Freitag, 19. April 2024

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Hohe Corona-Todeszahlen
″Kein Ende absehbar, wenn jetzt nichts passiert″

Die Zahl der Corona-Todesfälle innerhalb eines Tages in Deutschland hat einen neuen Rekordwert erreicht. Dieser Trend müsse unbedingt umgekehrt werden, sagte der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, im Dlf. Die starke Belastung der Intensivstationen könne sonst bis März anhalten.

Gerald Gaß im Gespräch mit Stefan Heinlein | 09.12.2020
Mitarbeiter betreuen einen Coronapatienten auf der Intensivstation. Die Zahl der Coronapatienten auf den Intensivstationen nimmt während der zweiten Coronawelle weiter zu.
Die Belastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern sei derzeit sei enorm, so Gerald Gaß (picture alliance / ANP / Marco de Swart)
590 Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus innerhalb eines Tages – so lautet die jüngste Meldung des Robert-Koch-Instituts. Die Zahlen seien ein trauriger Rekord, sagt Gerald Gaß, der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft. ″Das müssen wir unbedingt umkehren.″ Bei der Belastung der Intensivstationen liege man bereits jetzt 40 Prozent über dem Spitzenwert aus dem Frühjahr. Ein Ende sei nicht absehbar. "Wenn nichts passiert, wird diese Situation bis in den März anhalten.″ Das Personal arbeite unter einer sehr hohen Belastung. Wirkliche Engpässe bei den Intensivkapazitäten, aber auch im allgemeinen Krankenhausbetrieb gebe es bisher jedoch nur an "überschaubar wenigen" Krankenhäusern.
Vor allem in Sachsen sehe man eine drastische Entwicklung in der zweiten Corona-Welle. Dort seien sechsmal so viele Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen wie zum Spitzenwert im Frühjahr. Bei der COVID-19-Erkrankung gehe es nicht nur um die Intensivmedizin, ″sondern die etwa vier- bis fünffache Zahl – circa 20.000 Patienten – sind auf Normalstationen.″ Grundsätzlich sei die Versorgung mit Krankenhäusern aber flächendeckend. Alle Menschen in Deutschland könnten sich auch darauf verlassen, dass sie unabhängig von ihrem Versicherungsstatus sofort versorgt würden.
Mit Blick auf die Diskussion um Weihnachts-Lockerungen beziehungsweise um eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen sagte Gaß: ″Ich finde, das sind falsche Signale, jetzt zu sagen, wir können noch mal lockern und dann wird scharf durchgegriffen. Wir sollten den Menschen sagen, bitte feiert in der allerengsten Kernfamilie und haltet euch an die Vorgabe, die Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Lassen Sie uns Familienfeste für den Mai planen. Dort können wir nach draußen gehen und haben große Vorfreude."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Es ist eine schlechte Nachricht am heutigen Morgen. 590 Menschen sind innerhalb eines Tages an Covid-19 gestorben. Das ist ein trauriger Rekord. Ist das, Herr Gaß, ein klarer Hinweis auf die Überlastung unseres Gesundheitssystems, der Krankenhäuser, besonders der Intensivstationen?
Gerald Gaß: Ja, das ist in der Tat ein trauriger Rekord, und wir eilen ja leider von Tag zu Tag mit diesen Rekorden voran, und das müssen wir unbedingt umkehren. Wir haben im Gesundheitswesen seit vielen Wochen jetzt eine hohe Belastung. Ich will das mal an ein paar Zahlen deutlich machen. Unseren Spitzenwert aus dem Frühjahr, bei dem wir etwa 2.900 COVID-Patienten in den Intensivstationen hatten, haben wir am 8. November erreicht, und seit dem 8. November steigen die Zahlen immer weiter. Wir liegen mittlerweile bei über 4.200 und damit 40 Prozent über diesem Spitzenwert, und es ist gar kein Ende absehbar. Das heißt: Wenn jetzt nichts passiert, dann wird diese Situation bis in den März hinein wahrscheinlich anhalten, und das ist eine Belastung, die für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus enorm ist. Dazu kommt ja immer wieder, dass uns auch Mitarbeiter ausfallen, die in Quarantäne müssen, die selbst erkranken, und das sind Probleme, die können wir, glaube ich, nicht über Monate hinweg jetzt einfach so tolerieren.
Interaktive Karte mit COVID-19-Statistiken vom Zentrum für Systemwissenschaft und Systemtechnik der Johns Hopkins University in Baltimore
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Heinlein: 590 Tote – Herr Gaß, sind unsere Krankenhäuser an manchen Stellen nicht mehr in der Lage, die Patienten bestmöglich zu versorgen?
