Dienstag, 19. März 2024

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Hubble-Konstante
Was stimmt nicht mit der Expansion des Universums?

Wie schnell dehnt sich das Universum aus? Die Theorien dazu hängen vom Wert der sogenannten Hubble-Konstante ab. Sie bestimmt Größe und Alter des Universums. Um den Wert der Hubble-Konstante wird in der Wissenschaft gestritten. Das könnte zum nächsten Umbruch unseres kosmologischen Weltbildes führen.

Von Dirk Lorenzen | 06.06.2021
Die Galaxiengruppe "Stephans Quintett", aufgenommen vom Weltraumteleskop Hubble
Die Galaxien entfernen sich umso schneller voneinander, je größer ihr Abstand ist - für diese Verknüpfung sorgt die Hubble-Konstante (NASA / ESA)
Bruno Leibundgut: "Die Hubble-Konstante ist die momentane Expansionsrate des Universums."
Adam Riess: "Eine der wenigen Möglichkeiten, etwas über die Zusammensetzung, das Alter und das künftige Schicksal unseres Universums zu erfahren, ist, seine Ausdehnung zu beobachten."
Dirk Lorenzen: "Die Hubble-Konstante ist ein alter Bekannter der Astronomie. Die taucht immer wieder auf, war jahrzehntelang umkämpft, dann dachte man jetzt 20 Jahre lang, das Problem sei gelöst."
Bruno Leibundgut: "Ich glaube, die Leute haben es sich gemütlich gemacht mit dieser Dunklen Materie und der Kosmologischen Konstanten. Das hat alles irgendwie schön gepasst. Aber dass das wirklich das ultimative Modell sein soll, das hat überhaupt niemand gesagt."
Galaxien wie Rosinen in einem aufgehenden Hefeteig
Die Hubble-Konstante. Sie gehört zum Rüstzeug einer jeden Astronomin und eines jeden Astronomen. Sie bestimmt den fundamentalen Zusammenhang zwischen der Entfernung einer Galaxie und ihrer Geschwindigkeit, mit der sie sich von uns fortbewegt. Nach der Urknalltheorie ergeht es den Galaxien im Weltraum wie Rosinen in einem aufgehenden Hefeteig. Das All bläht sich auf und die Galaxien entfernen sich voneinander – und zwar umso schneller, je größer ihr Abstand ist. Für diese Verknüpfung sorgt die Hubble-Konstante.
Dir Lorenzen: "Und jetzt beobachtet man immer besser und es gibt eben diese Diskrepanz, diesen Widerspruch in den Daten."
Welchen Wert die Hubble-Konstante hat, also wie schnell sich das Universum ausdehnt, das ist derzeit die 100.000-Dollar-Frage der Kosmologie. Nach der gegenwärtig populärsten Theorie zum Aufbau der Welt müsste die Hubble-Konstante etwas kleiner sein als die Beobachtungen im Kosmos ergeben. Der Unterschied liegt bei etwa neun Prozent. Das ist zu viel, um es als Messungenauigkeit abzutun.
"Die Diskrepanz ist vorhanden. Das ist ein ganz tolles kosmologisches, wissenschaftliches Problem, das wir sicher irgendwann einmal lösen müssen. Auch deshalb, weil das natürlich die Gefahr ist, dass wir das Universum noch nicht richtig verstanden haben. Das ist okay. Daraus kann man lernen."
Standardmodell vom Aufbau der Welt vor dem Einsturz
Bruno Leibundgut von der Europäischen Südsternwarte ESO in Garching nimmt die aufziehende "Krise" der Kosmologie gelassen. Schon während seines Studiums vor über 30 Jahren hat er sich mit der Hubble-Konstanten beschäftigt – und als einer der weltweit profiliertesten beobachtenden Kosmologen hat er schon so manche überraschende Wende seines Fachs miterlebt. Nun könnte das Standardmodell vom Aufbau der Welt vor dem Einsturz stehen – denn die Hubble-Konstante ist viel mehr als nur ein kosmischer Geschwindigkeitsfaktor. Adam Riess:
"Die Hubble-Konstante bestimmt die Größe und das Alter des Universums. Einst war ihr Wert heftig umstritten. Man lag um einen Faktor zwei auseinander. Heute aber liegt die Unsicherheit bei etwa zehn Prozent."
