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Hommage an die Melancholie

In Michael Kleebergs neuem Roman geht es um die Geschichte von Hélène und David, die sich im "Amerikanischen Hospital" in Paris begegnen. Und es geht um das Scheitern des Glaubens daran, dass das, was man früher einmal Schicksal genannt hätte, längst steuerbar und überwindbar ist mit Technologie und Vernunft.

Von Detlef Grumbach | 14.12.2010
    Michael Kleeberg sagt:

    "Sie scheitern daran, dass sie zunächst einmal das, was sie von sich selbst erwarten, nicht mehr zu leisten vermögen oder überhaupt nicht zu leisten vermögen und doch mit ihrer gesamten Existenz, ihrem ganzen Wollen das versuchen. Und sie scheitern in gewisser Hinsicht oder sie leiden darunter, dass sie in genau diesen Erwartungen an sich selbst und an andere bis zu einem gewissen Punkt fremdbestimmt sind."

    Die Französin Hélène und der Amerikaner David Cote: Sie will ein Kind bekommen, er ein richtiger Mann, ein Soldat sein. Sie ist unfruchtbar und darauf angewiesen, dass ihr eine künstlich befruchtete Eizelle eingepflanzt wird, er wurde im zweiten Golfkrieg derart traumatisiert, dass er wie ein ängstliches Kind unter dem Tisch verschwindet, wenn nur jemand eine Tür etwas laut zuschlägt.

    Die Rollen sind klar verteilt in Michael Kleebergs neuem Roman: Die Frau wird kurz Hélène genannt, er meist nur "der Amerikaner” oder Cote, also beim Nachnamen. Sie begegnen sich im "Amerikanischen Hospital” in Paris, das dem Roman seinen Titel geliehen hat. Er fällt ihr in der Eingangshalle buchstäblich vor die Füße, ist am Boden, befindet sich in Therapie. Ihr Leidensweg beginnt erst. Der erste, der zweite, der dritte Versuch wird scheitern, bevor sie aufgibt, der Rhythmus ihrer Besuche im Hospital bestimmt den Rhythmus ihrer Begegnungen mit dem Amerikaner, ihrer Gespräche in der Krankenhaus-Cafeteria oder bei kurzen Spaziergängen.

    Michael Kleeberg:

    "Und in der Tat ist es einem weiteren Sinn auch die Geschichte eines Scheitern unseres modernen Machbarkeitsglaubens, also einfach des Glaubens, dass das, was man früher einmal Schicksal genannt hätte, dass das steuerbar, regelbar, überwindbar ist mit Ratio, mit modernen Mitteln, mit Technologie, mit Nicht-Akzeptanz dessen, was das Schicksalhafte im Leben sein kann."

    Kleeberg leuchtet Bereiche des Lebens aus, die man in vergleichbarer Weise nur selten in der Literatur findet. Weil Hélène dem Amerikaner bei ihrer ersten Begegnung spontan behilflich gewesen ist, kommen sie ins Gespräch. Ihre Anknüpfungspunkte sind ihre gemeinsame Liebe zur Poesie, die Erfahrung, dass ihre Körper ihnen das versagen, was sie von ihnen erwarten. Langsam tasten sie sich weiter vor. In einer klaren, konkreten, äußerst disziplinierten Sprache erfährt der Leser, welches Grauen, welchen Schrecken der Amerikaner im Krieg erlebt hat, wie es ist, wenn eine Frau nachts aus dem Schlaf gerissen wird und ihr werdendes Kind verliert.

    Ein Kunstgriff erlaubt es dem Autor, die Erzählungen der beiden Figuren zu ihren äußersten Punkten zu treiben, ohne sie selbst, aber auch den Leser, in dieses Grauen hinein zu stürzen: Er schafft Distanz. Die Romanhandlung spielt in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre.

    "Dahin, dahin” - mit diesen beiden Worten beginnt der Roman. Ein gegenwärtiger, deutscher Erzähler, der wie der 1959 geborene Kleeberg selbst lange in Paris gelebt hat, erinnert sich. Paris - das bedeutet ihm Sehnsucht, Utopie aber auch Scheitern, Zerstörung. In der Geschichte Hélènes schöpft er aus, was diese beiden "dahins” bedeuten. Der Leser lauscht nicht den Berichten des Amerikaners und Hélènes, sondern dem, was den Erzähler an das erinnert, was Hélène ihm damals von den Gesprächen erzählt hat. Erzählte Erinnerung wird so zur Erinnerung an Erzähltes, das ursprüngliche Gespräch zwischen den beiden Hauptfiguren wird entrückt, es hat in einer Art Quarantäne stattgefunden, die ihm eine besondere Kraft verleiht. Kleeberg:

    "Denn gerade dadurch, dass die beiden Versehrte sind, Krüppel, wie sie irgendwann einmal sagt, seelische Krüppel, dass eigentlich erstmal keinerlei erotische Anziehung besteht, dass auch keinerlei Aussicht auf irgendein gesellschaftliches Zusammenkommen besteht, dass die sich eigentlich nur auf diesem exterritorialem Krankenhausareal sehen, öffnet sich die Möglichkeit für beide, offen miteinander zu sein, sich Geheimnisse weiterzugeben, wo sie sich vielleicht scheuen würden bei Leuten, die sie besser kennen."

