Sonntag, 28. April 2024

Archiv


"Ich bin vom Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht sehr überzeugt"

Ein separater Stabilitätsvertrag der 17 Eurogruppenländer unter möglicher Beteiligung sechs weiterer: EU-Kommissar Günther Oettinger hält das für die "zweitbeste" Lösung. Er befürchtet ein Auseinanderdriften der Europäischen Union.

Günther Oettinger im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.12.2011
    Christoph Heinemann: Am Telefon ist Günther Oettinger, Mitglied der Europäischen Kommission, dort Ressortchef für Energie. Guten Morgen.

    Günther Oettinger: Guten Morgen.

    Heinemann: Herr Oettinger, ist das jetzt der große Wurf?

    Oettinger: Es ist ein wichtiger Schritt in einem Prozess, der mit Sicherheit noch einige Jahre dauern wird, aber wir haben jetzt die Chance, mit diesen Maßnahmen zum einen die Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten deutlich zu verbessern, zum zweiten auch die Kooperation zwischen den Euro-Ländern zu verstärken, und drittens genügend zu helfen. Ich glaube, es ist eine gute zweitbeste Lösung.

    Heinemann: Zweitbeste?

    Oettinger: Ja.

    Heinemann: Inwiefern?

    Oettinger: Ich bin vom Europa der zwei Geschwindigkeiten nicht sehr überzeugt. Natürlich haben wir den Euro in 17 Mitgliedsstaaten, aber nahezu alle weiteren wollen eigentlich in die Euro-Zone, und jetzt laufen wir Gefahr, dass ein Teil der Mitgliedsstaaten sich bei vielen Fragen der Haushalts- und Stabilitätspolitik, auch der Wirtschaftspolitik entfernt vom Geleitzug der Mehrzahl. Das heißt, wir müssen jetzt dringend aufpassen, dass nicht das Europa der zwei Geschwindigkeiten zu einer Gefahr der Entfernung der Länder wird. Insoweit die zweitbeste Lösung, aber eine notwendige Lösung, nachdem die Vertragsänderung mit Großbritannien und auch wohl Ungarn und Schweden nicht zu machen war.

    Heinemann: Diese zwei Geschwindigkeiten, ist das nicht gerade die große Chance für die Zukunft?

    Oettinger: Es gibt immer einmal eine Entwicklung, dass einige Länder vorangehen. Aber Europa hat in der Vergangenheit es immer geschafft, die anderen wieder an Bord zu holen und den Prozess praktisch für alle verbindlich zu machen – denken Sie an Schengen, oder denken Sie an die Tatsache, dass in die Euro-Zone schon weitere Länder gekommen sind und weitere Länder kommen wollen. Polen will im Laufe der nächsten Jahre Euro-Mitglied werden. Das heißt, es muss immer das Ziel sein, am Ende alle an Bord zu haben und die Regeln der Europäischen Union in der gesamten Europäischen Union verbindlich zu erklären.

    Heinemann: Herr Oettinger, noch mal zurück zu den Beschlüssen. Was passiert, wenn der Finanzmarkt nicht mitspielt?

    Oettinger: Wir haben jetzt die Chance, die Finanzmärkte zu überzeugen, dass alle Länder ihre Staatsanleihen bedienen können. Nehmen Sie Italien, nehmen Sie auch Spanien oder nehmen Sie Portugal; alle drei Länder leisten mit neuen Regierungen Erstaunliches bei der Haushaltskonsolidierung. Namentlich Monti bringt Glaubwürdigkeit nach Rom zurück. Und wenn parallel der EFSF und der ESM ausreichend handlungsfähig sind und auch helfen können, und wenn sogar noch der IWF aus den Mitteln seines Fonds, aber auch mit den Maßnahmen, Haushaltskontrollen durchzuführen, tätig wird, dann traue ich diesem Mechanismus aus Hilfe und aus Kontrolle zu, dass er die Märkte von der Glaubwürdigkeit von Staatsanleihen überzeugt und dann zu fairen Konditionen auch die Finanzierung der Staaten möglich wird.

    Heinemann: Stichwort "Finanzierung der Staaten". Die Deutschen sind ja einigermaßen stolz darauf, dass sie den Franzosen die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank noch einmal abgerungen haben. Wir haben vor einer halben Stunde ein Interview mit dem früheren französischen Außenminister Hubert Védrine gesendet, und der hat eine ganz andere Lesart dieser Unabhängigkeit gehabt. Er hat gesagt, Deutschland kann jetzt nicht mehr verhindern, dass die Europäische Zentralbank zum Beispiel weiterhin Staatsanleihen aufkauft.

    Oettinger: Beides stimmt. Die Zentralbank ist und bleibt unabhängig, so wie es das europäische Recht vorsieht. Was sie in ihrer Unabhängigkeit macht, zu allererst natürlich die Inflationsgefahr zu vermeiden, Stabilität des Geldes zu erreichen. Aber was sie dann ansonsten macht, nämlich auf Zeit Staatsanleihen zu kaufen, entweder von den Sekundärmärkten, oder auch von den Staaten selbst, wie lang sie dies macht, in welcher Höhe sie es macht, war und bleibt damit Sache der EZB-Gremien. Das heißt, vor allem des Präsidenten und dann der sie tragenden nationalen Banken. Da hat Deutschland mit der Deutschen Bundesbank ein starkes Gewicht, mit Weidmann einen glänzenden Mann, Herr Asmussen kommt hinzu. Aber wir müssen hier sehen, dass es keine deutsche Mehrheit gibt, sondern dass hier die Mehrheit entscheidet und Deutschland Argumente einbringt, aber nichts alleine bestimmt.

