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Hurrah, hurrah, die Schule brennt

Probleme über Probleme. Schlimmer als an dieser Schule, der Branstone Highschool in den USA, können die Pubertätstragödien nicht werden. Kitty ist magersüchtig, Tram ist ein vietnamesischer Immigrant ohne Freunde, Allison wird von ihrem Stiefvater missbraucht, und schließlich Boyd: Er legt allmählich im Keller seiner Wohnung ein ganzes Waffenarsenal an. Denn eines Tages, dem Tag X, wird er die Schule in die Luft sprengen. Die Zeit läuft.

Nicole Strecker | 13.12.2003
    Dann verlangt sie, wir sollen aufschreiben, wie wir uns den Himmel vorstellen.
    Kinderleicht – billiges Benzin und ein Pontiac Firebird und alle sind weiß und keine Regeln und guten Stoff und keine Eltern, außer sie bleiben länger als Scheiß zehn Minuten zusammen, und keine Schule, überhaupt keine, und überall geile große Fernseher plus coole Orte draußen in der Natur und so'n Scheiß.


    15 Heranwachsende, 15 Probleme – Hätte Ron Koertges wirklich einen Roman geschrieben, er wäre mit der Vielzahl von Jugendnöten wohl zur endlosen Klischeeserie geraten. Aber Koertges Buch ist kein Roman. Handlung gibt es nur partikelweise und der Autor wird zum Gott mit dem Finger auf der Fernbedienung: Wie durch Fernsehkanäle zappt sich Koertge durch die Gehirne seiner Figuren und läßt jeweils in wenigen Sätzen die Minidramen ihrer Lebenswelten aufblitzen. Sätze in Ich-Form, als seien es Tagebucheinträge oder Interview-O-Töne, aber arrangiert in freien Versen. Gedankensplitter, in denen die Figuren über die Situation in der Schule, zwischen Freunden oder mit den Eltern reflektieren. In denen sie Dialoge wiedergeben, oder aus ihren Erfahrungen ihre höchst subjektiven und verschwurbelten Lebensweisheiten ziehen.

    Joseph: Dad legt die Kassette mit Walgesängen ein, während Mom das Linsenbrot formt. Dann sprechen wir lange über Komposthaufen.
    Kitty: Ich werde ganz dünn und schwebe. Hebe ab. Mir gefällt, wie die Vögel ihr Zuhause verlassen. Sie fliegen einfach los.
    Damon: Mann, wenn ich da in der Mitte der Turnhalle stehe, im Trikot, mit meinen Kumpels. Das ist das Größte!
    Meredith: Ein verheirateter Typ, dessen Frau ihn nicht mehr küßt, ihm nur diese kleinen Elternabend-Pfefferminzkaugummi-wie-war's-denn-heute-schlaf-schön-Küsschen verpaßt, also der wird küssen: Mundwinkel, volle Unterlippe, sanft wie eine Engelswimper, werbende Küsse: die besten.
    Joseph: Was habe ich neulich bloß bei Boyd gewollt? Wer wollte ich sein, Waldhüter mit Knarre?


    Von sehr unterschiedlicher Qualität sind die jeweils kaum mehr als eine Seite füllenden Texte, und es ist faszinierend, wie es Koertge gelingt, mit seinen suggestiven Sätzen ganze Lebenswelten und Biografien zu vermitteln. Die Kürze ist sein Mittel der Stilisierung, denn in der Verdichtung verlieren die sprachlich so authentisch klingenden Statements an Realismus und ergeben eine kunstvolle Stimmen-Montage. Und nicht zuletzt: In der Kürze vermittelt sich auch die subtile Ironie des Autors. Denn Koertge gelingt es, in den Selbstoffenbarungen der Schüler zugleich ihre Irrtümer für den Leser sichtbar zu machen. Der Autor reiht etwa völlig unterschiedliche Einschätzungen derselben Situation aneinander, oder er läßt einen Jugendlichen immer neu gefundene und widersprüchliche Erkenntnisse jeweils als Absolutum formulieren. So zeigt Koertges ohne jeden Erzählerkommentar Jugendliche auf der Suche nach Halt und Wahrheit, nach richtigem und falschem Verhalten.

    Gestern in der Turnhalle hat mich Boyd angehauen. Ich soll Mitglied in so einer Art Bruderschaft werden. Drei Mal hat er versucht Apocalypse auszusprechen, dann hat er's aufgegeben und gesagt, dass was Schlimmes passieren würde und auf welcher Seite ich dann stehen wollte?

    Nicht auf Sentiment, sondern auf Sachlichkeit zielt Koertge, und vom Verlag wird sein Buch vor allem als Diskussionsgrundlage für den Schulunterricht beworben. Koertges Figuren berühren nicht, sie bleiben Problemträger in einem Gedankenexperiment, Typen in einem Schulporträt. Doch die latente Gewalt in ihren Aussagen und die Formulierungen im Präsens heizen Tempo und Dramatik enorm an. Und gerade weil die Jugendlichen ständig nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind und sich nicht um andere kümmern, konzentriert sich für den Leser letztlich alles auf eine Frage: Wird es am Ende tatsächlich zur Eskalation, zum Bombenattentat kommen oder wird einer der Schüler doch noch wach? Boyds Killer-Liste mit all den potentiellen Opfern jedenfalls, wächst mit jedem Tag.

    Ron Koertge: Der Tag X. Die Zeit läuft
    dtv junior 2003, 140 S., EUR 5,50