Samstag, 27. April 2024

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"Ich habe ja nie am Zaun gerüttelt und gesagt, ich will da rein"

Es war eine Halbstundenentscheidung, in die Politik zu gehen, erzählt Christine Bergmann. Die Sozialdemokratin berichtet über die hautnah erlebte Bombennacht in Dresden und beklagt, bis heute gehe es nicht in die Köpfe rein, dass es besser sei, Frauen in Führungspositionen zu haben.

Die Fragen stellte Birgit Wentzien | 25.04.2013
    Ihre Autorität kommt zurückhaltend daher, gewissermaßen aus der zweiten Reihe, obwohl sie politisch lange in der ersten Reihe stand. Dabei gelangte sie eher zufällig in die Berliner Spitzenpolitik, nachdem die Friedliche Revolution erfolgreich und die DDR kollabiert war. Die Rede ist von Christine Bergmann.

    1939 in Dresden geboren, Pharmazeutin, Sozialdemokratin in der späten DDR und dann in der gesamtdeutschen SPD. Parlamentspräsidentin der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung und Senatorin für Arbeit, berufliche Bildung und Frauen der Berliner Großen Koalition. Im Kabinett von Gerhard Schröder war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und bis Oktober 2011 als unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs engagiert. Ihr gelang es, Tausenden von Missbrauchsopfern in Familie, Schulen und Kirchen gesellschaftliches Gehör zu verschaffen. Christine Bergmann ist mit dem Veterinärmediziner Volker Bergmann verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

    "Noch immer zucke ich zusammen, wenn ich Sirenen höre." DDR-Finale, Hinwendung zur Sozialdemokratie und Kindheitserinnerungen an Dresden. Der Schicksalstag 13. Februar 1945.


    Birgit Wentzien: Das Leben in der Politik ist nicht das normale Leben, haben Sie gesagt, Frau Dr. Bergmann. "Das merkst du erst, wenn du aussteigst", heißt es in Ihrem Buch "Von Null auf Hundert". "Es ist ein Zeichen, wenn du nicht mehr weißt, was ein Fahrschein kostet und wo du ihn kaufen musst, wenn der Bezug der Realität verloren geht, ist es meiner Meinung nach Zeit, aufzuhören." – Wann war das bei Ihnen so weit?

    Bergmann: Ja, das war bei mir eigentlich 2011, wo ich dann beschlossen habe, es ist genug, und wenn die Legislaturperiode zu Ende ist, dann kehre ich gerne wieder in ein normales Leben zurück. Zwölf Jahre Politik war sehr spannend, ich habe das ja auch gerne gemacht und vor allen Dingen, wenn man sozusagen aus der Diktatur kommt und dann plötzlich mitgestalten kann und eben nicht immer nur in der Ecke sitzt und meckert, was die da oben machen. Man wird dann vielleicht eher angemeckert, weil man plötzlich Die-da-oben auch mit ist, das ist mir auch schwergefallen …

    Wentzien: Oder man meckert selber!

    Bergmann: Oder man meckert selber. Es war genug, zwölf Jahre Politik waren für mich wirklich genug. Ich habe ja nie am Zaun gerüttelt und gesagt, ich will da rein, sondern es hat sich irgendwie so ergeben dann 1989/90. Und wie gesagt, es war nicht meine Lebensplanung und da ist mir das Aussteigen auch eigentlich sehr leichtgefallen.

    Wentzien: Konnten Sie das so sehr viel besser als mancher, der in der Politik groß geworden ist, weil Sie ein Leben vor der Politik hatten?

    Bergmann: Ich denke schon, ja. Erstens hatte ich eben dieses Leben, und zwar das Leben sozusagen einer ganz anderen Gesellschaft und natürlich das berufliche Leben und ich … Ja, wenn jemand sozusagen sich so hoch ackert, was ja nicht so ganz einfach ist, von einer Nominierung zur nächsten und so weiter und so fort, dann fällt wahrscheinlich das Aussteigen auch irgendwie schwerer. Während es für mich so eine Halbstundenentscheidung war, plötzlich mich in der Politik wiederzufinden. Da ist mir das Aussteigen auch leichtgefallen. Also, man merkt dann schon, dass das ein kräftiger Sprung ist, den man dann macht, wenn man erst mal wieder draußen ist, aber ich war irgendwo mit mir im Reinen und das war gut so.