Der US-Astronom Adam G. Riess in seinem Büro an der John Hopkins University in Baltimore, Maryland
Die Ausdehnung des Universums beobachten: US-Astronom Adam G. Riess in seinem Büro an der John Hopkins University (AP / Gail Burton / The John D. and Catherine T. MacArthur Foundation)
Adam Riess erhielt 2011 den Physik-Nobelpreis – im Alter von nur 42 Jahren. Ihn quält die aktuelle Abweichung von knapp zehn Prozent in den Messungen. Zwar stritten die Astronomen vor 30 Jahren um viel größere Unterschiede, damals aber ging es letztlich nur um Messfehler. Es war geradezu ein Glaubenskrieg, erinnert sich Bruno Leibundgut:
"Damals gab es wirklich diese unversöhnlichen Camps. Da gab es Gruppen, die teilweise auch unangenehm miteinander umgegangen sind. Das sehe ich heute weniger. Heute ist die Wissenschaft mehr im Vordergrund. Die Leute wollen die richtige Antwort finden und nicht mehr ihre richtige Antwort."
Etablierte Theorie passt nicht mehr
Die Astronomen streiten nicht mehr untereinander. Sie kämpfen mit der Theorie, die sie entwickelt und liebgewonnen haben – die nun aber nicht mehr zu passen scheint. Es geht nicht darum, ob sich der Kosmos etwas schneller oder langsamer ausdehnt, sondern darum, ob unsere Vorstellung vom Universum zutreffend ist. Adam Riess:
"Wir haben ein Standardmodell der Kosmologie, genannt Lambda CDM. Es ist sehr erfolgreich, wenn es um den Aufbau des Universums geht. Es erklärt bestens, wie sich das Weltall vom Urknall bis heute entwickelt hat. Es basiert auf der kosmischen Hintergrundstrahlung, die kurz nach dem Urknall entstanden ist und vom Satellitenteleskop Planck extrem genau beobachtet wurde. Aus diesen Daten und dem Standardmodell können wir ausrechnen, wie schnell sich das Universum heute ausdehnen sollte – und da kommen wir auf einen Wert von 67,4."
Der Satellit Planck in der Montagehalle.
Beobachtet die kosmische Hintergrundstrahlung: Satellit Planck (ESA)
67,4 lautet die aus der Analyse der Daten des ESA-Satelliten Planck erwartete Hubble-Konstante. Dies ist eine Vorhersage auf der Basis des aktuellen Urknallmodells, keine direkte Messung. Wenn diese Vorhersage stimmt, müsste sie zur Geschwindigkeit passen, mit der die Galaxien heute tatsächlich auseinanderfliegen. Genau das haben Adam Riess und andere weltweit nachgemessen.
"Mit dem Hubble-Weltraumteleskop beobachten wir Cepheiden-Sterne und Supernova-Explosionen. Damit lassen sich die Entfernung und die Geschwindigkeit von Galaxien bestimmen."
Neun Prozent Abweichung - zig Lichtjahre Differenz
Ausgewertet sind mittlerweile Dutzende von Objekten. Die Datenbasis ist solide. Das Ergebnis eindeutig. Adam Riess:
"Unsere Daten ergeben eine Hubble-Konstante von 73,5 – und das passt nur mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million zum erwarteten Wert."
Ein Dilemma: Der gemessene Wert liegt neun Prozent höher als der theoretisch erwartete. Anfangs dachten die meisten Fachleute, es handele sich einfach um einen Messfehler, der mit der Zeit und mehr Daten verschwinden werde. Doch im letzten Jahr sind rund ein Dutzend Fachartikel erschienen. Sie nutzen zwar unterschiedliche Methoden, kommen aber alle zu demselben Ergebnis. Offenbar dehnt sich der Kosmos heute schneller aus als erwartet. Die Frage ist: Warum?
Dirk Lorenzen: "Die Hubble-Konstante hat diese skurrile Einheit Kilometer pro Sekunde, pro Megaparsec. Das Megaparsec sind 3,26 Millionen Lichtjahre."
Bruno Leibundgut: "Es ist eine sehr, sehr schwierige Messung. Die Schwierigkeit der Hubble-Konstanten ist, dass Sie eine absolute Messung machen."
