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Ibsen, mit Fukushima gelesen

Ibsens Drama "Ein Volksfeind" enthält Sätze wie Zunder: "Die Mehrheit hat die Macht - leider -; aber das Recht hat sie nicht." Natürlich goutiert es die Mehrheit nicht, wenn man ihr solche Sätze entgegenschleudert. So steht Ibsens Hauptperson Thomas Stockmann da als Volksfeind - obwohl er dem Volk nur eines zumuten will - nämlich die Wahrheit.

Von Michael Laages | 03.06.2011
    Im Zentrum der Schlacht sagt Thomas Stockmann sich los von der Welt, wie sie ist - Schritt für Schritt verliert er den Kampf um "die Wahrheit", Zug um Zug schiebt ihn die Stadt, um deren Zukunft er streitet, aufs Abstellgleis. Er, der Einzelne, hat keine Chance gegen die Tricks und Fallenstellereien der politischen Mehrheit - da wird er (mit Schiller) grundsätzlich: Der Starke ist am mächtigsten allein, sagt er, kündigt der Gemeinschaft der politischen Kompromissler das Einverständnis auf und fordert in der himmelsstürmerischen Schluss-Apotheose das Recht des Einzelnen gegen das Ganze ein. Er kennt die Wahrheit, alle anderen verdrängen und verstecken sie - darum, und als selbst ernannter der Teil der Elite, rassisch wie intellektuell, verkündet er die neue Zeit. Er wird sie nicht mehr erleben.

    Jede neue "Volksfeind"-Aufführung steht und fällt mit der Haltung, die sie der finalen Konsensaufkündigung gegenüber einnimmt. Denn die ist fundamental - er, der Einzelne (sagt das Stück), ist im Recht, fundamental straft ihn die Gesellschaft für "die Wahrheit": das Heilbad, wichtigste Einkommensquelle der Stadt, wird (wie Stockmann herausgefunden hat) mit vergiftetem Wasser gespeist; es müsste abgerissen und neu gebaut werden. Das kann die Stadt sich nicht leisten, das will kein Bürger mit Steuergeld bezahlen - da wird lieber weiter die Kundschaft vergiftet und der Wahr-Sager Stockmann zum "Volksfeind" gestempelt.

    Unübersehbar waren, sind und bleiben die offensichtlichen dramaturgischen Macken des Stücks, das überkonstruiert ist und nur in Maßen plausibel - Robert Schusters aktuelle Fassung für das Theater Bremen lässt die Defizite aber vergessen mit Hilfe einer ausgefuchsten Rahmen-Story, die das etwas klapprige Drama auf höhere Ebenen des philosophischen Diskurses empor katapultiert. Dieser Bremer "Volksfeind" wird zur überaus intelligent renovierten Polit-Polemik.

    Zunächst dreht Schuster den Zeitpfeil um - wir erleben die rituellen "Stockmann-Festspiele", mit denen sich die Nachgeborenen späterer Generationen des großen Fundamentalisten und dessen entscheidender Erkenntnisse und Wegweisungen erinnern; sie alle, die sich da im antiken Theaterhalbrund von Sascha Gross wie in der Wellness-Oase einfinden, sind "Erleuchtete", ihre Gesellschaft neuen Typs ist auferstanden aus den Ruine der Schlachten, die das untergehende Europa Mitte des laufenden Jahrhunderts gegen den stärkeren Rest der Welt verlor; überall in der Welt, und sei es am Kongo. Stockmanns drei Kinder sind Ehrengäste der Festspiele im Namen des Urahns, dessen fundamentale Regeln über Wahrheit und Recht nun gelten in der bewohnten Welt; vorgeführt wird die Erinnerung an eine politisch-moralische Auseinandersetzung von vorvorvorgestern. Da stimmen zwar nun nicht unbedingt alle Jahreszahlen und Generationenfolgen, aber Schuster umkurvt so sehr geschickt alle quälenden Fragen zur Aktualität des Stückes. Es war einmal, sagt das Festspiel-Märchen, und der Weg führt zurück in die Zukunft.

    Die Alten schauen überwiegend zu, wie die Jungen den Urahn rühmen, in dem sie seine Geschichte spielen; sie sind auch ein wenig die Spielmacher der schnell erzählten Story, stoppen das Spiel und läuten Szenen ein. So schnell lässt Schuster erzählen, dass dazwischen sogar noch Zeit bleibt für "Hymnen", mit Platon-Texten über Herrschaft und Recht, das Glück und die Macht der Musik. Und wenn "der, der den Badearzt Stockmann spielt" (so distanziert steht es im Programmheft) schlussendlich das Einverständnis aufkündigt, nicht mehr mitmachen will, brüllt er auch gleich diese ganze platonisch durchwirkte Zukunft über den Haufen. Drei große "Nein" setzt der Welt entgegen - und wer verstünde nicht den Impuls, zwischen Athen und Madrid, Kairo, Tunis und Paris.

    Zuweilen ist Schusters Konstrukt so klug berechnet, dass es sich selbst ein Bein stellt - der Grundidee von der Farce aus uralten Zeiten folgend, steht dem guten, wahren, mutigen und bis zur Weltfremdheit naiven Arzt ein städtisches Lemuren- und Karikaturen-Kabinett gegenüber: Bürgermeister, Journalist und Redakteurin, der brave Bürger an sich und selbst Stockmanns Frau sind extrem schrill gestylt - Zerrbilder der wüstesten Sorte. Das macht sie zwar sehr komisch, doch fehlt dem braven Badearzt Parsifal so leider jeder gedankliche Gegner auf Augenhöhe. Hier verliert die ansonsten so klug komponierte und konstruierte Aufführung eine Dimension, die Stück und Story womöglich stärken könnte.

    Abgesehen davon aber schlagen Schusters Team und das Personal das Bremer Publikum zwei pausenlose Stunden lang in Bann - und es tut gut, im Programmheft Erwin Piscators Plädoyer für politisches Theater heute zu lesen. Das ist nicht von gestern. Das ist ganz neu. Noch eine Spielzeit dauert am Bremer Theater die provisorische Intendanz eines Leitungsgremiums - mit Aufführungen wie dieser meldet sich das Schauspiel zurück im Kreis der wichtigen deutschen Theater.