    Wentzien: Jetzt möchte ich natürlich wissen, wie genau dieser Moment damals war zwischen dem einen und dem anderen Leben! Ich würde es mal festmachen an der Kirchenmauer, an der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg, da standen drei Buchstaben, SDP, und was stand da noch, dass aus der Pharmazeutin die Politikerin Christine Bergmann wurde?

    Bergmann: Es war das Statut der SDP. Das war 1989 in der Gethsemanekirche. Wir haben uns da ja im Herbst immer wieder getroffen und haben auch so ein Stück Mut gefasst, Angst losgeworden. Also, ich sage immer, ein Stück aufrechten Gang trainiert. Und ich hatte ja mitbekommen über die Medien – das war ja sehr wichtig zu dieser Zeit in besonderer Weise –, dass eine sozialdemokratische Partei sich gegründet hatte in der DDR. Hoch spannend, in Schwante. Und da dachte ich, die musst du doch finden, irgendwie ist das doch deine Partei! Es war immer meine, es war die Partei Willy Brandts, Willy Brandt, der sich wirklich darum bemüht hat, Wandel durch Annäherung, den Osten nicht abgeschrieben hatte. Ja, und da ich in der Gethsemanekirche saß und jeden Abend dann studierte, was an die Wand gepinnt war an allen möglichen Resolutionen, was aus den Betrieben kam, da fand ich dann dort das Statut der SDP und Kontaktadressen dazu. Das heißt, es gab da schon einen Kreis, an den man sich wenden konnte, habe ich mich dann durchtelefoniert und habe dann bei mir in meinem Wohnkreis da in Hellersdorf, Kaulsdorf dann die SDP mit aufgebaut. Das war im Dezember `89.

    Wentzien: Wenn da eine andere Buchstabenkombination gestanden hätte, hätten Sie dann auch angerufen?

    Bergmann: Sie meinen jetzt SPD?

    Wentzien: Oder CDU?

    Bergmann: Nein! Das war wohl Überzeugung! Auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Also, mir war schon klar geworden im Herbst, dass, wenn man jetzt wirklich die Veränderung gestalten will und auch nichts dem Zufall überlassen will, dass man feste Strukturen braucht. Wir haben ja alle beim Neuen Forum unterschrieben, als das Neue Forum im Spätsommer dann da war. Und dann ging das aber alles ein bisschen zögerlich, wir haben in meiner Kirchengemeinde in Kaulsdorf mit Jens Reich einen Abend diskutiert und wir überlegten immer noch und sagten, es gibt jetzt einen runden Tisch und sollen wir denn da mitmachen. Und ich sagte, natürlich, Sie haben doch ein paar Hunderttausend Unterschriften, das ist doch ein Mandat, da muss man doch mitmachen!

    Und dann dachte ich, also, so diese zufälligen, ja, Verbindungen, die es eben in der Zeit gegeben hat, das reicht nicht, man braucht jetzt wirklich auch eine Struktur. Nur war, in eine Partei zu gehen, schon grundsätzlich erst mal nicht leicht. Ich habe ja gelebt in einem Staat, wo immer eine Partei alles bestimmte und auch die noch formal existierenden anderen Parteien – Sie hatten CDU angesprochen oder LDPD oder was es da alles gab, die haben wir ja auch nicht ernst genommen, das waren die sogenannten Blockparteien, war schon klar, dass die eigentlich nichts zu sagen hatten –, ja, und da dachte ich, ja, Partei, brauchst du eine Struktur! Es muss ja jemand da sein, der auch ein Mandat kriegt, zu verhandeln … Es war ja auch klar, dass es dann auch irgendwann um Wahlprogramme gehen musste. Und da war ich dann glücklich, als ich die SDP gefunden hatte und mitmachen konnte. Und das war schon eine unwahrscheinlich spannende Zeit.

    Wentzien: Und das ging ja bei Ihnen wirklich wie in einer Zeitmaschine, in einer affenartigen Geschwindigkeit. Sie hatten, glaube ich, kaum unterschrieben, da waren Sie schon …

    Bergmann: So ging das damals!