Dirk Lorenzen: "Im Zuge dieser Ausdehnung des Universums erhöht sich die Geschwindigkeit einer Galaxie um 74 Kilometer pro Sekunde, pro 3,26 Millionen Lichtjahre an Entfernung. Also je größer der Abstand zu einer Galaxie ist, desto schneller ist sie."
Bruno Leibundgut: "Was bei der Hubble-Konstante dazu kommt: Sie müssen die Messungen in großen Entfernungen machen."
Dirk Lorenzen: "Man kommt dann ganz schnell auf Tausende oder Zehntausende Kilometer pro Sekunde, mit denen sich diese Galaxien von uns entfernen infolge der Ausdehnung des Universums."
Bruno Leibundgut: "Und wenn Sie diese kosmische Raumausdehnung messen wollen, dann müssen Sie auf kosmische Distanzen messen. Und da bleiben einem eigentlich dann nur noch Galaxien als Objekte oder in unserem Fall halt Supernovae. Aber die sind halt sehr, sehr selten. Da muss man warten, bis man die wieder mal beobachten kann."
Das Hubble Space Telescope in einer Nahaufnahme
Beobachtet Cepheiden-Sterne und Supernova-Explosionen: Hubble Space Telescope (imago / Zuma Press)
Verlässliche Entfernungs-Messpunkte sind selten
Das Zauberwort für die Messung der Hubble-Konstante lautet "Standardkerzen". Entfernungsmessungen sind an sich nicht schwierig. Alles, was man braucht, sind Objekte, von denen bekannt ist, wie stark sie vor Ort leuchten. Aus der beobachteten Helligkeit an unserem Himmel lässt sich dann die Entfernung berechnen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn Sterne sind üblicherweise nicht normiert. Manche sind helle Strahler, andere schwache Funzeln. Nur einige Objekte im All taugen tatsächlich zur kosmischen 100-Watt-Lampe, erklärt Adam Riess – etwa eine besondere Sorte von Sternexplosionen.
"Supernovae vom Typ Ia sind explodierende Weiße Zwerge, die mit einem Begleiter einen Doppelstern bilden. Vom Begleiter strömt Materie auf den kompakten Weißen Zwerg. Hat er so viel Material angesammelt, dass er die Grenze von 1,4 Sonnenmassen erreicht, dann wird er instabil und es gibt eine sehr leuchtkräftige und nach astronomischen Maßstäben stets gleiche Art von Explosion."
"Mutter von Hubble": Nancy Roman, die erste NASA-Astronomin
Vor 95 Jahren kam in Nashville, Tennessee, Nancy Grace Roman zur Welt. Schon als Kind war sie eine begeisterte Himmelsbeobachterin und trat mit elf Jahren einem Astronomieverein bei.
Jeden Tag flammen etliche Supernovae irgendwo im Kosmos auf. Aber nur ganz wenige sind von der begehrten Sorte Ia. Sie verraten sich durch einen ganz bestimmten Verlauf der Lichtkurve und durch Besonderheiten in ihrem Lichtspektrum. Beobachten die Astronomen eine Ia-Supernova, wissen sie sofort, wie leuchtkräftig sie vor Ort scheint. Der Vergleich mit der Helligkeit, mit der sie bei uns am Himmel zu erkennen ist, ergibt dann die Entfernung. Adam Riess:
"Das einzige Problem mit den Ia-Supernovae ist, dass sie relativ selten sind. Wir sehen sie nicht in jeder Galaxie, in der wir gerne eine hätten – und schon gar nicht in Galaxien, deren Entfernung wir bereits kennen, um sie zu eichen. Also müssen wir auch andere Sterne nutzen."
Auf der Suche nach besseren Ideen zur Entfernungsmessung
Neben den Supernova-Explosionen sind Cepheiden die besten Objekte, um Entfernungen im All zu bestimmen. Das sind pulsierende Sterne, die regelmäßig ihre Helligkeit verändern. 1912 hat Henrietta Leavitt entdeckt, dass die Cepheiden umso heller leuchten, je länger ihr Flackern dauert. Leavitt leistete exzellente Arbeit, durfte damals als Frau an der Harvard-Universität aber nur als Hilfskraft angestellt werden. Bis heute sind die Cepheiden ein unverzichtbares kosmisches Maßband, um Entfernungen zu bestimmen – und damit auch die Hubble-Konstante. Der Wert liegt auch hier über statt unter 70.
