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"Ich glaube nicht, dass sie eine Grenze überschritten haben"

Für hiesige Boulevardzeitungen scheint der Fall Jörg Kachelmann ein sprichwörtlich gefundenes Fressen zu sein. Dabei ist das Verfahren um die ihm vorgeworfene Vergewaltigung noch in vollem Gange. Der ehemalige "Bild"-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje sieht die Fehler weniger bei den Journalisten als mehr bei den Staatsanwälten.

Hans-Hermann Tiedje im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 02.08.2010
    Tobias Armbrüster: Der Wettermoderator Jörg Kachelmann ist vor vier Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Ob er zu Recht verhaftet wurde, das wird sich vor Gericht zeigen, aber ob es richtig war, dass so ausführlich über die laufenden Ermittlungen berichtet wurde, darüber wird in Deutschland schon jetzt ausführlich debattiert. In der Kritik stehen vor allem Boulevardzeitungen und mehrere Magazine, die in den vergangenen Monaten immer wieder neue Details an die Öffentlichkeit gebracht haben inklusive Fotos von Jörg Kachelmann im Gefängnis. Was sagt dieser Fall Kachelmann aus über die Medien in Deutschland, dazu begrüße ich am Telefon den Medienberater und ehemaligen "Bild"-Chefredakteur, guten Morgen, Hans-Hermann Tiedje!

    Hans-Hermann Tiedje: Guten Morgen, Herr Armbrüster!

    Armbrüster: Herr Tiedje, haben Zeitungen wie "Bild", "Stern" und "Focus" im Fall Kachelmann eine Grenze überschritten?

    Tiedje: Ich glaube nicht, dass sie eine Grenze überschritten haben. Sie haben mit dieser Berichterstattung die Grenze vielleicht etwas erweitert, die es vorher gab. Vielleicht sind es auch Grenzen des guten Geschmacks, die da überschritten oder gedehnt worden sind, aber um eine Grenze überschreiten zu können, müsste man ja vorher erst mal festlegen, wo liegt die Grenze, was darf eine Zeitung berichten und was darf sie nicht? Und da stellt sich natürlich für jeden Redakteur, der Material auf den Tisch bekommt, die Frage anders. Wenn Sie nichts haben, also wenn Sie nicht informiert werden zum Beispiel von der Staatsanwaltschaft oder von irgendwelchen Anwälten, dann kann man leicht sagen, ja die anderen haben eine Grenze überschritten. Wenn Sie aber frische Informationen oder Aktenvermerke oder was auch immer oder im Fall Kachelmann Aktenauszüge bekommen, dann sehen Sie die Grenze wahrscheinlich etwas anders.

    Armbrüster: Aber bislang lautete die Grenze doch: keine Berichte über Ermittlungsverfahren?

    Tiedje: Ja, so lautete die Grenze und wer das macht, der weiß, dass da Strafandrohungen sind. Aber dagegen ist ja auch früher schon verstoßen worden. Also nehmen Sie allein in den 60er-Jahren die "Spiegel"-Geschichte damals mit Bundeswehr, Fallex, das ist jetzt fast 50 Jahre her. Also, gegen solche, solche Verstöße gibt es immer wieder.

    Armbrüster: Woher kommen denn diese Informationen?

    Tiedje: Ja, das ist sehr unterschiedlich. Also ich, mein Eindruck ist – und danke, dass Sie mich so korrekt angekündigt haben, ich bin mit diesen Sachen ja seit vielen Jahren oder auch seit Jahrzehnten vertraut –, früher war es überwiegend so, dass Anwälte die Medien mit Informationen versorgt haben, in jüngster Vergangenheit ist dies mehr auch ein Instrument der Staatsanwälte, die setzen das ein, um Stimmung zu machen. Also, im Fall Kachelmann, um präzise zu werden, ist es ganz eindeutig. Diese Informationsstreuer, also die Art, erst mal die Medien zu füttern, hat ihren Ausgang genommen bei der Staatsanwaltschaft in Mannheim und nirgends sonst. Also, die hat damals eine sagen wir mal zweifelhafte Mitteilung rausgegeben, dass ein bekannter Fernsehmoderator festgenommen worden sei, und wenn Sie so was machen, dann wissen Sie, es dauert keine Stunde und jemand hat herausgefunden, wer das ist. Und danach kamen Informationen in die Medien und sie kamen immer von der einen Seite, also von der Staatsanwaltschaft. Es handelt sich dabei wohlgemerkt um ein Delikt nach Paragraf 203b, Strafgesetzbuch, nämlich um die Verletzung von Amtsgeheimnissen, das bis zu einem Jahr ... Also Staatsanwälte in diesem Fall haben ständig gegen geltendes Recht verstoßen, in dieser subjektiven Wahrnehmung aber wahrscheinlich dem höheren Zweck dienend, Kachelmann zu überführen.