    Wentzien: … Mandatsträgerin quasi auch!

    Bergmann: Ja, von Null auf Hundert. Also, wir haben ja permanent dann Wahlen vorbereiten müssen. Also, wir hatten uns gerade irgendwie gegründet und gefunden, kannten uns untereinander kaum. In meinem Wohnbezirk gab es noch ein paar alte Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Es gab ja in Berlin bis 1961 im Osten noch eine sozialdemokratische Partei, also völlig verrückt! Es gab sogar noch einen Bundestagsabgeordneten, der sozusagen für Ostberlin-Mitte zuständig war. Und dann wurde die Mitgliedschaft ruhen gelassen, um diejenigen auch nicht zu gefährden. Und die waren aber nur da und waren auch glücklich, mitmachen zu können, wir waren glücklich, dass wir jemand hatten, der auch ein bisschen wusste, wie es denn eigentlich so langgeht.

    Ja und dann musst du permanent Menschen finden, die jetzt kandidieren für die Volkskammer und dann für die Berliner Wahlen, und das war damals ganz anders als heute. Da hat sich niemand gedrängelt, alle waren ja beschäftigt zu gucken, wie geht es denn mit mir weiter, es krachte ja überall. Keiner wusste, wie es in dem Betrieb weitergeht, überlebt der Betrieb, was wird mit mir. Und in der Situation Menschen zu finden, die auch in völlig ungewisser Zukunft sagen, ich mache das jetzt, obwohl ich gar nicht weiß, wie das jetzt weitergeht. Wir wussten ja alle nicht zu der Zeit, wann gibt es die Einheit der Stadt, des Landes. Ja, und da habe ich dann halt auch mit kandidiert. So war das damals.

    Wentzien: In dem Buch "Null auf Hundert" geht es los mit den Kindheitserinnerungen von Christine Bergmann. Und Sie sagen von sich: "Ich vergesse auch schon mal Geburtstage, meinen eigenen auch, was ich nicht vergesse, das ist der 13. Februar 1945." Sie waren damals gut fünf Jahre alt.

    Bergmann: Fünfeinhalb, ja.

    Wentzien: Und diesen Tag vergessen Sie in Dresden nicht.

    Bergmann: Das kann man nicht vergessen, das kann man nicht vergessen als Dresdnerin, und das kann man sogar ein Stückchen weitergeben an die anderen Generationen, die eigentlich den Tag auch immer so ein Stück mit im Gedächtnis haben. Wir saßen zu diesen schweren Angriffen in der Küche. Ich sehe uns auch noch sitzen, meine Mutter, ihre Schwägerin und fünf kleine Kinder, und rings herum krachte es. Und auf dem Nachbargrundstück war ein Bunker, da waren wir manchmal auch nachts gewesen, aber in dieser Nacht nicht, ich weiß nicht, warum wir da nicht hingegangen sind, keiner ahnte ja, was kommen würde. Und dann kam der erste Angriff. Da ist auch eine Brandbombe bei uns ins Haus reingegangen, glücklicherweise ein paar Meter weiter.

    Und ich sehe uns da noch sitzen und ich weiß noch, mein älterer Bruder, der war drei Jahre älter, ging schon in die Schule, sagte immer, wir sollen den Mund aufmachen. Der hatte gelernt, wenn Sprengbomben kommen, muss man den Mund öffnen, damit das Trommelfell nicht platzt. Das hat er uns Kleinen dann also immer suggeriert. Das war der erste Angriff, da war das Haus dann ein Stück ausgebrannt und die Nachbarn kamen und löschten und gegenüber ist ein Haus zerstört worden und schräg gegenüber auch noch eins. Und dann wurden wir alle verteilt. Weil das Haus unbewohnbar war, nahmen die Nachbarn dann von den Kindern jemanden mit. Und ich blieb bei meiner Mutter. Und das weiß ich noch, dann kam ja der zweite Angriff noch in der gleichen Nacht. Und da weiß ich noch, ich kann mich nicht an meine eigene Angst erinnern, aber ich kann mich daran erinnern an die Angst meiner Mutter, die da saß und nicht wusste, wo ihre – ich habe drei Brüder –, wo ihre drei Söhne, ob sie die jetzt wiedersieht. Keiner wusste ja, was in der Nacht noch passiert.