Beobachtungen von Cepheiden-Veränderlichen in der Großen Magellanschen Wolke sollen bei der Bestimmung der Hubble-Konstanten helfen
Unser kosmologisches Modell muss vielleicht verändert werden (ESO)
Noch sind nicht alle Möglichkeiten der Vermessung unseres Weltalls ausgeschöpft – womöglich entlarven noch bessere Beobachtungen und neue, unabhängige Werkzeuge wie Galaxienlinsen oder Gravitationswellen in den nächsten Jahren doch noch versteckte Denkfehler und retten unser Weltmodell. Doch bisher sieht es nicht danach aus. Jetzt sind gute Ideen gefragt. Adam Riess:
"Könnten wir in einer großen Lücke im Kosmos leben, in der es weniger Materie gibt als anderswo, und in der die Ausdehnung deswegen schneller erfolgt? Das sehen manche als Ausweg. Zwar gibt es durchaus Gegenden mit mehr und mit weniger Materie. Aber diese Leerräume könnten die Hubble-Konstante nur um etwa ein halbes Prozent beeinflussen, nicht um neun Prozent. Diese große Abweichung lässt sich damit absolut nicht erklären."
Unser kosmologisches Modell - einfach falsch?
Damit scheidet die eleganteste Lösung des Problems der hohen Hubble-Werte aus. Die langweiligste Lösung wäre, dass die Astronomen beim Beobachten bisher irgendwelche Fehler übersehen, die die Hubble-Konstante nur so hoch erscheinen lassen – etwa bei der Eichung der Entfernungen von Cepheiden und Supernovae. Und dann bliebe da noch die revolutionäre Lösung, der Bruno Leibundgut recht gelassen entgegensieht.
"Wenn das dann so bleibt, dann ist es natürlich klar, dass das kosmologische Modell, das wir im Moment benutzen, das wir auch gerne haben und mögen, entweder unvollständig oder falsch ist. Also es muss halt verbessert werden. Das ist nicht wirklich tragisch."
Dirk Lorenzen: "Nach dem Standardmodell, das fast alle gut finden, besteht der Kosmos nur zu etwa fünf Prozent aus der normalen, wie man sagt, baryonischen Materie, aus der die Erde, die Sonne, alles, was wir im Weltall sehen, bestehen. Und dann gibt es 25 Prozent Dunkle Materie aus einem ganz ominösen Stoff. Und 70 Prozent etwa ist diese Dunkle Energie. Das heißt, 95 Prozent des Kosmos sind komplett unbekannt. Keiner weiß, was da wirklich physikalisch dahintersteckt."
Nach dem aktuellen Weltmodell ist unsere Materie kosmisch gesehen ein Exot. Die Astronomen sehen bestenfalls fünf Prozent des Universums – 95 Prozent sind prinzipiell unbeobachtbar, nur indirekt zu erahnen und physikalisch bisher nicht zu erklären. Trotzdem spielen sie in den Berechnungen der Kosmologen eine überragende Rolle. Bruno Leibundgut:
"Ich glaube, die Leute haben es sich zu gemütlich gemacht. Das hat alles irgendwie schön gepasst. Aber dass das wirklich das ultimative Modell sein soll, das hat überhaupt niemand gesagt."
Kosmologie-Querdenker Fritz Zwicky
Dirk Lorenzen: "Ein wirklich ganz bemerkenswerter Mensch in der Wissenschaftsgeschichte ist Fritz Zwicky, der sich viel getraut hat, der oft eine Außenseiter-Meinung hatte, in vielem völlig verschroben war. Wir würden heute sagen, wahrscheinlich ist er auch nicht teamfähig gewesen, aber der einfach tolle Ideen hatte und der sich getraut hat, wirklich Dinge zu denken und dann auch weiter zu verfolgen, von denen alle anderen gesagt haben: Das kann ja gar nicht sein."
Pionier der Astrophysik: Fritz Zwicky (1898-1974) beim Betrachten einer Fotoplatte
Die kühne Idee von der Dunklen Materie: Fritz Zwicky (Caltech)
Jener Fritz Zwicky, ein Schweizer Astronom ungarischer Abstammung, der in Kalifornien arbeitete, hatte 1933 die Bewegung von Galaxien im Sternbild Haar der Berenike untersucht. Dabei stellte er fest, dass dort wohl viel mehr Materie anziehend wirkt als in den Teleskopen zu sehen ist. Die kühne Idee der Dunklen Materie war geboren, auch wenn das damals kaum jemand ernst genommen hat.
