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Holocaust-Überlebende Giselle Cychowicz
"Ich habe meinem Mann nichts über Auschwitz erzählt"

Es mutet an wie ein Wunder: Eine junge Frau überlebt den Holocaust und erfüllt sich spät ihren Teenager-Lebenstraum, Psychologin zu werden. Mit fast 90 Jahren behandelt Giselle Cychowicz in Jerusalem noch immer Menschen, die wie sie das Konzentrationslager erlebt haben.

Von Sabine Adler | 26.01.2017
    Gisel Cychowicz.
    Die Psychologin und Holocaust-Überlebende Giselle Cychowicz genießt die Zeit im Park. (Helena Schätzle)
    "Mit 14 las ich 'Heilung durch den Geist' von Stefan Zweig auf Ungarisch. Er schrieb über Sigmund Freud und erklärte dessen Theorie so, dass ich sie sofort verstand. Ich war elektrisiert und in Panik. In Ungarn würde ich nie die Bildung bekommen, die ich brauchte, um Psychologie studieren zu können. Ich wollte es wie Freud machen: Dinge in den Menschen zutage fördern, die sie an ihrer Entwicklung hindern."
    Giselle Cychowicz hat ihren Traum wahr gemacht, aber erst mit 48 Jahren. Heute ist sie fast 90 und arbeitet noch immer als Therapeutin. Giselle startet ihre Patientenrunde. Vor dem Haus an einer belebten Hauptstraße begrüßt uns Jobbi, der Hund von Giselle Cychowciz' Patientin. Genaugenommen gehört der weiße Pudel der Nachbarin. Frau Bloch passt auf ihn auf, geht aber nicht mit ihm raus, denn sie verlässt fast nie ihr Haus.
    "Die Erinnerungen suchen dich heim"
    Eine schmale Gestalt in einem kurzen Leinenkittel erscheint, mit hübschen schlanken Beinen. Aber sie kann kaum die Füße heben, stolpert über den Teppich. Nach Auschwitz heiratete sie einen zwanzig Jahre älteren Verwandten, es war der Mann ihrer ermordeten Schwester. Die Ehe gab ihr das Gefühl, nie ein eigenes Leben zu besitzen. Und nie die Gewissheit, gemeint und erwünscht zu sein.
    "Sie spricht ausschließlich über ihre Erlebnisse während des Holocausts. Die Erinnerungen suchen dich heim, ohne dass du verstehst, woher und warum sie gerade jetzt kommen."
    Giselle Cychowicz in ihrer Wohnung. 
    Giselle Cychowicz in ihrer Wohnung (Helena Schätzle)
    Wenn die Therapeutin sie fragt: "Weißt du noch?" oder "Wie hast du das erlebt?", dann leuchten Lisa Blochs Augen, ihre dunklen Augenbrauen bewegen sich lebhaft, sie lacht sogar.
    Die Patientin schaut den fremden Besuch kein einziges Mal an. Bis zum nächsten Treffen mit Giselle Cychowicz in einer Woche wird sie im Bett bleiben, lesen, träumen.
    Im Alter kehrt die Angst zurück. Denn alt sein, bedeutet schwächer werden und wer schwach ist, das lehrte der Holocaust, überlebt nicht. Viele werden im Alter regelrecht heimgesucht von den Erinnerungen.
    Im Mai 1944 stieg Gisela Friedmann an der Rampe von Birkenau aus dem Zug
    Als Gisela Friedmann wurde sie 1927 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Ein Jahr vor Kriegsende, im Mai 1944, stieg Gisela Friedmann an der Rampe von Birkenau aus dem Zug. Ihr Vater kam in ein Arbeitslager, die Mutter, ihre Schwester und sie in Baracke 16 des C-Lagers. Bis Oktober 1944 gelang es den Frauen zusammenzubleiben, dann wurden die Töchter in das Arbeitslager Mittelsteine transportiert, die Mutter blieb in Auschwitz. Der Vater wurde am 7. Oktober 1944 vergast. Die Befreiung erlebten die Schwestern in der Nähe von Weißwasser hinter der Oder.
    Giselle Cychowicz kehrte mit der Schwester nach Chust zurück, denn dort, zu Hause, so hatten sie zufällig erfahren, warteten ihre älteste Schwester und die Mutter auf sie.
    Die vier Friedmann-Frauen emigrierten 1948 in die USA, wo Giselle ihren Ehemann Yitzak Anfang der 1950er-Jahre kennenlernte. Aus Gisela Friedmann wurde Giselle Cychowicz. Der Ehemann war solide, ein verantwortungsbewusster Vater für ihre drei Kinder, aber nicht die große Liebe.
    Giselle Cychowicz bei einem Hausbesuch.
    Giselle Cychowicz bei einem Hausbesuch (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    Sie machte Karriere, zunächst als technische Zeichnerin. Der Traum, Psychologie zu studieren, lag in weiter Ferne. Woche für Woche fährt Giselle Cychowicz zu den Therapiestunden mit ihren insgesamt noch sieben Patientinnen, die sie allerdings ungern so nennt. Denn Patient klingt ihr zu sehr nach krank. Die industrielle Vernichtung der Juden war außerhalb jeder Norm, die Reaktion der Opfer darauf ist es nicht. Die war völlig angemessen angesichts des Horrors.
    Wichtiger als ihr privates Leid ist ihr ihre Mission
    Fast ein Vierteljahrhundert arbeitet sie nun mit den Holocaust-Überlebenden. Viel zu spät und viel zu wenig für sie, denn in ihrer 40-jährigen Ehe konnte sie nur dosiert davon sprechen, weil ihr Mann von ihren Erlebnissen verschont bleiben wollte:
    "Ich habe es ihm nicht vorgeworfen. Er sorgte sich um uns. Ich sprach dann eben mit meinen Freunden, die das auch durchgemacht haben. Ich habe meinem Mann nichts über Auschwitz erzählt. Er hat nicht gefragt. Ich weiß nicht, warum er niemals gefragt hat. Es war für ihn zu abscheulich."
    Wichtiger als ihr privates Leid ist ihr ihre Mission. Giselle Cychowicz will Zeugin sein bis zum Schluss und das auch ihren Leidensgefährten ermöglichen.
    "Die Welt soll davon erfahren und die Patienten sollen spüren, dass sich die Welt für sie interessiert."
    Programmtipp
    Mehr über die 90-jährige Psychologin und ihre Patienten heute in der Sendung "Hintergrund" um 18:40 Uhr.