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"Ich fühle mich immer wohl, wenn man mich unterschätzt"

Der Dramaturg Matthias Lilienthal war neun Jahre Intendant des Theaterkombinats Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin und wird es 2012 verlassen. Er ist stolz, dass er die drei Häuser beleben konnte, sagt Lilienthal. Er laufe als "Edelpenner" rum, dann unterschätzen ihn alle und er kann "wunderbar von hinten nach vorn spiel".

Matthias Lilienthal im Gespräch mit Oliver Kranz |
    Oliver Kranz: Matthias Lilienthal, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, da waren Sie Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne, und Sie standen immer mit weißem Hemdkragen und im Foyer, wenn abends die Vorstellungen begannen und haben so geschaut, ob alles in Ordnung ist. Diesen Stil - schwarzer Anzug, weißer Kragen - den haben Sie irgendwann abgelegt. Warum?

    Matthias Lilienthal: Es war nie ein Anzug. Es war eine dunkle Jeans mit einem schwarzen Jackett. Der große Vorteil hier im HAU ist, dass man hier rumlaufen kann, wie man will. Und außerdem hat sich auch das Label Matthias Lilienthal herausgebildet in den letzten zehn Jahren und das besteht auch darin: Ich fühle mich immer wohl, wenn man mich unterschätzt und wenn ich wie ein Edelpenner rum laufe, denken immer alle, der kriegt nichts zustande, und dann kann ich wunderbar von hinten nach vorn spielen.

    Kranz: Edelpenner heißt Jeans und T-Shirt und ungekämmte Haare.

    Lilienthal: Genau. Ich besitze keinen Kamm.

    Kranz: Jetzt gehen neun Jahre Intendanz am Hebbel-am-Ufer zu Ende – eine sehr erfolgreiche Intendanz. Worauf sind Sie besonders stolz?

    Lilienthal: Ach, stolz bin ich, dass ich es geschafft habe, diese drei Häuser zu beleben, dass die Häuser ein Publikum gefunden haben, dass es dem HAU möglich war, so eine Internationalisierung der Stadt zu begleiten. Ich glaube, da ist ein bisschen was zusammengewachsen, weil hier sind es die freien Gruppen aus dem deutschsprachigen Raum, die Tanzgruppen und die internationalen Gruppen. Und ich finde es großartig, wenn Heinz-Werner Kroesinger aus Berlin Bruno Beltrao aus Niteroi begegnet. Und wenn Frecerico Leon auf Mette Ingvartsen trifft. Das macht die Stadt aus. Die Stadt hat in der gleichen Zeit diese Easyjet-Industrie erlebt und hat erlebt, wie in Mitte, Kreuzberg und Nord Neukölln eine englischsprachige Boheme lebt. Es gibt jetzt auf der einen Seite die Kinder-Stadt Berlin mit den Leuten die nicht viel Geld haben und es gibt die internationalen Künstler. Das ist eine Symbiose, die ich total lustig finde.

    Kranz: Als Ihnen die Intendanz übertragen wurde, da kriegten Sie drei Häuser, die damals gar nicht zusammengehörten. Das Hebbeltheater, was so eine klassische Guckkastenbühne ist, das Theater am Halleschen Ufer, was so ein Studiotheaterbau aus den 60er-Jahren ist. Und das Theater am Ufer, eine Fabriketage. War denn das überhaupt günstig für Ihr Konzept?

    Lilienthal: Ich hatte ehrlich gesagt nie ein Konzept. Auch bei Bewerbungsrunden jetzt fragen mich Leute immer nach Konzepten, und ich gucke immer ein bisschen verzweifelt nach oben. Ich bin immer gut, wenn man mir so einen Brocken vor die Füße wirft und dann fange ich an, langsam mir den zu erarbeiten. Dann haben wir überlegt mit Hebbel-Theater, wie heißen die Dinger und haben versucht: Man muss 1, 2, 3 sagen. Dann kamen wir auf Hebbel-am-Ufer und auf HAU. Dann waren wir bei der Imagekampagne mit den Boxern. Und dann fragte mich Hortensia Völkers von der Kulturstiftung: Wie lange hieß eigentlich das Hebbel-Theater Hebbel-Theater? Ich sagte 93 Jahre. Und ich dachte, was bist du denn für ein arrogantes Arschloch, dass du so was umbenennst. Trotzdem war das gut, weil man einen Ort vollständig neu definieren konnte. Und in diesem größeren, chaotischeren Berlin war es viel einfacher einen Ort mit drei Spielstätten zu profilieren, als ein einzelnes Haus.

