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Homo- und Intersexualität in der Theologie
"Das Problem ist die Gesellschaft, nicht die Menschen"

"Ehe für alle", "drittes Geschlecht", Gender - das waren Erregerthemen 2017. Warum dieses Reizklima? Der Theologe Gerhard Schreiber sagt: "Wir müssen Geschlecht thematisieren, damit wir Diskriminierungen aufdecken und beseitigen können." Auch das christliche Menschenbild enthalte Diskriminierendes.

Gerhard Schreiber im Gespräch mit Christiane Florin | 29.12.2017
    Gerhard Schreiber
    Der Theologe Gerhard Schreiber zählt zu den wenigen Männer seines Fachs, die sich mit Gender befassen (Ralf Stieber (Ev. Akademie Baden))
    Christiane Florin: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Auf diesen Satz wird das Buch "Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir meist reduziert. Erschienen ist es 1949 - man glaubt es kaum. Damals war von Gender noch nicht die Rede, aber genau das ist hier gemeint: das Geschlecht nicht als genetische Gegebenheit, sondern als etwas gesellschaftlich und kulturell Geprägtes. Fast 70 Jahre später provoziert dieser Gedanke noch immer oder wieder. Wie wird man Frau, wie wird man Mann – und reichen zwei Geschlechter überhaupt?
    Jetzt reicht's – mögen manche sagen, viele schreiben uns genau das. So ein Gender-Quatsch brauche kein Mensch, das sei Ideologie und Gehirnwäsche. Aber es gibt auch die anderen, diejenigen, die sagen: Es reicht noch lange nicht, wir haben noch gar nicht angefangen, intensiv darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn das vermeintlich Naturgegebene in Frage gestellt wird. Das gilt auch für die Theologie.
    Von Essen aus zugeschaltet ist Gerhard Schreiber, evangelischer Theologe am Institut für Theologie und Sozialethik in Darmstadt und einer der wenigen Männer seines Fachs, der sich mit Gender befasst, guten Morgen, Herr Schreiber.
    Gerhard Schreiber: Guten Morgen Frau Dr. Florin.
    Florin: Herr Schreiber, sprechen wir so viel über das Geschlecht, damit es irgendwann nicht mehr die Bedeutung hat, die es noch hat?
    Schreiber: Gute Frage. Geschlecht wird in sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen unserer Gesellschaft ganz gewiss immer eine Rolle spielen. Es ist nicht nur fundamentaler Kern unserer Persönlichkeit, sondern auch die Einteilung der Menschen nach Geschlecht ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Alltagsbewusstseins, aber auch der Rechtsordnung. Nun ist aber die Frage, ob nicht diese Bedeutung und Rolle von Geschlecht genau zu analysieren sind - nicht zuletzt deshalb, um zu erkennen wo und wie die Menschen auf Grund ihres Geschlechtes ausgegrenzt, benachteiligt und herabgewürdigt werden. Das heißt, wir müssen Geschlecht thematisieren, damit wir Diskriminierungen von Menschen auf Grund ihres Geschlechts aufdecken und beseitigen können. In dieser Hinsicht sollte dann Geschlecht bald einmal keine Rolle mehr spielen.
    "Ein Ordnungsprinzip zur Herstellung männlicher Privilegien"
    Florin: Es gab vor einigen Wochen einen Aktionstag "Gender Studies" und da gab es auch eine Erklärung von Tübinger Theologieprofessorinnen und -professoren und in dieser Erklärung heißt es, die Normalitätsannahme sei: Es gibt zwei Geschlechter, die sind aufeinander bezogen und jeder Mensch hat genau ein Geschlecht. Und mit dieser Normalitätsannahme werde Macht und Einfluss verteilt, werden Ämter verteilt. Inwiefern gilt das auch für die Theologie?
    Schreiber: Man darf nicht vergessen, dass das Modell dieser von Ihnen gerade beschriebenen Geschlechter-Binarität oder die Annahme der bipolaren Zweigeschlechtlichkeit nicht nur ein stabiles Differenzierungskriterium ist, sondern gerade auch hierarchisierendes Ordnungsprinzip zur Herstellung und Aufrechterhaltung nicht zuletzt männlicher Privilegien. Und wenn nun an dieser unumstößlichen und schicksalsbestimmenden Festlegung - wie sie sich ja auch im traditionellen christlichen Menschenbild findet - gerüttelt wird, dann führt das zunächst erstmal zu Irritationen, was diese sogenannte Normalität oder Normativität angeht. Die es bei Lichte betrachtet gar nicht so gibt.
    Florin: Nun regeln Religionen ganz gern das Begehren. Sie erklären, was gute Sexualität ist und was verbotene ist, was gute Geschlechterbeziehungen sind und was schlechte. Mit Homosexualität tun sich viele Religionen schwer - sie haben vorhin von der Diskriminierung gesprochen. Nun gibt es seit Oktober dieses Jahres die Möglichkeit, dass Personen gleichen Geschlechts in Deutschland eine zivile Ehe eingehen dürfen, dass das auch Ehe heißt. Was ist Ehe, theologisch betrachtet, im Jahre 2017?
