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Holocaust
Die europäische Dimension des Massenmordes

Der Berner Historiker Christian Gerlach stellt den Holocaust in einen größeren zeitlichen und geographischen Kontext als andere Werke. "Der Mord an den europäischen Juden" ist für ihn ein Produkt extrem gewalttätiger Gesellschaften. Seine Studie bezieht auch andere Terrorregime sowie Kollaborateure ein.

Von Otto Langels | 17.07.2017
    Buchcover "Der Mord an den europäischen Juden" von Christian Gerlach und der Nationalfriedhof der Gedenkstätte "Theresienstadt" im tschechischen Ort Terezin.
    Christian Gerlach: "Die Studie beschreibt die Ermordung der Juden auch als Teil der massiven Gewalt gegen andere Gruppen" (picture alliance/dpa/Foto: Jens Wolf, Verlag C. H.Beck)
    "Der Mord an den europäischen Juden" ist Christian Gerlachs Studie überschrieben. Autor und Verlag haben sich mit dem Titel keinen Gefallen getan, gibt er Inhalt und Intention des Buches doch nur unzureichend wieder. Dabei weist Gerlach in der Einleitung selber darauf hin, dass er einen umfassenderen Ansatz verfolgt:
    "Die Studie beschreibt die Ermordung der Juden auch als Teil der massiven Gewalt gegen andere Gruppen und versucht zwischen diesen unterschiedlichen Formen der Gewalt Verbindungen herzustellen. Damit hebt sie sich von Narrativen ab, die die Ermordung und Verfolgung der Juden allein untersuchen und das Schicksal anderer Gruppen wenig beachten."
    Christian Gerlach, renommierter Holocaust-Forscher an der Universität Bern, blickt in seiner Analyse zurück in die Geschichte und stellt fest, dass der Nationalsozialismus nicht der einzige wunde Punkt in der deutschen Geschichte war: Zwischen 1900 und 1930 wurden mehr als 250.000 Zivilisten durch Deutsche umgebracht oder starben an gezielter Vernachlässigung. Die wenigsten waren Juden. Diese waren, darauf hat erst kürzlich Götz Aly in seinem Buch "Europa gegen die Juden" aufmerksam gemacht, vor 1933 in vielen osteuropäischen Ländern Pogromen ausgesetzt und flohen eher nach Deutschland als von dort.
    Verbrechen der Kolonialgeschichte
    Hingegen zählt Gerlach die Insassen psychiatrischer Anstalten zu den Opfern einer extrem gewalttätigen Gesellschaft. Allein während des Ersten Weltkrieges gingen 70.000 Patienten an Hunger und Kälte zugrunde. Hinzu kamen die deutschen Kolonialverbrechen.
    "Von 1904 bis 1907 töteten zutiefst rassistisch eingestellte deutsche Kolonialbehörden und Truppen direkt oder indirekt 70-100.000 Menschen in Deutsch-Südwestafrika. Etwa zur selben Zeit forderte die deutsche Kriegführung in Deutsch-Ostafrika etwa 100.000 Todesopfer. Die Kolonialverbrechen der Deutschen gehörten zu den schlimmsten ihrer Zeit."
    Aber Massengewalt war Anfang des 20. Jahrhunderts kein rein deutsches Phänomen. Im britischen Südafrika kamen bis zu 50.000 Buren und Afrikaner in sogenannten Konzentrationslagern ums Leben, im Kongo fielen Millionen Afrikaner der skrupellosen belgischen Ausbeutung zum Opfer, in Kuba starben 100.000 Menschen durch Zwangsumsiedlungen und Internierungen der Spanier. Zudem gab es laut Gerlach am Vorabend des Zweiten Weltkrieges inner- und außerhalb Europas - gemessen an der Zahl der Opfer - deutlich brutalere Staaten als Nazi-Deutschland, z.B. die Sowjetunion Stalins und das japanische Kaiserreich sowie die faschistischen Regime Italiens und Spaniens. Aber: "Der große Unterschied, die große Diskontinuität, bestand im Massenmord an Juden."
    Die Bedeutung der Kollaborateure
    Ohne die deutsche Verantwortung zu relativieren, hebt Gerlach hervor, dass auch hier der Blick auf das NS-Regime nicht ausreiche. Die Gewalt gegen Juden hätte nicht nur geographisch, sondern auch politisch europäische Dimensionen gehabt. Staatliche Institutionen und Individuen vom Baltikum bis Frankreich und Griechenland kollaborierten mit den Nationalsozialisten und hatten erheblichen Einfluss auf die Erfassung, Deportation und Ermordung der europäischen Juden. Erst die nichtdeutsche Unterstützung machte das Mordprogramm mit den Worten Gerlachs "so schrecklich erfolgreich".