Dirk Lorenzen: "Und dann kam in den 60er-, 70er-Jahren die große Kosmologin Vera Rubin, die hat sich dann sehr genau einzelne Galaxien angesehen und wie schnell sich dort die Sterne bewegen. Und da hat sie dann eben auch gesehen, gerade um die Bewegung der Sterne am Rand der Galaxie zu erklären, braucht man da auch sehr, sehr viel Dunkle Materie."
Ein Wissenschaftler steht vor der Zeit-Projektionskammer des XENON1T-Experimtens zum Nachweis Dunkler Materie
XENON-Experiment - Hinweis auf der Suche nach Dunkler Materie
Dunkle Materie macht rund fünfundachtzig Prozent der Substanz des Universums aus. Das XENON-Experiment forscht nach neuen Elementarteilchen und potenziellen Trägern von dunkler Materie.
Damit war für die Dunkle Materie der Durchbruch geschafft. Bis heute weiß niemand, woraus sie besteht. Klar ist nur, dass es nicht die uns vertrauten Materieteilchen sind. Dunkle Materie ist nicht zu sehen, denn sie leuchtet nicht und verschluckt auch kein Licht. Aber sie verrät sich indirekt durch ihre Anziehung auf die sichtbare Materie. Fritz Zwicky hat bei den Astronomen bis heute einen legendären Ruf – und so wurde Adam Riess kürzlich nach einem wissenschaftlichen Vortrag gefragt, was wohl Fritz Zwicky von den Widersprüchen bei der Hubble-Konstante halten würde.
Adam Riess: "Oh, es ist immer schwer einzuschätzen, was wohl Zwicky sagen würden. Erst einmal würde er sicher meine Intelligenz beleidigen, was in Ordnung wäre. Und dann? Er hatte keine Angst, Dinge zu sagen, die nicht ins allgemeine Bild passten. Ich glaube, er würde sagen, da läuft Einiges falsch. Das Weltmodell funktioniert nicht mehr. Er würde das mit viel mehr Nachdruck vertreten."
Suche nach Dunkler Materie blieb erfolglos
Mit diesem Modell – Lambda Cold Dark Matter genannt – haben sich die Astronomen bestens arrangiert. Demnach dominieren Dunkle Materie und Dunkle Energie das Universum. Ihre Wirkung passt bestens zu den Beobachtungen: Vor rund 14 Milliarden Jahren ist der Kosmos aus einem extrem dichten und heißen Zustand hervorgegangen, dem Urknall. Während das All sich immer weiter ausdehnte, kühlte das Gas ab und bildete Sterne, Galaxien – und irgendwann auch Planeten wie unsere Erde. So weit, so gut – oder schlecht. Denn genau dieses kosmische Idyll sagt eine niedrigere Hubble-Konstante voraus als die Astronomen messen – und lenkt damit schonungslos den Fokus auf einige Fragen, die die Fachwelt bisher weitgehend ignoriert hat. Bruno Leibundgut:
"Dunkle Materie, ist das jetzt wirklich ein Teilchen, das wir noch nicht entdeckt haben? Oder ist es wirklich eine Veränderung der Allgemeinen Relativitätstheorie? Und das ist im Moment noch offen. Würde ich sagen."
Dunkle Materie, aufgenommen vom Hubble Space Teleskop und dem Chandra X-Ray Observatorium. Auf dem Bild sind Sterne zu sehen und eine Art lila-rosafarbenen Nebels.
Dunkle Materie - Alternative Gravitationstheorien werden salonfähigIm Weltall wurde immer noch keine Dunkle Materie gefunden. Deshalb ziehen jetzt immer mehr Forscher in Erwägung, dass die Anziehungskraft doch anders funktioniert, als bislang angenommen.