    Wir haben uns alle wiedergesehen glücklicherweise und sind dann am nächsten Morgen, weil das Haus unbewohnbar war, die beiden Frauen mit fünf kleinen Kindern und einem halb kaputten Kinderwagen, losmarschiert über die Dörfer in Richtung Sudetendeutschland. Da kam meine Mutter her und da lebten ihre Eltern noch. Das war natürlich völlig irre, in die Richtung zu gehen, war die falsche, aber wo geht man denn hin. Man geht halt nach Hause zu den Eltern. Weit sind wir da aber nicht gekommen. Jedenfalls weiß ich noch, dass dann der Kinderwagen schon kaputtging und dann kam der dritte Angriff am nächsten Vormittag, ja. Das war der 14. Februar dann. Und da haben wir – es war der Rand von Dresden, Stadtrand –, haben wir im Straßengraben gelegen, da kamen dann die Tiefflieger, die dann Richtung Elbe flogen und auch die Menschen bombardiert haben. Das sind so meine ganz tief drinnen sitzenden Erinnerungen. Und noch immer zucke ich zusammen, wenn ich Sirenen höre, und ich habe lange gebraucht, bis ich aushalten konnte, dass ein Flieger so über mir wegfliegt. Jetzt wohne ich in Pankow in der Einflugschneise, jetzt habe ich mich gut daran gewöhnt. Aber das Gefühl, das ist Gefahr, das ist irgendwo, steckt das drin, ja.

    Wentzien: Dieses Haus in Dresden ist Familiensitz praktisch weiterhin und da gibt es auch regelmäßige Treffen. Also, das ist ein ganz wichtiger Punkt für alle, auch für die nächsten Generationen.

    Bergmann: Ja, das ist so. Mein jüngster Bruder lebt noch in dem Haus und wir treffen uns einmal im Jahr, das haben wir schon zu Lebzeiten. Mein Vater ist ja früh gestorben, meine Mutter hat leider die Friedliche Revolution gar nicht mehr erlebt, die ist ‘88 gestorben. Aber schon zu ihren Lebzeiten haben wir das gemacht, weil wir immer wollten, dass der Kontakt bleibt und dass man sich eben nicht auf Beerdigungen trifft, das ist ja nicht immer der schönste Anlass. Und jetzt treffen wir uns einmal im Sommer und da werden dann Zelte im Garten aufgebaut. Und die Kinder freuen sich darauf, also auch meine Enkel, die freuen sich eigentlich immer, dass die sich mal alle wiedersehen. Mittlerweile wird die Familie immer größer und da gibt es dann schon wieder Großneffen und Großnichten.

    Wentzien: Sie haben noch den Überblick?

    Bergmann: Ich habe den Überblick, ja! Mein Mann hat ihn nicht immer, aber ich habe den Überblick!

    Missbrauch wurde nur punktuell aufgearbeitet
    Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen-Gespräch". Heute mit Christine Bergmann, ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. "Ich bin am meisten enttäuscht, dass das Hilfesystem immer noch nicht funktioniert. Also, es ist nicht zu fassen!" Nach der Politik ist vor der Politik. Christine Bergmann und ihre Einsätze als Ombudsfrau.

    Wentzien: "Notfalls mische ich mich selbst noch einmal ein", haben Sie gesagt, Frau Dr. Bergmann, und zwar beim Abschied aus Ihrem letzten politischen Amt. Das war im Herbst 2011 als unabhängige Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Ehrlich gesagt, wenn man sich anschaut, was seither passiert ist: Wann ist es so weit, wann mischen Sie sich ein?