    Schreiber: Da muss man unterscheiden, ob man jetzt hier aus der evangelischen Sicht oder aus der katholischen Sicht argumentieren möchte.
    Florin: Zuerst mal die evangelische.
    Schreiber: Da könnte man argumentieren, ob man nicht weggehen müsste von einer Definition der Ehe auf die Gestalt - zwei Personen unterschiedlichen Geschlechtes gehen eine Ehe ein - hin zur Gestaltung dieser Beziehungsform. Wenn man so argumentiert, könnte man sagen: Ehe ist nun eine auf Dauer angelegte rechtlich verbindliche Partnerschaft, die einen Schutzraum für beide Partner und dann auch, wenn sie sich entscheiden oder wenn gewünscht oder möglich, ihren Kindern Sicherheit und Freiheit gewähren. Also diese Frage, ob Menschen im privaten Umfeld verlässlich und dauerhaft, aber auch generationsübergreifend Verantwortung übernehmen, indem sie füreinander Sorge tragen. Wenn das die Definition von Ehe ist, dann spricht nichts dagegen aus protestantischer Sicht einem Menschen die Bitte um Gottes Segen dann für das gemeinsame Leben zu gewähren. Nichts anderes ist ja die Eheschließung im evangelischen Verständnis. Dass ein Ehepaar Gott um seinen Segen für das gemeinsame Leben bittet.
    "Die Liebe begründet die Ehe"
    Florin: Und aus katholischer Sicht? Die katholische Kirche tut sich schwerer, weil sie die Ehe als Sakrament betrachtet und von der Komplementarität der Geschlechter ausgeht.
    Schreiber: Ja, die Komplementarität der Geschlechter ist sicherlich eine schöne Idee. Nur entspricht sie nicht der Wirklichkeit, der naturalen Wirklichkeit. Wenn man es historisch betrachtet, zum Beispiel, dass eine ganze Kindergeneration allein von Kriegerwitwen großgezogen wurde und die Zahl alleinerziehender Eltern seit der 60er Jahren weiter anwächst. Für die katholische Auffassung ist die grundsätzliche Offenheit für die Weitergabe von Leben maßgeblich und trotzdem muss man sagen, dass diese Verknüpfung von Ehe einerseits, Kinder und Familie andererseits für das Verständnis auch der katholischen Kirche nicht mehr so wesentlich zu sein scheint, weil man eben auch eine Ehe ohne Kinder als eine vollwertige Ehe betrachtet. Die Liebe begründet die Ehe.
    Florin: Aber können Sie nicht Menschen verstehen, die etwa wie die Bundeskanzlerin - evangelisch - sagen: "Für mich besteht eine echte Ehe aus der Verbindung zwischen Mann und Frau" - weil es eben jahrhundertelang so war.
    Schreiber: Natürlich kann ich das verstehen, auch gerade weil es eine Gewissensentscheidung ist. Nur das, wonach man sich zurücksehnt, dass Ehe schon immer ein Zusammenschluss von Mann und Frau war ist ja auch nicht etwas, was historisch schon immer so war, weil es eine anthropologische Konstante war. Es (die eheliche Kernfamilie) ist auch etwas, was sich spätestens mit dem Aufkommen des Bürgertums erst herauskristallisiert hat.
    "Kein eindeutiges Geschlecht führt zu Verunsicherung"
    Florin: Wer in Spielzeugläden geht, und wahrscheinlich hat man es auch unter dem Weihnachtsbaum ganz gut sehen können, der findet dort mehr denn je rosa Prinzessinnen, die auf einen Prinzen warten, und Baumeister in blauen Latzhosen. Warum kommt diese konventionelle Geschlechtervorstellung gerade heute so gut an?
    Schreiber: Geschlecht wird auch gern mit bestimmten Vorstellungen und Idealisierungen verknüpft. Und man passt sich nicht nur dem an, sondern man ist auch so geprägt wie man erzogen wird. Besonders dann wird es markant, wenn das Geschlecht eines Menschen nicht eindeutig zu sein scheint oder zum ersten Anschein nicht passt und die Erwartungen und Vorstellungen, die man von Geschlecht hat durchkreuzt werden. Das führt dann zu Verunsicherung und Irritationen. Ich denke, dass jede Verunsicherung oder zumindest diese Art von Verunsicherung auch dann den Rückgriff auf scheinbar Selbstverständliches provoziert. Also dieses sich zurücksehnen nach Normalität, nach der sogenannten "guten alten Zeit".
    Florin: Kommen wir zu einem weiteren Thema, das unsere Hörerschaft gespalten hat: Es gab begeisterte Stimmen, es gab aber auch Verunsicherung oder sogar Angst. Und zwar geht es um das sogenannte "dritte Geschlecht". Vor einigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber aufgefordert, das Personenstandsgesetz zu ändern. Im Geburtenregister soll es nicht nur weiblich und männlich geben, sondern eine dritte Möglichkeit für intersexuelle Menschen. (Hören wir zunächst den Bericht von Michael Hollenbach über die theologischen Folgen dieser Entscheidung.)