    Kranz: Als ich Sie am Anfang Ihrer Intendantenzeit gefragt habe, 'was haben Sie eigentlich vor', da haben Sie gesagt: 'möglichst lange das Chaos am Leben erhalten.' Warum ist es gut, wenn man als Theaterchef Chaos in seinem eigenen Haus produziert?

    Lilienthal: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man arbeitet ordentlich und berechenbar. Das kann ich aber nicht. Da bin ich selbst viel zu sehr eine Schlampe, die keine Ordnung halten kann. Die andere Möglichkeit ist, möglichst schnell vornweg zu rennen und die andern zu zwingen, so schnell hinterher zu rennen, dass sie selber nicht zum Überlegen kommen. Und das mache ich immer so.

    Kranz: Es hat geklappt. Man sagt immer: Es ist super gelaufen – es gab auch Probleme in den neun Jahren. Was sind die spektakulärsten Fehlschläge des HAU?

    Lilienthal: Es gab viele Fehlschläge. Aber die Quote ist im Freien Bereich oder in der internationalen Szene oder in den Stadttheatern so ähnlich. Und wir haben den Vorteil dass wir die vorher noch geguckt haben und können ein höheres Maß an Berechenbarkeit haben. Es war die ersten Jahre durchaus schwierig für internationale Sachen und bestimmte freie Gruppen, ein Publikum zu finden. Da hätte man sich manchmal gewünscht, dass das einfacher passiert. Total gelöst hat sich das eigentlich erst seit dem Titelbild vom Tipp Anfang des Jahres. Seitdem ist alles, egal was es ist, egal wann, ausverkauft.

    Kranz: Die normalen Stadttheater haben ein Ensemble, haben aber auch viel mehr Geld. Sie haben ein Budget, das würde bei einem normalen Stadttheater hinten und vorne nicht reichen, arbeiten mit Gastspielen, aber bieten Premieren an ohne Ende. Es sind oftmals 100 Premieren im Jahr und ein Festival jagt das nächste. Was ist der Trick, wie man das schafft?

    Lilienthal: Einmal ist die Struktur vom HAU sehr schmal aufgestellt. Es sind ja nur 24 Festangestellte und eine Reihe von frei arbeitenden Mitarbeitern. Das ist das eine. Wir haben ein Budget von fünf Millionen von der Stadt und … die freien Gruppen, Antragsteller und wir werben ja praktisch pro Jahr zusätzliche zwei Millionen Euro ein. Sodass etwa bei sieben Millionen landen. Das ist letztlich zu einem Niveau wie Theater Oberhausen. Aber ich fühle mich trotzdem dagegen wehren, zusagen das ist eine billige Art zu produzieren. Eine einzelne freie Produktion kostet oft 80.000 Euro und manchmal läuft diese freie Produktion nur fünfmal bei uns und das war's. Wenn man das pro Abend um richtet, ist das überhaupt nicht billig.

    Kranz: Es gibt Intendanten, die führen selbst Regie. Hat sie das jemals gereizt?

    Lilienthal: Ich kann das gar nicht. Es hat mich auch nie gereizt. Ich verstehe mich klassisch als Dramaturg oder Kurator und ich versuche die richtigen Leute zur richtigen Zeit mit den richtigen Stoffen zusammenzuführen und das einer Öffentlichkeit vermitteln. Damit bin ich glücklich.

    Kranz: Also wenn man beschreiben würde, was Sie gemacht haben in den letzten neun Jahren, dann ist es in der Welt rumfahren, Stücke angucken, hier im HAU Sitzungen machen und Ideen vorgeben für Festivals?

    Lilienthal: Meine Arbeit ist eigentlich, den Laden zu organisieren und zu motivieren und manchmal zur Radikalisierung. Egal wo ich bin, sitze ich von morgens um zehn bis abends um 23 Uhr im Café und treffe im Stundentakt Menschen.

    Kranz: Was hat Sie eigentlich zum Theater gebracht?