Allein dass dieser Gedanke kursiert, wäre vor zehn oder 20 Jahren noch so gut wie unvorstellbar gewesen. Auch Michael Krämer, Professor für theoretische Physik an der RWTH Aachen, blickt etwas ernüchtert auf sein Fach:
"Dunkle Materie war bisher immer das Standard-Paradigma und die Suche war bisher erfolglos, muss man klar sagen. Es ist jetzt nicht konklusiv, dass es das nicht gibt. Aber wenn man in einer bestimmten Richtung sucht und nichts findet, dann sollte man auch mal anfangen nach links und rechts zu schauen, um auch Alternativen im Blick zu haben."
Eine "modifizierte Newtonsche Dynamik"
Und so widmen sich nun mehr und mehr Forscher der zweiten Möglichkeit, um die Bewegung der Sterne und Galaxien im All zu verstehen. Vielleicht stimmt etwas mit der altbekannten Schwerkraft nicht – eine Idee, die der israelische Physiker Mordehai Milgrom vom Weizmann-Institut in Rehovot Anfang der 80er-Jahre aufbrachte:
"Ich bin schon lange anderer Ansicht als der "Mainstream" der Wissenschaft. Ich glaube nicht, dass es in Galaxien viel Dunkle Materie gibt. Vielmehr nutzen wir die falsche Physik. Die Bewegung der Galaxien lässt sich ganz einfach erklären, wenn wir die Gravitation etwas verändern, wenn also die Anziehungskraft etwas anders funktioniert als von Newton beschrieben."
Portraitfoto Mordehai Milgrom vom Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel.
Entwickelte die alternative MOND-Theorie: Mordehai Milgrom vom Weizmann Institute of Science (Weizmann Institute of Science)
Mordehai Milgrom, in gewisser Weise ein Seelenverwandter von Fritz Zwicky, hat als junger Forscher die Dynamik von Galaxien untersucht. Ihn störte, dass nach der weit akzeptierten Theorie alle Galaxien in sehr ähnliche Wolken aus Dunkler Materie eingebettet sein sollten – während die Galaxien selbst sehr unterschiedlich aussehen. So kam er auf die Idee, dass sich die Bewegung der Galaxien vielleicht auch anders erklären lässt als mit der Anziehungskraft hypothetischer Dunkler Materie. Er entwickelte eine alternative Theorie mit dem Namen MOND.
"Diese Abkürzung steht für Modifizierte Newtonsche Dynamik. Galaxien bewegen sich – verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit – sehr langsam. Da braucht man keine Relativitätstheorie. Man muss nur die Newtonsche Mechanik sehr präzise anwenden und etwas anpassen. Die Grundidee ist, dass sich die Anziehungskraft zwischen den Himmelskörpern etwas ändert, wenn sie sehr schwach ist. Inzwischen gibt es auch relativistische Erweiterungen der Theorie, die man bei anderen Phänomenen braucht. Der Name MOND greift also zu kurz, ist aber hängengeblieben."
Alternative Gravitationstheorien
In der MOND-Theorie ändert sich die Stärke der Gravitation mit dem Abstand der Massen, während in der Relativitätstheorie die Raumkrümmung entscheidend ist. In unserem Alltag spielt das keine Rolle, wohl aber am Rande von Galaxien und in den Weiten des Kosmos. Außer der MOND-Theorie gibt es inzwischen eine ganze Reihe alternativer Gravitationstheorien, wie die Fachleute das nennen. Diese Ansätze jenseits von Einstein erklären in der Tat einige Phänomene besser, als es Modelle mit Dunkler Materie können. Dafür scheitern sie oft an der Erklärung der großräumigen Struktur des Kosmos. Milgrom:
"Ich betone immer, dass wir noch fast ganz am Anfang stehen. Es gibt noch immer große Lücken in der Theorie. Wir müssen sie erweitern, um den Kosmos als Ganzes zu beschreiben. Ich hoffe, dass jetzt Leute aus anderen Bereichen und mit anderen technischen Fähigkeiten bei uns mitmachen und neue Ideen einbringen."
Die einst bestenfalls belächelten alternativen Gravitationstheorien werden inzwischen zumindest ernst genommen – und im Gegensatz zu früher finanzieren nun auch Forschungsorganisationen Projekte zur Verbesserung der MOND-Theorie. Michael Krämer blickt mit Freude und Spannung auf die die nächsten Jahre – denn der gegenwärtige relative Stillstand der Physik lässt sich nur mit einem großen Schritt nach vorn beenden: Entweder lassen sich doch noch Teilchen der Dunklen Materie aufspüren – oder es zeigt sich, dass die Gravitation tatsächlich anders wirkt als gedacht.