    Herr Schreiber, warum fällt es der katholischen Kirche leichter, Intersexualität zu akzeptieren als Transsexualität?
    Schreiber: Nach meinem Dafürhalten ist das deswegen der Fall, weil Intersexualität - das wurde ja auch vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken in seiner Stellungnahme zur Verfassungsklage betont - ein eindeutig biologisches Phänomen ist. Das hat auch die Kongregation für die Glaubenslehre in ihrem bislang unveröffentlichten Schreiben zu Transsexualität, also zur Ehefähigkeit von transsexuellen Menschen, betont, dass sich die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen nach dem Genotypus, also nach der Gesamtheit der Erbanlagen richtet und nicht nach dem Phänotypus. Wenn man sich dann vor Augen hält, dass auch die traditionelle katholische Moraltheologie meist rein naturrechtlich nach dem Motto argumentiert: nach dem Schöpfungsbericht gibt es nur Mann und Frau, aber was ein Mensch von seinem biologischen Geschlecht von Anfang an ist, das bleibt er auch egal was medizinisch und psychisch an Veränderungsprozessen geschieht, weil allein das genotypische Geschlecht rechtserheblich ist, begründet sich zumindest diese Ablehnung der geschlechtsangleichenden Maßnahmen, die transsexuelle Menschen an ihrem Körper vornehmen, die dann - wenn man so argumentiert - nichts anderes als Selbstverstümmlung sind, während man sich bei Intersexualität geradezu wunderbar auf das biologische Phänomen berufen kann, dem dann eben eine andere Bedeutung zukommt.
    "Vielleicht ist die Norm falsch und nicht die Menschen"
    Florin: Wobei das auch nicht so sicher ist, wie gemeinhin angenommen wird. Ein zentrales Argument ist um etwas zu verändern immer die Leidminderung. Wer leidet eigentlich unter der konventionellen Geschlechterzuordnung?
    Schreiber: Mal pointiert gesagt: Nicht intersexuelle Menschen oder auch transsexuelle Menschen sind das Problem, sondern die Gesellschaft. Und für deren menschenwürdige Verfasstheit tragen Christen gleich welcher Konfession im Namen Gottes Verantwortung. Und dann müssen wir uns schlicht fragen, ob angesichts der Vielgestaltigkeit von Geschlecht nicht jeder Versuch von Normierung von Geschlecht erstmal fraglich erscheint. Ob nicht Geschlecht etwas ist, was nicht nur innerhalb oder außerhalb einer bestimmten Norm wie der Zweigeschlechtlichkeit oder Heteronormativität sich befindet, sondern ob Geschlecht nicht vielmehr außer Norm ist. Also pointiert formuliert muss man sich doch fragen: Wenn so viele Menschen einer bestimmten Norm nicht entsprechen, dann ist vielleicht die Norm falsch und nicht die Menschen.
    Florin: Nun haben sich populistische Bewegungen den Kampf gegen Gender auf die Fahnen geschrieben. Es heißt immer "Genderwahnsinn" oder "Gender-Gaga". Woher kommt dieses Reizklima gerade bei diesem Thema?
    Schreiber: Ich glaube es ist diese Verunsicherung. Verunsicherung, die - wie ich schon sagte - dann, weil man vor etwas gestellt wird, was nicht der Erwartung entspricht, den Rückgriff auf scheinbar Selbstverständliches dann provoziert. Dass man sich zurücksehnt nach einer guten alten Zeit. In meinen Seminaren, den Sexualethikseminaren an der Universität Darmstadt, mache ich dann auch gerne eine Fragerunde. Ich frage: Wenn wir von der guten alten Zeit der Ehe und Familie sprechen, wann glauben Sie wurde zum Beispiel die Vergewaltigung einer Frau in der Ehe für strafbar erklärt? Dann kommen Antworten wie: "Ja, das muss ja im 19. Jahrhundert passiert sein oder spätestens in der Nachkriegszeit". Wenn ich dann sage, dass es erst zum 1. Juli 1997 erfolgte, vor gerade einmal 20 Jahren, dann relativiert sich auch wieder die Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Bei Gender ist die Frage, was darunter alles subsummiert wird, was dem unterstellt wird. Wichtig ist zu sagen: Es ist keine Ideologie, sondern eher eine Analysekategorie. Diese biologischen Geschlechterdifferenzen sollen ja nicht aufgehoben werden. Man fragt sich nur: Sind sie hinreichend als Legitimation dafür, gesellschaftliche Unterschiede zwischen Geschlechtern zu akzeptieren, die zu Ausgrenzung und Benachteiligung führen. Also nicht diese Geschlechterdifferenzen sollen hier abgeschafft werden, sondern die Bedingungen, die die Anerkennung von Vielfalt, aber auch von Verschiedenheit verhindern. Und deswegen ist es wichtig diesen Begriff hochzuhalten.
    Florin: Herr Schreiber, vielen Dank. Mit dem Theologen Gerhard Schreiber von der Uni Darmstadt habe ich über Geschlecht gesprochen und warum wir vielleicht eines Tages nicht mehr darüber sprechen müssen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.