    In seinem Roman "Karlmann” fokussiert Kleeberg fünf Jahre im Leben seines Helden in fünf kleinen Szenen - je eine in einem Jahr. Auch in seinem neuen Roman reduziert der Autor Ort und Handlung. Er beschränkt sich im wesentlichen auf die Krankenhaussituation und die Themen Krieg und künstliche Schwangerschaft. Doch in der Art und Weise, wie er seine beiden Figuren in dieser vom gesellschaftlichen Leben entrückten Situation miteinander umgehen lässt, öffnet er den Raum für die universellen, hinter ihren konkreten Problemen lauernden Fragen.

    Ohne dass es ausgesprochen wird, verweist der Roman auf die Fragen der Geschlechterverhältnisse, der Rollenerwartungen, des Glaubens, das auch noch das letzte Problem, sei es politisch, militärisch, medizinisch, gelöst werden kann mit den Mitteln der Vernunft, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Organtransplantationen, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die Lokalisierung der Bauteile, die für das Altern, die Sexualität, Fettleibigkeit oder Alkoholismus verantwortlich sind - jedes Problem scheint heute lösbar. Michael Kleeberg steht dem skeptisch gegenüber. Er erinnert im Zusammenhang seines Buchs an den 200 Jahre alten "Faust":

    "Und Goethe hätte dazu gesagt: 'Und dennoch spukt's in Tegel.' Das heißt, je weiter eigentlich die Entmystifizierung und die Erklärung der Welt voranschreitet, desto weiter weichen auch die Unwägbarkeiten, die Unsäglichkeiten vor dieser Forschung her, ohne dann doch zu verschwinden. Es wird nach wie vor gestorben, es wird nach wie vor gelitten. Es ist natürlich schon eine Reflexion darüber, wo diese Gewissheit, fast schon dieser Erlösungsglaube an Machbarkeit, an Lösungen unserer modernen technologischen Philosophie hinführt und was dann eventuell die Alternativen sind, die in diesem Getriebe zwei Individuen bleiben."

    Hélène ist die kraftvoll-optimistische, die von Versuch zu Versuch den Wunsch nach dem Kind nicht aufgeben will, die auch getrieben ist in diesem Wunsch, die mit voller Wucht in die Tragödie ihres Scheiterns hineingerissen wird. Der Amerikaner hat seinen Tiefpunkt bereits hinter sich. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen beschreiten sie gemeinsam einen Weg, ihre Situation, ihr Schicksal zu akzeptieren, Vertrauen zu fassen. Kleeberg:

    "Die beiden müssen versuchen oder versuchen es tatsächlich, tastend, unbewusst aus der Verzweiflung ihrer Situation heraus, einen anderen Umgang zu finden. Einen Umgang nach dem Verlust der Hoffnungen, jenseits von einer Form von Besitzanspruch oder willentlicher Durchsetzung ihres eigenen Willens. Das ist eine Art von herrschaftsfreiem Diskurs, den sie da miteinander versuchen."

    Hélène und der Amerikaner verlieren sich am Ende in einem chaotischen, von Streiks erschütterten Paris, haben ihre kleine Ordnung der Dinge aber wiedergefunden. Die Geschichte könnte damit zu Ende sein. Doch der Autor kehrt noch einmal zu seinem Erzähler zurück und hält so für den Leser noch eine Überraschung bereit.

    Es muss hier nicht enthüllt werden, in welcher Beziehung der Erzähler zu Hélène und ihrer Geschichte, zur Geschichte des Amerikaners, steht, warum sein Verhältnis zu Paris, dieses doppeldeutige "Dahin, dahin”, so untrennbar mit ihnen verbunden ist. Doch auch diese Pointe am Schluss unterstreicht noch einmal, worum es Kleeberg in diesem großartigen, hoch ambitionierten Roman geht: um eine Hommage an das Erzählen, um eine Hommage an die Melancholie. Kleeberg:

    "Das ist in der Tat ein Buch, das in erzählender Weise zeigt, was das Erzählen, das ganz einfache und grundlegende Erzählen von sich selbst und von seinen Geschichten helfen kann, wenn alles andere nichts mehr hilft. Die Melancholie kommt von außen dazu, über den Erzähler, dem genau das in seinem Leben nicht gelungen ist, der das jetzt über den erzählten Text nachzuholen versucht."

    Michael Kleeberg: "Das amerikanische Hospital"
    DVA, München 2010, 236 Seiten, 19,99 Euro.