Meurer: Wie berechtigt sind Ihrer Meinung nach die Klagen der Ärzte?
Huber: Sie sind nicht berechtigt. Die kassenärztlichen Vereinigungen haben einen Sicherstellungsauftrag, der bezieht sich aber nicht auf die Verteilung von Geld und Einkünften sondern auf die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung und da gehört es zur ärztlichen Pflicht, diese auch möglichst preiswert zu machen, denn das Land braucht preiswerte Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger und dieser Pflicht des Sicherstellungsauftrages entzeiht sich die kassenärztliche Bundesvereinigung und die einzelnen ärztlichen Vereinigungen seit Jahren, von daher haben sie eigentlich keine Daseinsberechtigung mehr und die Politik gemeinsam mit den anderen verantwortlichen Akteure im Gesundheitswesen muss die Verhältnisse neu regeln.
Meurer: Das heißt, ich verstehe Sie recht, Sie fordern die Aufhebung der kassenärztlichen Vereinigungen?
Huber: Richtig. Sie sind aus meiner Sicht überflüssig. Wir leben in einer Zeit des Wandels und wir brauchen ein Gesundheitswesen, das seinen sozialen Verantwortlichkeiten gerecht wird. Gegenwärtig herrscht ein Gruppenegoismus, wo jeder Interessenvertreter gegen jeden anderen kämpft. Wir brauchen endlich eine gemeinsame Sicht der Dinge und das heißt, dass der Teil der Ärzteschaft, der reformfähig und -willig ist und ein Stück soziale Verantwortung mitbringt mit dem Teil der Krankenkassen, die eine gleiche Orientierung besitzen zusammen gehen muss; das System ist am Ende, moralisch korrupt, nicht mehr brauchbar und braucht eine Neuorientierung.
Meurer: Im Moment handeln die kassenärztlichen Vereinigungen die Honorare mit den Krankenkassen aus. Wie stellen Sie sich Ihr Modell vor?
Huber: Das Modell, das in einer modernen Gesellschaft das Gesundheitswesen auch als soziales Bindemittel nutzt, hat eine Pflichtversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger. Dann können die Menschen die Krankenkasse frei wählen, die Kassen sind verpflichtet, jeden aufzunehmen und wenn sie jemand wegen seines Krankheitsstatus diskriminieren, bekommen sie die Konzession entzogen. Das ist das grundsätzliche Strukturmodell: Pflichtversicherung für alle und Wahlmöglichkeiten dann für individuelle Luxusbedürfnisse. Die Pflichtversicherung deckt den Bedarf an gesundheitlicher Dienstleistung ab, also all die Dinge, die im Krankheitsfall sinnvoll, wirksam und nützlich sind, aber auch preiswert. Die Zusatzversicherung oder Selbstbezahlen deckt das ab, was individuelle Vorlieben sind, das Bedürfnis nach Wohlbefinden ist oftmals für den Einzelmenschen spezifisch.
Meurer: Da werden manche sagen: das läuft auf eine Zwei-Klassen-Medizin hinaus.
Huber: Nein, eben nicht. Wir müssen eine vernünftige Grenze zwischen Individuum und gesellschaftlicher Verantwortung finden und Gesundheit hat einen Kern, der für alle Menschen gleich ist und eine Ausfärbung, die für jeden individuell ist. Die Erektile Potenz als Beispiel kann nicht in einer solidarischen Krankenversicherung abgesichert werden denn ob erektile Potenz Inbegriff des individuellen Glücks ist, das entscheidet jedes Individuum für sich. Aber es spricht nichts dagegen, dass junge Männer mit 20 eine entsprechende Zusatzversicherung zu ihrer Krankenversicherung abschließen, wenn ihnen das wichtig ist und davon gibt es viele Beispiele. Anders ausgedrückt: immer dann, wenn selber aktiv werden von Menschen wirksamer ist als eine medizinische Intervention von außen, müssen die Menschen, wenn sie lieber die medizinische Krücke wollen, diese auch selber bezahlen.
Meurer: Wir unterhalten uns jetzt über die Versicherungsseite. Reden wir noch mal kurz über die Ärzte. Wenn nicht mehr die kassenärztlichen Vereinigungen die Honorare aushandeln sondern einzelne Ärzte, werden die Honorare dann niedriger werden?
Huber: Nein. Es geht ja heute darum, dass wir ein Honorarsystem haben, das die Ärzte mit ihren Leistungen zerstört. Diese so genannte Einzelleistungsvergütung zwingt die Ärzte, um zu einem vernünftigen Einkommen zu kommen, zu immer mehr medizinischen Veranlassungen. Ich empfehle ein Zeithonorar für die medizinische Grundversorgung, hundert Euro die Stunde, und ein ärztliches Einkommen in der Größenordnung von 100.000 bis 150.000 Euro vor Steuer. Das Geld ist da. Der Verteilungsmodus ist nicht mehr brauchbar, er zerstört die ärztliche Arbeit und Leistung und das zu ändern wäre Aufgabe der kassenärztlichen Vereinigungen, das machen sie aber nicht. Deswegen brauchen wir direkte Verträge zwischen Krankenkassen und Ärzten, die bereit sind, in sozialer Verantwortung eine möglichst gute Arbeit zu machen und dafür bekommen sie natürlich ein auskömmliches und vernünftiges Honorar.
Meurer: Wie viele Ärzte denken so wie Sie und sind unzufrieden mit den kassenärztlichen Vereinigungen?
Huber: Ein Drittel der Ärzte denkt so wie ich, ein Drittel ist verängstigt und unsicher und ein Drittel nützt nach wie vor sehr zynisch und schamlos das bestehende System aus und hat relativ hohe Einkünfte, teilweise in Größenordnungen, die nicht akzeptabel sind. Denn ein soziales Gesundheitswesen kann nicht die Fläche sein, wo individuelle Bereicherung stattfinden darf.
Meurer: Glauben Sie, es wird Ärzte geben, die den Dienst nach Vorschrift so auslegen, dass sie jetzt ihre Praxis zumachen und behaupten, sie gehen eben in Urlaub?
Huber: Solche Ärzte wird es geben. Die kassenärztliche Vereinigung hetzt die Kolleginnen und Kollegen auch auf, es wird Stimmung gemacht, es werden Ängste geschürt. Der einzelne Arzt ist diesem System hilflos ausgeliefert ebenso wie der einzelne Patient. Und Angst macht natürlich auch Aggressionen und in dieser Stimmungslage ist die Ärzteschaft. Große Teile der Funktionärseliten haben den Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit längst verloren und haben eine Kunstwelt produziert. Es wird einige Zeit dauern und ich bin sicher, dass ein Teil der Ärzte diese Spielchen alle nicht mitmacht und den Versuchen mit Krankenkassen, die kooperationswillig sind, aufnimmt, eine vernünftige und bessere Versorgung zu errichten. Es gibt reformfähige Krankenkassen und Ärzte, wir brauchen von der Politik mehr Unterstützung. Das ist der Fehler von Frau Schmidt, dass die Reformkräfte im Gesundheitswesen zu wenig Unterstützung bekommen und an vielen Punkten die Sozialdemokraten nicht mutig genug sind, bei der Neuorientierung und Neustrukturierung des Gesundheitswesens.
Meurer: Das war Ellis Huber, ehedem Präsident der Berliner Ärztekammer, jetzt Vorstand der Betriebskrankenkasse Securvita BKK. Herr Huber, ich bedanke mich für das Gespräch und auf Wiederhören.
Huber: Ich danke auch.
Link: Interview als RealAudio