Gaß: Es gibt an einigen, allerdings im Moment noch überschaubar wenigen Krankenhäusern die Situation, dass wirklich die Intensivkapazitäten, aber auch zum Teil der Krankenhausbetrieb insgesamt an seiner Belastungsgrenze angekommen ist. Wir können das auch alle ablesen, wenn wir wollen, in den Zahlen im DIVI-Register, wo jedes einzelne Krankenhaus mit einem Ampelsystem vermerkt ist, und da gibt es einige rote Ampeln, insbesondere beispielsweise in Sachsen, auch hier eine wirklich drastische Entwicklung in dieser zweiten Welle. Wir haben dort sechsmal so viele Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen, wie das zum Spitzenwert im Frühjahr der Fall war, und da sind einige Krankenhäuser in der Tat schon so hoch belastet, dass sie keine zusätzlichen Patienten aufnehmen, dass sie auch den Regelbetrieb deutlich heruntergefahren haben, was natürlich auch die Patienten negativ beeinflusst, die nicht an Covid-19 erkranken, sondern ansonsten dringend Hilfe brauchen.
″Grundsätzlich ein wirklich gutes Krankenhaussystem″
Heinlein: Sie vertreten die Interessen der fast 2.000 Krankenhäuser in Deutschland, Herr Gaß. Gibt es denn Unterschiede in der Versorgung zwischen Ost und West, Nord und Süd, Stadt und Land? Muss man Glück haben, wo man lebt, damit man bessere Chancen hat, eine Behandlung zu bekommen, eine gute Behandlung zu bekommen?
Gaß: Grundsätzlich haben wir in Deutschland ein wirklich gutes Krankenhaussystem. Wir haben eine flächendeckende Versorgung. Wir haben auch eine gute Vernetzung zwischen den Krankenhäusern. Das heißt, kleinere, sogenannte Grundversorgungskrankenhäuser kooperieren mit den umliegenden Schwerpunkt- und Maximalversorgern. Das funktioniert gut. Natürlich ist in den ländlichen Räumen, wo relativ wenig Bevölkerung lebt, dann auch die Krankenhausversorgung etwas ausgedünnter. Selbstverständlich ist das so. Da sind die Wege länger. Das tolerieren die Menschen aber. Wir haben funktionierende Rettungsketten. Insgesamt kann man schon davon sprechen, dass wir relativ gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland haben, und das gilt jetzt auch im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß. 
Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß (www.imago-images.de)
Heinlein: Erweist es sich jetzt auch als Vorteil, dass wir in Deutschland auch in der Fläche, in der Provinz viele kleine Krankenhäuser haben – ich habe die Zahl genannt: fast 2000 – und man sich nicht nur konzentriert auf die großen Kliniken in den Großstädten?
Gaß: Ja, das ist aus unserer Sicht eindeutig so. Denn man muss wissen: Es geht ja nicht nur um die Intensivmedizin im Zusammenhang mit der Covid-19-Erkrankung, sondern die etwa vier- bis fünffache Zahl, rund 20.000 Patienten zusätzlich zu diesen Intensivpatienten, sind auf den Normalstationen. Hier können auch die Grundversorgungskrankenhäuser, die nicht über große Intensivkapazitäten verfügen, einen wichtigen Beitrag leisten, oder sie übernehmen die sogenannten Regelversorgungspatienten aus den jetzt hoch belasteten Schwerpunktkrankenhäusern. Das ist ein wirklich funktionierendes Zusammenspiel und diese wohnortnahe Versorgung und flächendeckende Versorgung ist aus unserer Sicht ein Vorteil.
″Großes Entwicklungspotential bei Digitalisierung″
Heinlein: An welchen Stellen zeigt denn diese Pandemie, Herr Gaß, die Schwachstellen unseres Krankenhaus- und Gesundheitssystems?
Gaß: Wir haben großes Entwicklungspotenzial - ich will das mal positiv beschreiben – im Bereich der Digitalisierung. Das heißt: Die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern auch innerhalb einer Region kann noch sehr viel stärker durch Digitalisierung, durch telemedizinische Prozesse unterstützt werden, durch einen wirklich kontinuierlichen Datenfluss und Datenaustausch, so dass die etwas größeren Kliniken, die in der Regel ja auch mit mehr Personal ausgestattet sind, dann den kleineren über diese Vernetzung Kompetenzen zur Verfügung stellen können. Da haben wir dringenden Nachholbedarf. Da bewegt sich jetzt aber auch etwas. Es gibt ja ein ganz aktuelles Gesetz, was mit 4,3 Milliarden Euro die Digitalisierung in den deutschen Krankenhäusern fördern soll, und da setzen wir schon große Hoffnung drauf.
Infektiologe Wendtner: "Risiko, dass Intensivstationen weiterhin am Limit gefahren werden"
Es sei noch keine Trendwende bei den Neuinfektionen erreicht, sagte der Infektiologe Clemens Wendtner im Dlf. Die Todeszahlen seien sehr hoch und die Krankenhäuser füllten sich weiter mit COVID-19-Patienten.
Heinlein: Seit Jahren versuchen ja die Krankenhäuser – dieser Eindruck ist, glaube ich, nicht ganz falsch – ihre Patienten möglichst rasch aus den Betten wieder nach Hause zu entlassen. Aktuell bleiben die Covid-Patienten ja recht lange stationär. Ist das eine finanzielle Belastung für die Krankenhäuser?