    "Wäre Nazi-Deutschland im Mai 1941 zusammengebrochen, so würde man sich dessen als einem Land erinnern, das einen Angriffskrieg geführt, Zwangsarbeiter deportiert, 300.000 Juden und Nichtjuden aus Westpolen nach Zentralpolen deportiert und 200.000 Zivilisten ermordet hatte. Erst später überstieg die durch Nazideutschland verursachte Opferzahl die all der genannten Regime und Gesellschaften."
    Aber macht es einen grundlegenden Unterschied, ob die Massenmorde der Nazis 1939 oder erst 1941 grauenhafte Ausmaße annahmen? Und misst sich die Brutalität eines Regimes allein an der Zahl der Toten oder nicht auch an den verheerenden Folgen von Diskriminierung, Repression und Terror?
    Zahlen verdeutlichen Dimensionen - überdecken aber Schicksale
    Das sich häufig an Zahlen und Statistiken orientierende Vorgehen Christian Gerlachs macht eine Stärke und zugleich Schwäche seiner Darstellung deutlich: Der Autor weitet den Blick über die sechs Millionen ermordeten Juden hinaus auf andere Gruppen wie Behinderte, sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen, Zwangsarbeiter oder hungernde Zivilisten. Weitere sechs bis acht Millionen Menschen aus diesem Personenkreis fielen dem Naziterror zum Opfer. Allerdings verschwinden die Schicksale einzelner Menschen hinter Fakten und Bilanzen.
    "Warum ließ man nicht alle Juden verhungern? Die Antwort ist, dass dafür die Kapazität fehlte. Die Ghettos waren keine totalen Institutionen, darum konnten große Mengen von Lebensmitteln eingeschmuggelt werden. Nur in riesigen Lagern wäre es möglich gewesen, die meisten Juden verhungern zu lassen, aber die SS hatte nie so große Lager und auch nicht genug Personal, um die Juden zu bewachen. Direkte Formen des Tötens in Vernichtungsstationen boten eine viel leichter zu handhabende und billigere Mordmethode."
    Gerlach bedient sich einer nüchternen, distanzierten Sprache; für den Holocaust-Forscher vielleicht die adäquate Herangehensweise, um die Dimensionen des Jahrhundert-Verbrechens zu verdeutlichen. Die Empathie für die einzelnen Opfer bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Aber ihnen gilt auch nicht primär das Interesse des Autors. Er richtet sein Augenmerk auf die "Gruppenvernichtung in extrem gewalttätigen Gesellschaften", wie er schreibt.
    Viele Beteiligte an einem grausamen Plan
    Der Mord an den europäischen Juden war demnach ein dynamischer, aber keineswegs stringent geplanter Prozess, bei dem Vorurteile, rassistisches Denken, Nationalismus, imperialistischer Chauvinismus und wirtschaftlich-materielle Faktoren eine Rolle spielten.
    "Nach Jahrzehnten der Forschung hat sich herausgestellt, dass es nicht von Anfang an einen NS-Gesamtplan gab und dass die Entscheidungsfindung ein komplexer und langwieriger Vorgang war, an dem viele Akteure beteiligt waren."
    Im Gegensatz zu anderen Historikern räumt Gerlach der Ermordung der Juden keinen absoluten Vorrang im Denken und Handeln des NS-Regimes ein. So seien Deportationszüge zugunsten der Kriegführung gestoppt worden. Verzögerungen gab es in der Tat, aber keine längeren Unterbrechungen oder gar einen Abbruch der Transporte, das Morden ging bis zum Untergang des NS-Regimes weiter. Man denke nur an die Todesmärsche in den letzten Kriegswochen.
    Mit seiner beeindruckenden Darstellung knüpft Christian Gerlach an frühere grundlegende Veröffentlichungen über Gewalt, Krieg und Völkermord an und liefert erhellende Einsichten über den Mord an den europäischen Juden. Am Ende steht freilich das ernüchternde Fazit, auch nur "Elemente einer Erklärung" beisteuern zu können.
    Christian Gerlach: "Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen"
    C.H. Beck Verlag, 576 Seiten, 34,95 Euro.