    Matthias Lilienthal: Eigentlich die Inszenierung, die ich in dem Haus gesehen habe, in dem wir gerade sitzen, im HAU2, wo ja früher die Schaubühne war, da habe ich als 14-Jähriger begeistert Inszenierungen von Klaus Michael Grüber, Luc Bondy und Peter Stein geguckt und hatte Lust, als Dramaturg am Theater zu arbeiten. Das stand dann fest und ich habe es zielstrebig verfolgt.

    Kranz: Und dann ging es so über verschiedene Stationen - Basel, Volksbühne, Theater der Welt bis hierher?

    Lilienthal: Genau. Dann habe ich erst studiert, nicht fertiggemacht, ein bisschen politisch herumkrakeelt. Dann war ich bei Baumbauer Dramaturg in Basel, und das war die Geburtsstunde meines Weges, ich wurde von Baumbauer verdonnert, mit einem kauzigen Schweizer Musiker zu arbeiten, namens Christoph Marthaler. Ich kannte aus Berlin - aus dem Festival des Jungen Theaters in der DDR - kannte ich Frank Castorf und den habe ich dann mit nach Basel geholt. Damit waren die Weichen gestellt.

    Kranz: Wenn man so viel macht, kann man dann dem einzelnen Projekt überhaupt noch Aufmerksamkeit schenken?

    Lilienthal: Oft nicht. Was ich zum Beispiel hier im HAU oft nicht geschafft habe: Normalerweise müssten wir mit jedem, der zu einem Gastspiel kommt, ein persönliches Gespräch machen. Es war oft so, dass ich geguckt habe, ob Schwierigkeiten sind oder dass ich eine Probe oder eine Vorstellung geguckt habe und drüber geredet habe, aber man hat oft keine Zeit, das zu machen. Man ist sofort in ein Gespräch über das nächste Projekt eingetaucht. Die anderthalb Stunden, um das noch einmal zu reflektieren, hatte man oft nicht.

    Kranz: Über Ihre Arbeitszeit haben wir schon geredet – 10 bis 23 Uhr normalerweise –, das heißt: Privatleben kann man da nicht haben.

    Lilienthal: Nicht so richtig viel. Aber das Privatleben integriert sich oft in den Berufsalltag. Eigentlich arbeite ich hier immer nur mit meinen Freunden zusammen. Und meinen Sohn und meine Freundin versuche ich da mit zu verwurschten.

    Kranz: Die arbeiten auch im Theater?

    Lilienthal: Ach, meine Freundin arbeitet beim Radio, beim Deutschlandradio Kultur. Aber dann gab es auch das Radioortungsprojekt, wo man zusammengearbeitet hat und meinen Sohn schicke ich auch in Sachen rein, aber ich kümmere mich manchmal auch extra um ihn.

    Kranz: Als Nächstes kommt ein Studienaufenthalt in Beirut. Ist das eine Art Erholungspause?

    Lilienthal: Überhaupt nicht. Es ist auch kein Studienaufenthalt, sondern es gibt 15 Postgraduate-Bildende-Kunst-Studenten, die mit mir Projekte erarbeiten wollen. Insofern wird das eher horrorhafter Stress. Davor fange ich jetzt schon im Sommer an, Theater der Welt in Mannheim zu kuratieren.

    Kranz: Das fängt 2014 an.

    Lilienthal: Im Juni 2014 findet das statt und ich versuche jetzt im Sommer darüber nachzudenken, was die großen, verdrängenden Produktionen sein könnten.

    Kranz: Gerade weil es hier im Haus gut gelaufen ist, gelten Sie jetzt als der große Visionär. Fühlen Sie sich berufen, jetzt auch Theater der Welt irgendwie neu zu erfinden?

    Lilienthal: Ich bin kein Visionär. Also ich hab manchmal so einzelne Ideen, die ich ganz lustig finde oder begreife mich als Handwerker und versuche sorgfältig die Sachen abzuarbeiten.

    Kranz: Aber Workaholic sind sie schon?

    Lilienthal: Das ist ja auch manchmal nach der Vorstellung rumsitzen und offen. Das darf man sich jetzt auch nicht zu unsinnlich vorstellen. Aber ich quatsche mich so gerne durch den Tag.

    Kranz: Viel Spaß, das weiterhin zu tun und vielen Dank für das Gespräch.

    Lilienthal: Viel Spaß euch auch.