Dienstag, 14. Mai 2024

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Hundert Jahre 1770 - 1870

Zeit zu lesen! Gerade hat die letzte Buchmesse wieder einmal die bange Frage gestellt, ob die Tonnen neu produzierter Bücher überhaupt noch von jemandem konsumiert werden, wo doch heute jedermann zappend vor dem Fernsehapparat seine Zeit verbringt. Und gelten nicht überhaupt für das, was die Printmedien heute produzieren, die Worte Rilkes, daß die Zeit, da man wirklich erzählt habe, vorbei sei?

Michael Wetzel | 08.04.1999
    Vor hundert Jahren jedenfalls wußte man noch zu erzählen, wie Heinrich Albert Oppermanns Werk von 1871 "Hundert Jahre 1770-1870, Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen" beweist. Auf rund 3000 Seiten wird erzählt, und wie! Man wird förmlich hineingesogen in die Geschichten, die im niedersächsischen Heustedt beginnen - das in Wirklichkeit Hoya an der Weser, zwischen Hameln und Bremen sein soll - und in Amerika enden - so weit jedenfalls der gespannte Bogen einer wirklich spannenden hundertjährigen Chronik.

    Oppermann, dessen Vita man vergeblich in Lexika oder Literaturgeschichten sucht, erzählt in neun Büchern - verteilt auf drei Bände - die eine große Geschichte der beginnenden modernen Gesellschaft: Wie sich das Bürgertum aus den Fängen feudalistischer Vorurteile und Standesdünkel befreite. Am Anfang steht eine Entdeckung des Autors, der zwischen alten Akten den Brief einer gewissen Olga, genannt Gräfin von Schlottheim, geborene Wildhausen, vom Dezember 1792 findet. Die darin geäußerte Bitte, die unrechtmäßig geschlossene Ehe mit dem ungeliebten Grafen Schlottheim zu lösen, wird am Rande des Briefes nur lapidar kommentiert: "Wahr, zu bedauern, aber nicht zu helfen", und in einem beiliegenden Antwortschreiben wird der Absenderin die juristische Vergeblichkeit ihres Anliegens verdeutlicht.

    Der Autor versucht Erkundigungen über die 100 Jahre zurückliegenden Ereignisse einzuholen: Die Gräfin Olga soll ihrem Manne in Neapel entflohen, von Korsaren geraubt worden sein, und habe dann in Amerika ihren Jugendgeliebten geheiratet. "Das wäre ein Romanstoff", schießt es dem Autor durch den Kopf, und nachdem er bei einem Kururlaub in Marienbad weiteres Material sammeln konnte und auch das Wetter schlechter wurde, macht er sich ans Schreiben: In der Geschichte einzelner, durch zwei bis drei Generation hindurch verfolgter Familienschicksale will er den "Charakter des Zeitalters" im allgemeinen zeichnen.

    Wer aber war dieser Heinrich Albert Oppermann überhaupt? Ein unbedeutender Advokat des damaligen Königreichs Hannover, für das er vergeblich als Deputierter der Frankfurter Nationalversammlung 1848 kanditierte. Ohne sich zum radikalen Flügel der Republikaner zu bekennen, war er ein Kämpfer für die Unterdrückten, dem die Leiden all derjenigen am Herzen lagen, die für Freiheit und Recht auf politischem, wirtschaftlichem und religiösen Gebiete gelitten hatten. Wahrscheinlich wüßten wir nichts von ihm und hätten vor allem nicht seinen Roman in so wohlfeiler und prächtig gestalteter Ausgabe wieder zur Hand, wenn nicht Arno Schmidt ihm 1959 eine längere Rundfunksendung gewidmet hätte, in der er die "Hundert Jahre" als seltenes deutsches Beispiel des "Politischen Romans" feierte. Arno Schmidt erkannte den eigentlichen Wert des Romans, nämlich das Tableau eines Zeitalters als Geschichte von unten, als Schilderung des Schicksals der Unterdrückten, der Verlierer zu entwerfen. Denn darin liegt die Kunst Heinrich Albert Oppermanns: die Nöte und Ängste, die Hoffnungen und Handlungen der in den offiziellen Archiven Vergessenen wieder lebendig werden zu lassen. So erleben wir die großen Ereignisse der Zeit mit, unter anderem die französische Revolution, die napoleonischen Kriege, die politische Restauration, die industrielle Evolution in Deutschland und in Amerika, die Revolution von 1848, den amerikanischen Sezessionskrieg und die Vorbereitung der deutschen Reichsgründung aus neuer, ungewohnter Perspektive: nämlich aus dem Blickwinkel der Betroffenen.