"Das wäre eine sehr, sehr spannende Form von neuer Physik, denn wenn diese Theorien der modifizierten Gravitation weiter ausgearbeitet werden, plausibel auch kosmologische Dinge erklären, dann wären die als Alternative zur Dunklen Materie auch attraktiv. Das hat dann indirekten Einfluss auf das, was wir untersuchen in der Teilchenphysik."
Risse im Weltmodell kitten
Doch so weit wollen es die meisten Astrophysiker nicht kommen lassen. Statt die alte Theorie aufzugeben und eine ganz neue zu entwickeln, mühen sie sich, die Risse im Weltmodell zu kitten. Einen Ausweg aus dem Hubble-Dilemma soll das "Modell X" weisen. Es verändert die Bedingungen kurz nach dem Urknall so, dass der vorhergesagte Wert für die Hubble-Konstante ansteigt, am besten in Bereiche von deutlich über 70.
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"Man muss das Universum nehmen, wie es ist": Bruno Leibundgut (ESO)
Aber auch da, berichtet Bruno Leibundgut, ginge es um bisher unbekannte physikalische Phänomene:
"Das wäre natürlich auch spannend, wenn Sie dann halt entweder ein steriles Neutrino hinzu nehmen müssen oder noch mal eine Komponente ins Universum dazu tun müssen oder frühe Dunkle Energie. Dann wäre also das Verhalten der Dunklen Energie anders. Klar, ist alles okay. Man muss das Universum nehmen, wie es ist."
Ob ein bisher unbekanntes Elementarteilchen am Werk ist, der frühe Kosmos voller sich verändernden Dunkler Energie war oder die Dunkle Materie doch mit anderen Teilchen wechselwirkt: Diese Ansätze reichen kaum aus, die Lücke zwischen dem vorhergesagten und beobachteten Hubble-Wert zu schließen. Die Konstante würde in den Modellen von 68 bestenfalls auf 70 steigen, aber nicht weiter, bedauern die Theoretiker. Die Beobachtungen, so sie sich auch künftig bestätigen, passen einfach nicht zur Theorie.
"Unheilige" Ehe von Quantenphysik und Relativitätstheorie
Daten kann man nicht ändern, Theorien aber schon. So könnten die Widersprüche bei der Hubble-Konstanten für einen großen Umbruch in der Kosmologie sorgen. Es wäre nicht der erste. Bei der letzten Sensation war Adam Riess direkt dabei, damals noch ein junger Nachwuchswissenschaftler:
"1998 haben zwei Forschergruppen herausgefunden, dass sich die Ausdehnung des Kosmos nicht – wie erwartet – in Folge der gegenseitigen Anziehung der Materie abbremst. Im Gegenteil: Das Universum beschleunigt, es dehnt sich immer schneller aus. Offenbar gibt es im Universum große Mengen einer abstoßenden Komponente. Das ist das, was wir heute Dunkle Energie nennen."
Die Teams wollten messen, wie sehr die Gravitation die Ausdehnung des Kosmos bremst. Tatsächlich aber fanden sie die völlig mysteriöse Dunkle Energie. Mit einem Mal bestand der Kosmos zu 70 Prozent aus etwas, das ihn immer schneller auseinandertreibt, von dessen Eigenschaften die Astronomen aber kaum eine Ahnung haben. Diese Dunkle Energie kommt noch zur ohnehin schon rätselhaften Dunklen Materie hinzu – und hat Adam Riess und zwei Mitstreitern den Physik-Nobelpreis eingebracht. Allerdings hat die Entdeckung einen Schönheitsfehler:
"Wir verstehen die Physik dahinter nicht. Warum beschleunigt das Universum? Da kommt es zu einer unheiligen Ehe von Quantenphysik und Relativitätstheorie. Demnach könnte es eine Vakuumenergie geben, die wie Gravitation wirkt, die aber nicht anzieht, sondern abstößt. Allerdings weicht die Vorhersage der Quantenfeldtheorie um 120 Größenordnungen von den Beobachtungen ab."
