht die allergrößte und kostenintensivste Sache ist, die übrigens auch einen großen Vorteil hat. Ich selbst fahre oft genug auf belgischen und auf anderen europäischen Autobahnen, um das einschätzen zu können. Aber diese Beleuchtungsmethode ist noch eine Folge der frühen Atomstrompolitik, wo es diesen Strom nachts praktisch umsonst gab. Das wird sich auch natürlich alles ändern müssen, vor allem, wo ja auch Belgien in diesem Abkommen den Ausstieg aus der Atomenergie ab 2015 beschlossen hat.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Karl-Heinz Lambertz, sozialistischer Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Danke für das Gespräch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.