    Marquez' vielgerühmter Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" hat also einen würdigen deutschen Vorgänger: Denn auch hier wird ein Jahrhundertprozeß politischen und technischen Fortschritts der medialen und industriellen Emanzipation des Bürgertums an den individuellen Spuren abgelesen, die in den Familienchroniken der kleinen Gemeinde Heustadt überlebten. Man kann natürlich die sprachliche Unoriginalität des Buches und die kompositorischen Mängel bekritteln. Hier schreibt natürlich kein Baumeister der poetischen Form die Literaturgeschichte weiter, hier wird durch Geschichten Geschichte eher montiert: also durch eine uns Heutigen, durch Kino Sozialisierten ja vertraute Form. Und in dieser Hinsicht weiß er seinen Buchstaben eine Kraft zu verleihen, die heute mehr den audiovisuellen Unterhaltungsmedien zukommt: nämlich Droge zu sein, deren Genuß allerdings ohne Reue ist.

    Natürlich schwankt die plastische Kraft des Erzählerischen bei einem solchen Großprojekt, ist dort am lebendigsten, wo der Autor von den vertrauten Verhältnissen seiner niedersächsischen Heimat berichtet, und wird mehr kolportagehaft, wenn er bei der Schilderung anderer Schauplätze auf fremde Quellen angewiesen ist. Die Begegnung der Romanfiguren mit historischen Berühmtheiten wirkt oft gewollt und künstlich. Daß der Roman damit zugleich über die Welt der hundert Jahre zwischen 1770 und 1870 ein Verwandtschaftsnetz legt, das kernhaft von den Familienstrukturen des Provinznestes an der Weser ausgeht, liest sich aber wie der Versuch einer Komplexitätsreduktion im Zeitalter der beginnenden Globalisierung. Wir kennen jedoch diesen Effekt der Erzeugung von Heimeligkeit im Unheimlichen der alltäglichen Entfremdung heute als das Prinzip von Fernsehserien wie Lindenstraße. Auch dort werden ganz banale, alltägliche Lebensläufe zum Paradefall zeittypischer Ängste und Katastrophen. Mag für die Lindenstraße die Echtheit aber im Sinne der eingebauten aktuellen Nachrichten und spektakulären Tagesereignissen die Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit steigern, so gerät Oppermanns "Politischer Roman" damit an seine ästhetischen Grenzen. Denn, was wirklich geschehen ist, zu schildern, soll man - laut Aristoteles - besser den Historikern überlassen. Vom Dichter erwartet man dagegen das Ausmalen dessen, was möglich gewesen wäre.

    Oppermanns Roman antwortet auf diesen Anspruch mit seiner großangelegten Schlußperspektive, die das von den Vereinigten Staaten von Amerika "neueröffnete Verkehrsgebiet, telegraphisch mit Europa an mehreren Punkten verknüpft", als zukünftiges Reich der Freiheit und des Friedens feiert. Uns bleibt, diese Fiktion mit den Fakten des historisch gewordenen Traums von der amerikanischen Weltherrschaft zu vergleichen. Und in dieser Hinsicht verdienen die "Hundert Jahre" mehr als eine Lektüre - nicht nur an langen Winterabenden.