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ibug-Festival in Sachsen
Urbane Kunsträume auf Zeit

Die sächsische Provinz - ein kunst- und ideenfreier Raum? Mitnichten, wie das Urban-Art-Festival ibug in Reichenbach beweist. "Erst wenn man groß denkt, kann man selber große Sachen schaffen", sagen die Künstlerinnen und Künstler. Doch der Blick auf die kommende Sachsenwahl trübt ihre Perspektive.

Von Heike Schwarzer | 30.08.2019
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Freiräume für Kunst, Begegnungen und Austausch bietet das Ibug-Festival, das dieses Mal in Reichenbach im Vogtland stattfindet ((Fotografin Heike Schwarzer))
Ein Hauch von Silberfäden fließt wie feiner Regen zwischen den Backsteinmauern eines zerstörten Schuppens entlang, der einst Unterstand für Eisenbahnlocks war. Dieser riesige, durchlässige Vorhang von Fabian Schmidt verbindet Himmel und Erde und hüllt die immense Brache dahinter in Feenlicht.
"Kann mir jemand sagen, woran Euch das erinnert?", fragt ibug-Guide Alisa eine Klasse von 12- bis 15-Jährigen.
"Genau. Das ist ein großer Webrahmen. Hier wurde auch schon angefangen zu weben."
Und die Symbolik hinter diesem großen Webstuhl ist ein bisschen auch stellvertretend für den Geist der ibug. So wird der Betrachter angeregt, mit anzupacken, mitzuschaffen, um damit etwas Neues entstehen zu lassen, wo vorher nichts war.
"Also dieses Jahr auf dem riesigen Areal des Bahnbetriebswerks in Reichenbach haben wir riesige Schutthaufen vorgefunden." Festivalleiter Thomas Dietze gehört seit 14 Jahren zum ibug-Team. "Wir hatten das große Glück, dass uns die Stadt Reichenbach unterstützt hat, da konnten wir mit Kettenfahrzeugen hier durch und überhaupt erstmal Wege anlegen, mit Eisenbahnschwellen, das sind die Sachen, die hier liegen geblieben sind, nachdem das Metall geplündert wurde. Und die Künstler, die finden dann immer mehr kleine Details. Es gibt unheimlich viele Schrauben, die hier noch liegen, mit denen die Gleise früher festgemacht waren, damit haben manche gearbeitet."
Schönheit, Farbe und Leichtigkeit an zerstörten Orten
Oder mit Farbresten, die in vielen Wellen von einer großen Wand abbrechen, sich jeden Tag verändern. In Blickweite zum Webstuhl türmen sich - wie nach einem Orkan - zerbrochene Holzlatten 'gen Himmel, eingewickelt von einer Riesenkette aus bunten Webspulen. Eine spektakuläre Installation einer Künstlergemeinschaft mit dem Namen "Freizeitgruppe Gestaltung". Faszinierend auch, weil sie Schönheit, Farbe und Leichtigkeit an diesen zerstörten Ort bringt. Und irritiert.
"Und niemand versteht, wie es hält", sagt Rahel vom ibug-Team, "das sind so Konstruktionsfragen, die ganz spannend sind". Und weil es zweifellos auch passend für die Biennale in Venedig wäre. Doch nun steht sie im Vogtland, auf einem Areal fast 15 Fußballfelder groß und zu 70 Prozent zerstört: das Bahnbetriebswerk Reichenbach – so viel Platz gab es noch nie in 14 Jahren ibug.
Thomas Dietze: "Ich muss nur ganz kurz durchatmen."
Freiräume für Begegnung und Austausch
100 Künstlerinnen und Künstler aus 20 Ländern und mehr als 50 ehrenamtliche Helfer haben in der vermeintlich abgehängten westsächsischen Provinz mit dem ibug-Festival für urbane Kunst, neue Freiräume geschaffen: Freiräume für Begegnungen und Austausch, für die alten Erinnerungen der Bahnarbeiter, die auf dem Gelände einmal wirkten und manchmal für neue Zuversicht. Klaus aus Plauen, Architekt im Ruhestand, Künstler und Unterstützer der ibug:
"Ich hab' 40 Jahre, mein Leben lang, gedacht, ich bin der einzige Blöde hier, ich fühl' mich nicht wohl in der Gesellschaft. Die ibug-Familie ist eine ganz andere Gesellschaft, die ich mir vorstellen könnte als Modell - für alle."
Allein in den ersten Festival-Tagen kamen rund 5000 Besucherinnen und Besucher jeden Alters. Und das in Reichenbach, einer große Kreisstadt mit 22.000 Einwohnern, die näher an Tschechien liegt als an Chemnitz oder Hof. Ursprünglich ist das ibug-Festival in einer Kleinstadt entstanden und gewachsen, nämlich in Meerane, wo Streetartkünstler Tasso lebt, er arbeitet weltweit.
Sich nicht klein machen
Thomas Dietze: "Es hat damals Tasso, der das Projekt aus der Taufe gehoben hat, auch schon immer gesagt: Die Provinz macht sich selber zur Provinz, indem sie sich nicht getrauen, große Sachen zu schaffen. Erst wenn man groß denkt, kann man selber große Sachen schaffen."
Nach Stationen in Chemnitz, Zwickau oder Limbach-Oberfrohna laufen jetzt schon die Pläne für die kommenden Jahre. Auch deshalb ist es den ibug-Machern nicht egal, wie Sachsen am Sonntag wählt:
"Wenn es jetzt am Wochenende bei den Wahlen dazu kommt, dass die AfD wirklich genug Sitze im Landtag bekommt, ist es echt so, dass unheimlich viel der Kunst mit auf der Kippe steht, und vor allem gerade so eine neue und moderne Kunst wie wir sie hier auf dem Festival betreiben."