    Armbrüster: Ich nehme jetzt mal an, Herr Tiedje, dass die Staatsanwälte in Mannheim dem aufs Heftigste widersprechen würden.

    Tiedje: Das glaub ich kaum.

    Armbrüster: Aber bleiben wir mal dabei: Warum sollten Staatsanwälte so etwas tun?

    Tiedje: Ja, die Staatsanwälte haben im Laufe der Jahrzehnte erkannt, dass die Konditionierung der Medien ein Instrument ist, Presse vorzubereiten. Das heißt, wenn ich – und das passiert ja am laufenden Meter –, wenn ich Dinge in die Medien gebe, dann mach ich, dann koch ich sozusagen den vermeintlichen Täter weich. Also, ich habe das ganz persönlich, kann ich Ihnen, auch im Fall Pierer erlebt, Heinrich von Pierer ist es wiederholt geschehen, dass er Anrufe bekam – von der "Süddeutschen Zeitung" in dem Fall, wobei ich dem Kollegen dazu herzlich gratuliere, also wenn man Informationen hat, dann muss man sie auch abfragen dürfen –, die hatten Informationen, die ihm gar nicht bekannt waren, auch seinen Anwälten nicht, und er war gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Konnte er gar nicht, weil er es nicht wusste. Es kam direkt aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft also zur "Süddeutschen Zeitung". Genau so im Fall Middelhoff, im Fall Wiedeking, in anderen Fällen. Es ist ein neues Instrument, zu sagen, wir üben Druck auf oder bauen Druck auf und üben Druck aus auf Leute, die wir für schuldig halten oder gegen die wir gerade ermitteln, und instrumentieren dafür die Öffentlichkeit. Früher haben das Anwälte gemacht, um ihre Mandanten zu entlasten.

    Armbrüster: Nun sind ja Zeitungen und Journalisten eigentlich sehr geübt darin, solche Strategien zu durchschauen. Ich meine, auch politische PR-Kampagnen werden nicht immer so ausgetragen, wie sich das die Politiker eigentlich wünschen. Können wir eigentlich von Journalisten oder sollten wir von ihnen erwarten, dass sie etwas genauer hinsehen und vielleicht nicht unbedingt alles veröffentlichen, was Staatsanwälte ihnen vorsetzen – wenn es denn tatsächlich, wenn diese Informationen denn tatsächlich aus Staatsanwaltschaften kommen?

    Tiedje: Ja, also in Ihrer Frage steckt die Antwort, Sie haben den Kern. Man könnte das möglicherweise von Journalisten erwarten, aber meine Gegenfrage lautet: Warum das besonders von Journalisten was erwarten, was selbst die Juristen, deren Job das ist, nicht einhalten? Ich meine jetzt nicht nur die Staatsanwälte, sondern auch Anwälte. Also, wer hier mit Ermittlungsakten rumfummelt in der Gegend, der weiß genau, warum er das tut. Und ich bitte noch mal um Verständnis: Wenn Sie Redakteur oder Chefredakteur eines großen Magazins sind oder einer großen Zeitung, gerne auch der "Bild"-Zeitung, und sie kriegen so ein Material auf den Tisch, dann können Sie sagen, okay, ich behalte es für mich. Aber wer tut das schon, das ist ja völlig weltfremd! Natürlich hat das was ...

    Armbrüster: ... aber Herr Tiedje, es bleibt ja dabei: Es ist in Deutschland nicht erlaubt, über laufende Ermittlungen zu berichten.

