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Hommage an einen politisch naiven, aber mutigen Mann

Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, hat für seinen neuen Roman "Der Traum des Kelten" drei Kontinente bereist. Die mühseligen Recherchen haben sich gelohnt - herausgekommen ist ein anschaulicher, streckenweise bewegender Roman über das Leben eines britischen Diplomaten.

Von Eva Karnofsky | 15.09.2011
    Vier Jahre hat sich Mario Vargas Llosa für seinen neuen Roman Zeit gelassen, und für die Recherchen hat er drei Kontinente bereist, auf der Spur eines Mannes, der von seinen Freunden der Kelte genannt wurde: Roger Casement. Die aufwendigen und zweifelsohne gelegentlich mühseligen Recherchen im Kongo, im Amazonasurwald, in Irland, Deutschland und den USA haben sich gelohnt. "Der Traum des Kelten" ist ein anschaulicher, streckenweise bewegender biografischer Roman über Roger Casement. Casement, der 1864 in einem Vorort von Dublin als Sohn einer katholischen Mutter und eines protestantischen Offiziers seiner Majestät des Königs von England zur Welt kam und dann als britischer Diplomat eine steile Karriere machte, wurde 1916 als irischer Freiheitskämpfer in einem Londoner Gefängnis gehenkt. Er wurde früh Waise und begann im Alter von sechzehn Jahren als Laufbursche einer britischen Handelskompanie zu arbeiten, die im Afrika-Geschäft tätig war. Und schließlich ging er selbst nach Afrika:

    "Er machte dabei einen so inbrünstigen Eindruck, dass er, wie sein Onkel Edward versicherte, einem Kreuzfahrer glich, der sich aufmacht, Jerusalem zu befreien."

    Mit der gleichen Inbrunst sollte er sich zunächst für die Menschenrechte der von den belgischen Kolonialherren unterdrückten Afrikaner im Kongo und der von einer mächtigen Kautschukgesellschaft geschundenen Indios im peruanischen Amazonasgebiet einsetzen und zuletzt für die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien.

    Mario Vargas Llosa ist bekannt für klare, sorgfältig konzipierte Romanstrukturen. Die Casement-Biografie hat gemäß den drei bedeutenden Lebensstationen ihres Protagonisten drei Teile mit den Titeln "Der Kongo", "Der Amazonas" und "Irland". Und ein Epilog informiert darüber, welche Rolle der 1937 gegründete irische Staat Roger Casement im Pantheon seiner Freiheitskämpfer lange Zeit zuwies:

    "Die dunkle Aura von Homosexualität und Pädophilie umgab Roger Casement das Ganze 20. Jahrhundert hindurch. Seine Person erregt Missfallen in einem Land wie Irland, das bis vor wenigen Jahren von einer rigiden Moral beherrscht war und wo allein der Verdacht einer "sexuellen Perversion" dem Betreffenden Schimpf und Schande einbrachte. Roger Casement wurde allein in politischen Essays, Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Abhandlungen erwähnt."

    Mario Vargas Llosa entreißt nun Casements bewegtes Leben dem Vergessen. Der Autor gliedert seine drei Romanteile in fünfzehn Kapitel, wobei die acht ungeraden Kapitel, Casements letzte Wochen im Gefängnis Pentonville, die Rahmenhandlung bilden. Anders als in Vargas Llosas Biografie des dominikanischen Diktators Rafael Leonidas Trujillo, "Das Fest des Ziegenbocks", ist die Rahmenhandlung in "Der Traum des Kelten" nicht zwecks Aufbaus von Spannung fiktiv, sondern ebenfalls dem Leben Casements geschuldet. Der Autor beobachtet darin seinen Protagonisten, wie dieser, über seine Familie, seine Freundschaften und seinen politischen Weg nachsinnend, in seiner Zelle auf den Beschluss der britischen Regierung zu seinem Gnadengesuch wartet.
    Casement wird vorgeworfen, um der Unabhängigkeit Irlands willen vor dem sogenannten Oster-Aufstand der Iren während des Ersten Weltkrieges mit dem britischen Kriegsgegner Deutschland paktiert zu haben. Es steht nicht gut, teilt ihm der Gehilfe seines Anwalts mit:

    "Angesichts der neuesten Entwicklungen", fügte der junge Blonde mit übertriebenen Mundbewegungen hinzu und blinzelte zum ersten Mal, "ist jetzt alles viel komplizierter geworden."
    "Man erfährt hier nichts von der Welt da draußen. Was ist passiert?"
    Und wenn die deutsche Heeresleitung sich endlich entschlossen hatte, Großbritannien von der irischen Küste aus anzugreifen? Wenn die erhoffte Invasion tatsächlich stattfand und die Kanonen des Kaisers in eben diesem Moment die irischen Patrioten rächten, die von den Engländern beim Osteraufstand erschossen worden waren? Sollte der Krieg diese Richtung genommen haben, würden sich seine Pläne trotz allem verwirklichen."


