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Horace-Bénédict de Saussure
Vater des modernen Alpinismus

Horace-Bénédict de Saussure ist durch halb Europa marschiert und auf unzählige Berge gestiegen, um anhand der unterschiedlichen Felsformationen die Geschichte der Erde zu studieren. Mit der Besteigung des Mont Blanc, den höchsten Alpengipfel, erfüllte er sich einen Lebenstraum.

Von Irene Meichsner | 17.02.2015
    Blick auf die romantisch verschneite Ortschaft St. Christoph am Arlberg in Tirol
    Bénédict de Saussure fühlte sich seit seiner Jugend von den Alpen magisch angezogen. (dpa / picture alliance / Susanne Mayr)
    "Ich glaubte meinen Augen nicht, hielt es für einen Traum, als ich die majestätischen Gipfel, die fürchterlichen Hörner, den Midi, den Argentière, den Géant, zu deren Fuß der Zugang mir ehemals so mühsam und gefährlich gewesen war, itzt unter meinen Füßen sah. Ihre Lagen gegeneinander, ihre Verbindungen, ihr Bau, waren mir izt deutlich, und ein einziger Blick hebte Zweifel, welche Jahre von Arbeiten nicht hatten aufklären können."
    Es war der 3. August 1787, als sich der größte Wunsch von Horace-Bénédict de Saussure erfüllte: Der Philosophie- und Physikprofessor aus Genf stand im Alter von 47 Jahren auf dem Gipfel des Mont Blanc! Als 20-Jähriger hatte er eine Geldprämie für denjenigen ausgesetzt, der ihm einen Weg auf den höchsten Alpengipfel weisen würde. 1786 war Michel Paccard und Jacques Balmat, zwei Bergsteigern aus Chamonix, die Erstbesteigung des Mont Blanc endlich gelungen, sodass ihnen de Saussure ein Jahr später folgen konnte – begleitet von einem Diener und 18 Führern, die auch das Gepäck mit den Messinstrumenten trugen, außerdem Flaschen und andere Behälter für Schnee- und Gesteinsproben, ein Zelt und einen kleinen Arbeitstisch, um darauf zu experimentieren.
    Die kalte Luft in rund 4.800 Metern Höhe war sechs Mal so trocken wie zu Hause in Genf. Wasser zum Sieden zu bringen dauerte eine halbe Stunde. Das Himmelsblau war sehr viel dunkler, wie de Saussure mit einem von ihm selber entwickelten "Cyanometer" feststellte. Nur die dünne Luft machte dem Gelehrten zu schaffen.
    Zitat Horace-Bénédict de Saussure: "Wenn ich mich gänzlich ruhig hielt, so fühlte ich nichts als eine kleine Unpäßlichkeit, eine leichte Neigung zum Erbrechen. Wenn ich mir aber bey etwas Mühe gab, oder meine Aufmerksamkeit einige Augenblicke hinter einander anstrengte, und besonders wenn ich im Bükken die Brust zusammendrückte, so musste ich mich sezzen, und zwey bis drey Minuten nach Luft schnappen."
    Die geologischen Fachkenntnisse buchstäblich erwandert
    De Saussure stammte aus einer wohlhabenden Familie, die während der Hugenottenkriege aus Frankreich in die Schweiz geflohen war. Am 17. Februar 1740 in Genf geboren, fühlte er sich seit seiner Jugend von den Alpen magisch angezogen. Seine geologischen Fachkenntnisse hatte er sich buchstäblich erwandert. De Saussure marschierte durch das Jura und die Vogesen, reiste nach Deutschland, England, Italien und Sizilien – den Geologenhammer immer griffbereit.
    "Ich bin auf alle zugängliche Höhen geklettert, die mir interessante Beobachtungen versprachen, und habe immer Exemplarien von Bruchstücken der Minen und Gebirgsarten mitgenommen, besonders von denen, die mir ein zur Theorie der Erde wichtiges Factum vorlegten, damit ich sie mit Muße wieder ansehen und studieren könnte", schrieb de Saussure 1779 im Vorwort zu seinem Hauptwerk "Reisen durch die Alpen nebst einem Versuche über die Naturgeschichte der Gegenden von Genf". Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Alpen nach eigenen Angaben schon 14 Mal auf acht verschiedenen Bergstraßen durchlaufen und war 16 Mal tief ins Gebirge vorgedrungen.
    "Dergleichen naturforschende Wanderschaften sind mühselig, wie ich gerne gestehe; man muss sich Chaisen, auch selbst die Pferde versagen, die größten Beschwerlichkeiten ausstehen, ja nicht selten sich beträchtlichen Gefahren Preis geben. Oft zweifelt der Naturforscher noch, wenn er dem Gipfel der Höhe nahe ist, die er wünscht erreicht zu haben, ob seine erschöpften Kräfte noch zureichen, ihn hinauf zu bringen, oder ob er über die Abgründe hinwegkommen kann, die ihm den Zutritt dazu abzuschneiden scheinen."
    Für Forschungsreisende, denen es nur um die "Sammlung von natürlichen Seltenheiten" ging, wie es de Saussure formulierte, hatte er wenig Verständnis.
    "Mit auf die Erde gerichteten Augen schleichen sie umher, und sammeln hie und da kleine Cabinetstücke, ohne sich nach ins Große gehenden Beobachtungen umzusehen. Sie scheinen mir einem Antiquarier zu gleichen, welcher zu Rom mitten im Coliseum oder Pantheon Erdreich aufwühlen würde, um Bruchstücke von gefärbtem Glase zu sammeln, und darüber im Stande wäre, die prachtvolle Baukunst gedachter Gebäude nicht zu sehen."
    De Saussure, der am 22. Januar 1799 in Genf starb, hat die Alpen, die den meisten Menschen damals noch so viel Furcht einflößten, der Forschung zugänglich gemacht und damit auch den Weg zum alpinen Tourismus geebnet. Und er hat seine Begeisterung für die Wissenschaft an seine Kinder und Kindeskinder weitervererbt. Sein Sohn Nicolas-Théodore war Geologe und Botaniker, sein Enkel Henri ein Mineraloge und berühmter Insektenforscher, sein Urenkel Ferdinand de Saussure begründete die moderne Linguistik – eine ganze Dynastie von Wissenschaftlern, die, jeder auf seine Weise, neue Wege beschritten.