    Tiedje: So ist es.

    Armbrüster: Wieso sollte eine Zeitung sich darüber hinwegsetzen dürfen?

    Tiedje: Ich sage nicht, dass eine Zeitung sich darüber hinwegsetzen darf. Eine Zeitung, wenn sie sich darüber hinwegsetzt, kennt das Prozessrisiko. Ja, also es sind immer so Grenzfragen, was darf ich noch veröffentlichen, was darf ich eher nicht veröffentlichen, und wenn ich es veröffentliche, weiß ich, im Zweifelsfall droht ein Gerichtsverfahren. Das nimmt man dann in Kauf.

    Armbrüster: Wenn wir nun mal kurz nach Großbritannien blicken: Dort hätte eine solche Berichterstattung möglicherweise schwere juristische Konsequenzen, die beteiligten Journalisten, die so etwas veröffentlichen, müssten mit Strafanzeige rechnen, auch wenn ... Und wenn schon vorher zu detailliert berichtet wird, dann könnte ein Verfahren so wie das jetzt gegen Jörg Kachelmann auch eingestellt werden. Brauchen wir solche strengen Gesetze möglicherweise auch in Deutschland?

    Tiedje: Dazu will ich mich eher nicht äußern, weil ich stehe hier für die Medienseite. Ich kann nicht beurteilen, ob das in Großbritannien so besser funktioniert oder ob wir das haben sollten, ich bin auch nicht der Moralapostel. Also, ich bin schon der Meinung, dass die Öffentlichkeit ein Recht hat auf Information. Also, wenn Sie jetzt den Fall Jörg Kachelmann nehmen, das ist natürlich für Herrn Kachelmann sehr bedauerlich, was da passiert ist, vielleicht war alles für seine Lebensgefährtin vorher noch bedauerlicher. Ich weiß das nicht, keiner weiß das. Aber aus diesem Fall solche Forderungen abzuleiten, halte ich zumindest für sehr, sehr früh.

    Armbrüster: Heißt das, die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Fotos von Jörg Kachelmann im Gefängnis?

    Tiedje: Ja, da haben Sie die nächste Grenzfrage! Nein, eigentlich nicht, aber vielleicht doch. Es ist die Frage, wie man sozusagen die Veröffentlichungsgrenze legt. Also, das ist ein Grenzbereich, ich möchte mich da nicht festlegen.

    Armbrüster: Ich meine, ich kann mir vorstellen, dass viele unserer Hörer jetzt sagen, tatsächlich, diese Berichte interessieren uns eigentlich alle gar nicht. Warum bringen die Zeitungen so was?

    Tiedje: Ja, das glaube ich nicht. Ich glaube, das wird, also es wird da unglaublich geheuchelt. Es ist absolut sicher, also es ist pharisäerhaft bis zum Ende, was da in der Öffentlichkeit erzählt wird. Also die gleichen Leute, die sich aufgeregt haben, dass die ARD tagelang nicht berichtet hat darüber, dass ihr Wettermoderator Kachelmann in Haft genommen wurde, die gleichen Leute – teilweise aus, die richtig personengleichen Leute – regen sich ja jetzt darüber auf, dass über Kachelmann so ausführlich berichtet wird. Also, da ist viel Heuchelei im Spiel. Es ist so wie mit dem Klatsch oder mit Themen, die die Öffentlichkeit interessieren: Kachelmann ist ein hochinteressantes Thema, eine hochinteressante Person. Ich glaube auch, dass Ihre Hörer, dass die meisten Ihrer Hörer sich dafür interessieren. Und ich glaube auch, dass wir im Augenblick gerade hier nicht die Quote vernichten mit diesem Gespräch, sondern Quote machen.

    Armbrüster: Ich kann mir vorstellen, wie viele jetzt zu Hause sitzen und den Kopf schütteln, aber trotzdem danke ich Ihnen vielmals für das Gespräch. Das war der Medienberater und ehemalige "Bild"-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje, schönen Dank noch mal, Herr Tiedje!

    Tiedje: Ich danke Ihnen, Herr Armbrüster, tschüss!