    Doch nicht ein Einmarsch des deutschen Kaisers in England und in dessen Folge die irische Unabhängigkeit verkomplizierte Casements Fall. Vielmehr hatte die britische Presse Auszüge aus Casements Tagebüchern veröffentlicht, in denen er über seine homosexuellen Praktiken schrieb.

    Der Schriftsteller hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur für politische Freiheit engagiert, sondern auch für die Freiheit des Einzelnen. So dürfte die Geschichte Roger Casements ihn nicht nur ob dessen Kampf gegen den Kolonialismus interessiert haben, sondern auch aufgrund der Diskriminierung seiner Person ob homosexueller Neigungen.

    Eingebettet in die Rahmenhandlung, die von Casements Untergang erzählt, berichtet der Autor in den geraden Kapiteln über dessen Leben und Abenteuer sowie dessen unaufhaltsamen Aufstieg, der seinen Höhepunkt fand, als Casement vom britischen König in den Adelsstand erhoben wurde. Diese von Vargas Llosa gewählte Romanstruktur zeigt einen Nachteil: Da der Protagonist im Gefängnis ebenfalls auf sein Leben zurückschaut, wird sehr viel wiederholt. Dies gibt dem Roman verschiedentlich eine insistierende, schulmeisterliche Note.
    Insgesamt zwanzig Jahre bereist Casement Afrika. Zunächst glaubt er noch, dass die europäischen Kolonialherren ein Segen wären für die Afrikaner:

    "Sie würden ihnen helfen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, sie von Plagen wie der Schlafkrankheit befreien, ihnen Bildung bringen und ihnen die Augen für die Wahrheiten dieser Welt und des Jenseits öffnen und damit ihren Kindern und Kindeskindern ein achtbares Leben in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen."

    Auf einer Reise mit Afrikaforscher Henry Morton Stanley durch den Kongo im Auftrag der Internationalen Kongo-Gesellschaft stellt Casement dann fest, dass die Wirklichkeit für die Afrikaner ganz anders aussieht:

    "Sie überscheiben ihr Land der Internationalen Kongo-Gesellschaft, die ihnen dafür soziale Hilfeleistungen verspricht. Sie verpflichten sich, bei der Anlage von Wegen, Brücken, Molen, Faktoreien mitzuhelfen. Männer für Feldarbeit und als Ordnungskräfte zur Verfügung zu stellen. Beamte und Mitarbeiter mit Lebensmitteln zu versorgen, solange die Arbeiten andauern. Und sie bekommen von der Gesellschaft nichts im Gegenzug. Weder Lohn noch Entschädigung."

    Casement wird fortan von Schuldgefühlen geplagt, an der Schaffung des Kongo-Freistaates unter belgischer Kolonialherrschaft mitgewirkt zu haben. Und so nimmt er das Angebot des britischen Außenministeriums an, als Diplomat den Menschenrechtsverletzungen im Kongo nachzugehen. Vargas Llosa lässt den Leser an Casements erschütternden Nachforschungen teilhaben, die später in einen weltweit aufsehenerregenden Bericht einflossen.

    Bereits während seiner Afrika-Aufenthalte nähert sich Casement, obwohl vom Vater protestantisch erzogen, immer mehr dem Katholizismus seiner Mutter. Und einer Freundin vertraut er an,

    dass er im Kongo, angesichts all der Ungerechtigkeit und Brutalität, erkannt hatte, welch große Lüge der Kolonialismus war, und dass er sich zum ersten Mal "irisch" gefühlt hatte, also als Bürger eines besetzten und ausgebeuteten Landes, eines durch ein Imperium ausgebluteten und seiner Seele beraubten Irlands. Er schämte sich für so viele Dinge, die er, der väterlichen Erziehung folgend, geglaubt und gesagt hatte. Und er hatte den festen Vorsatz, all das gutzumachen. Nun, da er durch den Kongo Irland entdeckt hatte, wollte er ein richtiger Ire werden, sein Land kennenlernen, alles über seine Geschichte und Kultur wissen."