    Heinemann: Droht Inflation?

    Oettinger: Ich glaube nicht, dass aktuell eine Inflation droht. Ich glaube, dass die zwei bis maximal zweieinhalb Prozent Geldentwertung haltbar sind. Aber mittelfristig ist die Gefahr da, dass die Entwicklung der Staatsanleihen zu einer höheren Inflation weltweit führt. Das gilt aber auch für die USA oder für Japan.

    Heinemann: Herr Oettinger, Sie haben Eurobonds nicht grundsätzlich ausgeschlossen, also gemeinsame Anleihen der EU-Länder. Werden sich die Deutschen an den Gedanken gewöhnen müssen, dass sie den Partnerländern im Süden künftig stärker unter die Arme greifen werden müssen?

    Oettinger: Es geht ja nicht nur um den Süden. Irland liegt derweil im Norden oder Nordwesten.

    Heinemann: Aber die sind schon relativ weit fortgeschritten.

    Oettinger: Aber brauchen noch auf Zeit die Solidarität auch Deutschlands. – Ich glaube, dass wir zu allererst den Mitgliedsstaaten Disziplin für die eigenen Haushalte verdeutlichen müssen. Jeder ist für seinen Haushalt verantwortlich. Aber es kann schon Entwicklungen geben, dass auf Zeit auch die Solidarität gefragt ist. Ob dies dann über den EFSF, oder ESM geschieht, oder über den IWF geschieht, oder über die EZB geschieht, oder über Eurobonds mit ganz klaren Regeln, halte ich für sekundär. Und deswegen: im Augenblick geht es nicht um Eurobonds, aber ich schließe mittelfristig und als Schlussbaustein dieser hoffentlich erfolgreichen Konsolidierung Europas auch Eurobonds nicht aus.

    Heinemann: Glauben Sie, dass die Kanzlerin das auch so sieht?

    Oettinger: Das weiß ich nicht. Ich habe sie heute Morgen noch nicht gefragt. Sie hat natürlich die Interessen Deutschlands zu wahren, ihr Amtsbereich ist Deutschland, und ich bin in Europa sicher auch um die deutschen Interessen bemüht, aber bin letztendlich Teil der Kommission und muss deswegen akzeptieren, dass in Europa eben 27 mitreden und Deutschland eine Stimme hat, aber nicht alleine entscheidet.

    Heinemann: Vertragsänderungen – das sagte eben auch in dem Interview Hubert Védrine, der frühere französische Außenminister von den Sozialisten -, das wäre Unsinn gewesen, das hätte viel, viel, viel zu lange gedauert. War es richtig, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf einer Vertragsänderung bestanden haben? Jetzt spricht man ja von einem Scheitern.

    Oettinger: Das wäre der beste Weg gewesen. Warum? – Wenn die klaren Regeln für die Haushaltssanierung und wenn die Mechanismen danach, wenn jemand verstößt, die Sanktionen oder die Automatik, die Kompetenz der Kommission, der Europäische Gerichtshof, all dies im Primärrecht, also im europäischen Verfassungsrecht gestanden hätte, dann wäre es unumkehrbar gewesen. Es ist jetzt die zweitbeste Lösung. Aber klar ist: wir hätten für die beste Lösung eben alle gebraucht, alle Parlamente gebraucht, zum Teil sogar die Volksentscheidung suchen müssen, und deswegen müssen wir akzeptieren, wenn einige Länder sagen, das kriegen wir nicht hin, und deswegen im Grunde genommen diese Einstimmigkeit nicht gesichert ist. Deswegen: der beste Weg wurde vorgeschlagen, das war richtig, es zu versuchen war richtig, aber danach nicht aufzugeben, sondern den zweitbesten Weg zu suchen, war pragmatisch und genauso richtig.

    Heinemann: Herr Oettinger, kurz zum Schluss. Den europäischen Banken fehlen rund 115 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis des Stresstests. Diese Banken leihen sich ja jetzt schon noch kaum Kapital untereinander. Wird der Stresstest den Kapitalhandel beeinflussen, und sei es auch nur psychologisch?

    Oettinger: Der Stresstest wird und muss Auswirkungen auf den Kapitalmarkt haben. Das war auch bewusst und gewollt. Wir wollen, dass die Banken sich stabilisieren.

    Heinemann: Aber leihen die sich jetzt kurzfristig nicht noch viel weniger Geld aus? Also schläft die Kapitalausgabe oder die Kreditvergabe jetzt nicht komplett ein?

    Oettinger: Nein, das glaube ich nicht. Zahlreiche Banken sind ja auch nach dem Stresstest voll handlungsfähig und brauchen keine Kapitalstärkung. Andere wie die Deutsche Bank haben mit drei Milliarden kapitalstärkender Maßnahmen kein Problem, das können sie am Markt aufbringen. Und dort, wo die Banken größeren Kapitalbedarf haben, muss man prüfen, ob es von den Mitgliedsstaaten staatliche Hilfen gibt. Der Bankenrettungsfonds in Deutschland wird ja wieder aufgelegt und aktiviert. Das heißt, es gibt einen Mix von Maßnahmen, und am Ende werden wir dann nächsten Sommer Banken haben, die dann hoffentlich dauerhaft auch bei den Risiken der Staatsanleihen keine Probleme mehr bekommen.

    Heinemann: Der CDU-Politiker Günther Oettinger, EU-Kommissar für Energie. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Oettinger: Einen schönen Tag! Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.