Gaß: Zunächst einmal: Der Trend, den Sie beschreiben, der ist richtig. Dazu sind wir quasi auch durch das Finanzierungssystem veranlasst. Die sogenannten Fallpauschalen, nach denen die Krankenhäuser bezahlt werden, orientieren sich am Schweregrad der Erkrankung und setzen dann auch bestimmte Verweildauergrenzen. So nennt man das. Das heißt, die Krankenhäuser sind wirklich dazu angehalten, sehr schnell zu behandeln und dann auch die Patienten wieder zu entlassen. Die Frage der Finanzierung der Krankenhäuser jetzt in der Corona-Krise ist wirklich eine komplexe, weil wir auf der einen Seite, wie Sie sagen, diese Langlieger im Bereich der Covid-19-Versorgung haben, auch lange Beatmungsphasen haben bei diesen Patienten, und es dafür noch gar keine durchkalkulierten Fallpauschalen gibt, weil das eine sehr neue Behandlungsform ist, was diese ganze Komplexität der Erkrankung angeht. Dazu kommt, dass auf der anderen Seite ein Teil der Patienten gar nicht ins Krankenhaus kommt, weil entweder die Einweisungen fehlen, oder die Patienten selbst Sorge haben, in überlastete Krankenhäuser zu kommen. Das führt im Gesamtzusammenhang dazu, dass die Finanzierung schwierig geworden ist. Es gibt einige Instrumente im Rettungsschirm und wir sind zuversichtlich, dass wir mit der Politik und den Krankenkassen über das Jahr hinweg gute Vereinbarungen treffen können, um letztlich die Krankenhausversorgung auch finanziell zu stabilisieren.
Keine Unterschiede durch Versicherungsstatus
Heinlein: Privat oder Kasse, Herr Gaß, macht das aktuell einen Unterschied bei der Versorgung von Covid-Patienten?
Gaß: Nein, auf gar keinen Fall. Alle Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen, dass sie völlig unabhängig von ihrem Versicherungsstatus eine gute Versorgung bekommen, und insbesondere natürlich Notfallpatienten werden sofort versorgt und umfassend versorgt.
Heinlein: Aber finanziell ist es sicherlich für ein Krankenhaus interessant, wenn ein Privatpatient als Patient kommt und nicht ein Kassenpatient.
Gaß: In dieser Situation eigentlich nicht, weil wir hier nicht mehr über Wahlleistungen sprechen. Die normale Vergütung für den Behandlungsprozess ist bei Privatpatienten und gesetzlich Versicherten im Krankenhaus identisch. Wir haben lediglich ergänzende Finanzierungsbestandteile bei Privatpatienten, wenn es sich um sogenannte Wahlleistungen handelt, Chefarztbehandlung oder Behandlung im Ein- oder maximal Zweibettzimmer. Das sind alles Themen, die im Moment jetzt keine Rolle spielen.
Lockerungen an Weihnachten sind ″falsches Signal″
Heinlein: Herr Gaß, seit Wochen gehören Sie zu den Mahnern, zu den steten Kritikern der geltenden Corona-Beschränkungen. Was ist jetzt aus Ihrer Sicht, aus Sicht der Krankenhäuser zwingend notwendig, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern?
Gaß: Zunächst einmal will ich ausdrücklich sagen, dass mir sehr bewusst ist, unter welchen schwierigen Abwägungen die Politik hier Entscheidungen zu treffen hat. Insofern habe ich auch großen Respekt vor dieser Verantwortung, die dort geleistet werden muss. Aktuell erscheint es mir wirklich zu korrigieren, dass wir jetzt sagen, Leute, ihr könnt an Weihnachten euch noch mal mit einer größeren Anzahl von Personen treffen, aber danach gibt es dann einen, so sieht es ja im Moment aus, harten Lockdown. Ich finde, das sind falsche Signale, jetzt zu sagen, wir können noch mal lockern und dann wird scharf durchgegriffen. Wir sollten den Menschen sagen, bitte feiert in der allerengsten Kernfamilie und haltet euch an die Vorgabe, die Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Lassen Sie uns Familienfeste für den Mai planen. Dort können wir nach draußen gehen und haben große Vorfreude.
Heinlein: Harter Lockdown sofort. Die beiden Freistaaten machen es aus Ihrer Sicht richtig?
Gaß: Was jetzt die ganz scharfen Maßnahmen angeht, bin ich durchaus auch ein Befürworter von regionaler Vorgehensweise. Wenn ich in Sachsen wirklich eine Virusinfektion habe, die unglaublich grassiert, mit sechsmal so vielen Krankenhausbehandlungen wie zu Spitzenzeiten im Frühjahr, dann muss und kann ich anders vorgehen als beispielsweise in Schleswig-Holstein, wo ich eine deutlich niedrigere Inzidenz habe und auch die Versorgungslage beziehungsweise die Behandlungssituation in den Krankenhäusern wesentlich entspannter ist. Ich glaube, auch das gehört dazu, verantwortlich zu handeln, denn die Menschen müssen ja auch harte Maßnahmen akzeptieren und die müssen sie als nachvollziehbar betrachten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.