    Wie in einem Entwicklungsroman zeigt Vargas Llosa auf, wie Casement während seiner Reisen immer mehr zum irischen Nationalisten wird, aber dennoch weiterhin als britischer Diplomat tätig ist. Der Autor arbeitet die widersprüchlichen Gefühle seines Protagonisten dabei sehr einfühlsam heraus. Bevor Casement den britischen Dienst doch schließlich quittiert, um sich nur noch der irischen Sache zu widmen, schickt das Foreign Office den inzwischen weltweit als Menschenrechtsverfechter verehrten Diplomaten in die Heimat Vargas Llosas, nach Peru. Genauer: in den Putumayo, eine heute zu Kolumbien zählende, abgelegene Amazonasregion. Casement soll dem Bericht eines verschwundenen, wahrscheinlich ermordeten Journalisten namens Saldaña Roca über Menschenrechtsverbrechen der an der britischen Börse notierten Kautschuk-Gesellschaft Peruvian Amazon Company nachgehen:

    "Saldaña Roca zählte die verschiedenen Formen der Bestrafung auf, der die Indios je nach Vergehen unterzogen wurden: Auspeitschen, Fußblock oder Streckbank, Abschneiden von Ohren oder Nase, Händen und Füßen, bis hin zur Ermordung durch Erhängen, Erschießen, Verbrennen oder Ertränken im Fluss."

    Obwohl von Malaria und Arthritis gepeinigt, unternimmt Casement zwei Reisen in die Amazonasregion, wo, wie er erfährt, während des Kautschukbooms aufgrund mörderischer Methoden ausbeuterischer Firmen drei Viertel der eingeborenen Bevölkerung ihr Leben ließ. Auch Casement riskierte sein Leben, während er das Grauen dokumentierte. Vargas Llosa hat sorgfältig über den Kongo berichtet, doch noch eindrücklicher und ausführlicher schildert er die Verhältnisse im Amazonasgebiet. Dort war schon sein Roman "Das grüne Haus" angesiedelt, und dort ist Mario Vargas Llosa ganz in seinem Element: Man spürt angesichts der Liebe zum Detail und der genauen Naturschilderungen seine Nähe zu der Region und vor allem seine Betroffenheit angesichts des korrupten politischen Systems, der fehlenden Rechtsstaatlichkeit sowie der nicht vorhandenen Präsenz des Staates in Teilen seines Territoriums. Diese Situation hat sich bis heute nicht entscheidend geändert, und sie hat den Autor auch während seines Ausflugs in die peruanische Politik in den Achtzigerjahren umgetrieben.

    Der dritte Teil der Biografie erzählt von Casements Engagement für den irischen Befreiungskampf, das ihn auch für einige Monate nach Deutschland führt, wo er vergeblich für eine England-Invasion wirbt. Zudem glaubt Casement, eine späte Liebe gefunden zu haben:

    "Im Falle des "schönen Wikingers", wie er ihn insgeheim nannte, hatte er das Gefühl, endlich eine dauerhafte emotionale Bindung über das Körperliche hinaus einzugehen, die der Einsamkeit ein Ende bereiten könnte, zu der ihn seine sexuelle Neigung bislang verurteilt hatte. Und doch begann mit eben diesen Tagen, in denen das Glück ihm so hold schien, die bitterste Phase überhaupt."

    Mit Empathie erzählt Vargas Llosa vom Verrat des "Schönen Wikingers" an dem früh gealterten, infolge der Strapazen seiner Reisen kranken Mann.
    "Der Traum des Kelten" ist kein großer Roman, denn Mario Vargas überrascht nicht wie in einigen früheren Werken mit thematischer, struktureller oder stilistischer Originalität. Doch er hat eine lesenswerte, engagiert geschriebene, sprachlich geschliffene Hommage an einen politisch naiven, aber mutigen Mann vorgelegt, der an eine gerechtere Welt glaubte, die jedem Menschen und jedem Land seine Freiheit garantiert. Und der für diesen Traum starb.


    Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten.
    Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
    447 Seiten, 24,90 Euro