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Holland Festival
Ein kunstvolles Laboratorium für Unerhörtes

Das jährliche Holland Festival hat sich für unseren Autor wie schon in den vergangenen Jahren als wichtiges Laboratorium für Neues, Gewagtes und Unerhörtes erwiesen. So war das Fagott zu zahlreichen Gelegenheiten zu hören, die Pop-Oper "The End" von Keiichiro Shibuya war zu sehen und Annie Dorsens "Yesterday tomorrow" - mit dem Computer als wichtige Rolle - wurde uraufgeführt.

Von Jörn Florian Fuchs | 10.06.2015
    Die Innenstadt von Amsterdam mit St. Francis Xavier Kirche (links).
    In Amsterdam findet jedes Jahr das Holland Festival statt. (picture-alliance / Daniel Kalker / Daniel Kalker)
    Zugegeben, davon wussten wir bisher eher wenig. Das Fagott ist bedroht? Klar, man kennt jede Menge Witze über dieses Instrument, aber auch über die Bratsche wird ja gern gespottet oder über tief grummelndes Blech oder die rare Harfe. Die neue Leiterin des Holland Festival Ruth Mackenzie meint jedoch, gerade das Fagott habe es mittlerweile wirklich schwer. Weniger wegen der Witze, sondern da es sowohl als Soloinstrument wie in der Gruppe keine große Rolle mehr spiele. Also startete Mackenzie die Kampagne "Red de fagot". Zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten hörte man während des Festivals plötzlich Fagott-Interventionen, wobei ein großer Teil der meist kurzen Stücke Auftragswerke waren. Sogar der Doyen der niederländischen neuen Musik Louis Andriessen war dabei, aber auch jüngere Komponisten wie Michel van der Aa. Letzterer schrieb eine knackig akzentuierte Miniatur, die so gar nichts von seinen sonst sehr üppigen Klangwelten hat.
    Van der Aa interessiert sich sehr für neue technische Möglichkeiten wie virtuelle Bühnenräume und hat mit seinem 2013 beim Holland Festival uraufgeführten Musiktheater "Sunken Garden" einen aufwendigen 3D-Trip geschaffen. Dieses Jahr konnte und kann man van der Aas neuestes Opus gratis, überall und zu jeder Zeit hören, nämlich im Internet. "The Book of Sand" verbindet Film und Musik, man klickt sich durch verschiedene Schichten, sieht ziemlich überdrehte Bilder, hört nette Easy-Listening-Songs. Inspiriert wurde das Ganze von Jorge Luis Borges' kunstvoll ausgedachten Textlabyrinthen.
    Keiichiro Shibuya "The End"
    Ein noch komplexeres Projekt war die niederländische Erstaufführung von Keiichiro Shibuyas Popoper "The End". Einzige Titelheldin ist Hatsune Miku, eine junge Frau mit wilden blauen Haaren. Im Publikum sitzen viele Mädchen mit ähnlicher Frisur, manche tragen Lack und Leder, Fransen, dazu schrille Accessoires. Hatsune Miku ist ihr Idol, allerdings existiert das gertenschlanke, viel Bein und Dekolleté zeigende Persönchen nur virtuell, nämlich gezeichnet. Auf der Bühne sieht man sie tanzend, mit ihren großen Kulleraugen traurig blinzelnd oder durch ein seltsames Universum fliegen. Ihr Schöpfer Keiichiro Shibuya sitzt, nur manchmal sichtbar, in einem dreieckigen Kasten, der zum Zentrum eines Videoanimationsfeuerwerks wird, das seinesgleichen sucht. Stroboskop-Effekte, rasend schnell wechselnde Farben und Formen machen die Sache zu einem heftigen Trip für die Augen. Und für die Ohren, denn Shibuyas teilweise live kreierter Soundtrack besteht vor allem aus brüllend lautem Elektro-Pop. Lange, sägende Liegetöne stehen neben kräftigen (Im-)Pulsen, dazu 'singt' Hatsune Miku in einer Zwischenform aus Deklamation und verzerrten Kantilenen. Wer nun allerdings meint, hier gehe es um Superhelden und Mangamonster, der irrt. "The End" ist eine Reflexion über Identität und Vergänglichkeit. Hatsune Miku begegnet ihrer Doppelgängerin und fragt sich, ob sie als virtueller Charakter wohl sterben kann und wird.
    Annie Dorsen: "Yesterday tomorrow"
    Auch bei Annie Dorsens in Amsterdam uraufgeführtem Stück "Yesterday tomorrow" spielt der Computer eine zentrale Rolle. Dorsen verschränkt den berühmten Beatles-Song "Yesterday" mit dem Lied "Tomorrow" aus dem Musical "Annie". Drei Akteure in kargem Ambiente singen durch Computeralgorithmen vorgegebene Variationen. Aus "Yesterday" wird allmählich "Tomorrow", wobei sich auch Gesten und Posen des Trios sowie die Lichtstimmungen ständig verändern. Der singende Mensch als Handlanger eines Rechners? Ein ebenso erschreckendes wie anregendes Experiment! Das Holland Festival erweist sich wie schon in den vergangenen Jahren als wichtiges Laboratorium für Neues, Gewagtes und Unerhörtes.