95 Prozent im Weltmodell bleiben ein Rätsel
Das entspricht einer 1 mit 120 Nullen. Um diesen Faktor unterscheidet sich der im All beobachtete Wert der Dunklen Energie vom vorhergesagten. Dies sei, höhnen Kritiker, die schlechteste Vorhersage aller Zeiten. Kosmologie absurd: Bei der Hubble-Konstanten ringen die Astronomen um eine Abweichung von neun Prozent. Bei der Dunklen Energie wird ein gigantischer Unterschied schulterzuckend hingenommen. Aber vielleicht hilft gerade die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Kosmos, etwas mehr über seinen Aufbau zu lernen. Womöglich sorgt die gute alte Hubble-Konstante für neuen Schwung bei Dunkler Materie und Dunkler Energie. Bruno Leibundgut:
"Es ist eigentlich anmaßend, dass man das Gefühl hat, man hat das ultimative kosmologische Modell gefunden."
Dirk Lorenzen: "Im Weltmodell sind 95 Prozent unklar. Das ist mathematisch wunderschön, aber physikalisch kann man nichts erklären oder fast nichts. 95 Prozent sind immer noch ein ganz, ganz großes Rätsel."
Bruno Leibundgut: "Okay, das war vor 20 Jahren nicht so. Das war vor 50 Jahren nicht so. Und wieso soll es jetzt der Fall sein?"
Dirk Lorenzen: "Das erinnert schon ein bisschen an die Zeit der Epizykel der Antike. Damals hat man eben diese Kreisbahnen gebraucht, um irgendwie die Bewegungen der Planeten zu erklären. Mit dieser grundfalschen Annahme: Die Erde muss ja im Zentrum der Welt stehen. Das war falsch. Und dann hat man irgendwann gemerkt: Die Sonne ist im Zentrum der Welt, da braucht man die Epizykel nicht."
Bruno Leibundgut: "Es wäre doch eigentlich auch enttäuschend, wenn wir sagen, wir haben das Universum verstanden."
Dirk Lorenzen: "Und vielleicht ist man jetzt allmählich da, dass man merkt. Mit diesen 95 Prozent unbekanntem Inhalt des Universums kommt man auch nicht wirklich weiter."
Bruno Leibundgut: "Insofern sind diese Probleme begeisternd. Das ist eine tolle Sache."
Dirk Lorenzen: "Vielleicht hat ja irgendwann auch mal einer die ganz große Idee und sagt: Nein, nein, so ist es gar nicht. Ihr müsst mal hier an das denken, und plötzlich löst es sich auf."
Hoffen auf die "andere, bessere Idee"
Adam Riess reißt die meisten Astronomen mit und animiert sie, den Konflikt bei der Hubble-Konstanten als Chance zu sehen, nicht als Problem oder Gefahr. Für ihn könnte die Kosmologie wieder kurz vor einer epochalen Wende stehen:
"Können wir diesen Messungen wirklich glauben, auch so ganz ohne Idee für eine theoretische Erklärung? In der Geschichte der Wissenschaft war viele Male offensichtlich, dass ein Modell gescheitert war oder dass man irgendetwas nicht verstanden hatte – einfach aufgrund sehr genauer Beobachtungen. So war das zum Beispiel bei der Präzession der Merkurbahn. Manchmal liefern die Messdaten einen Hinweis, aber es dauert eine Weile, bis wir schlau genug sind, ihn zu verstehen."
Jahrzehntelang grübelten die Forscher über eine minimale Abweichung der Bahn des innersten Planeten Merkur. Kaum ein Physiker oder Kosmologe nahm sich der Sache ernsthaft an – wer kümmert sich schon um einen kosmischen Krümel.
Dirk Lorenzen: "Ich hoffe, wir leben noch lang genug, dass wir zumindest diesen nächsten Schritt erleben. Das wäre schon großartig, wenn man sieht, was aus Dunkler Materie und Dunkler Energie wird."
Am Ende ließ sich der Lauf des kleinsten Planeten im Sonnensystem erst mit der Allgemeinen Relativitätstheorie verstehen. Das vermeintlich kleine Problem sorgte für einen der großen Umstürze in der Geschichte der Physik. Adam Riess:
"Wir müssen uns einfach die Fakten ansehen. Wenn unsere Theorien nicht stimmen, dann ist das eben so. Vielleicht ist das Universum cleverer als wir heute sind. Irgendwann kommt dann schon eine bessere Idee."