    Bergmann: Na ja, ich bin ja noch nicht ganz ausgestiegen aus dem Thema, wir haben jetzt Ende April, am 30. April noch mal ein größeres Hearing zu dem Thema Aufarbeitung, weil da ja noch längst nicht genug passiert ist, eigentlich ist nur bisher punktuell aufgearbeitet worden. Also, da werden schon noch mal ein paar Dinge deutlich herausgestellt, was eigentlich noch passieren muss in diesem Bereich. Und das ist sowieso ein Thema, wo man überhaupt nicht aufhören kann. Denn das ist permanent da. Und wir haben jetzt auch eine Menge gelernt, glaube ich, die Gesellschaft, aber das darf auch nicht wieder verschwinden. Und es muss auch klar sein, wer welche Rolle hat, dass also auch Eltern wissen, wie sie mit so einem Thema umgehen, sich informieren, sich Hilfe holen, dass Schutzkonzepte da sind und dass man nicht vergisst: Diejenigen, die den Missbrauch eben vor längerer Zeit erlebt haben und immer noch unter den Folgen leiden.

    Wentzien: Von wem sind Sie – ich höre das aus Ihrer Stimme, wenn ich richtig höre –, von wem sind Sie auf dieser Strecke seither am meisten enttäuscht?

    Bergmann: Ich bin am meisten enttäuscht, dass das Hilfesystem immer noch nicht funktioniert. Also, es ist nicht zu fassen. Der runde Tisch hat das sozusagen beschlossen, dass denjenigen geholfen wird, die eben den Missbrauch vor langer Zeit erlebt haben, in Form von Therapien und was sie auch im Einzelnen benötigen. Da geht es gar nicht um große Entschädigungszahlen, sondern es geht darum, Therapien zu finanzieren, die eben die Kassen nicht bezahlen, oder andere Dinge, die benötigt werden.

    Und wir hatten uns eigentlich verständigt auf einen Hilfe-Fonds von 100 Millionen, da sollten 50 Millionen vom Bund kommen und 50 von den Ländern. Ja, das ist nun mittlerweile anderthalb Jahre her und der Fonds steht immer noch nicht, weil sich der Bund mit den Ländern streitet, die Länder wollen nicht so recht. Nun weiß ich, dass die auch nicht allzu gut bei Kasse sind, aber die 50 Millionen müssen schon aufgebracht werden, abgesehen davon, dass der Bund auch alleine anfangen kann, der muss nicht auf die Länder warten. Das ist vor allen Dingen nicht nur … die einzelne Hilfe, das ist wieder so ein Zeichen für die Betroffenen: Na ja, nun haben sie mal geredet, so ungefähr, haben auch beschlossen und nun passiert nichts! Da sind drei Jahre mittlerweile vergangen und das Hilfemodell steht noch nicht!

    Wentzien: Enttäuscht sind Sie von der Prävention, die noch nicht da ist, die man sich ja vorgenommen hatte, vom Bund-Länder-Hilfsfonds, der …

    Bergmann: Von dem Hilfsfonds Prävention passiert eine ganze Menge, ja.

    Wentzien: Okay. Katholische Kirche?

    Bergmann: Die Kirchen auch, also katholische Kirche auch, wobei das Thema Aufarbeitung - also, die machen schon einiges, also, man muss da schon immer ein bisschen differenzieren, in der Fortbildung passiert, glaube ich, eine ganze Menge, aber das Thema Aufarbeitung ist da natürlich genauso ein ganz dickes Thema wie auch bei anderen Einrichtungen. Denken Sie an die Odenwaldschule und was in anderen Bereichen eigentlich ausgearbeitet werden muss, damit man in der Prävention besser ist. Man kann nur wirklich gut Präventivarbeit machen, wenn man sich angeguckt hat, was ist passiert in meinem eigenen Zuständigkeitsbereich, warum ist es passiert, wie kann ich es verhindern.

    Wentzien: Hat die Kirche, indem sie da die eigene Forschung, die ja angelegt worden ist, ausbremst, hat die da richtig reagiert?

    Bergmann: Das ist schwierig, ja, das ist vor allen Dingen auch bedauerlich, dass hier ein so doch relativ groß angelegtes Forschungsprojekt erst mal zum Stoppen gekommen ist. Und da muss man eigentlich nur sagen, kümmert euch darum, dass es in der einen oder anderen Weise weitergeht. Denn es ist ja nicht erledigt damit, dass man hier mit den betreffenden Kriminologen nicht mehr klargekommen ist. Es muss da schon weitergehen und es muss natürlich auch offengelegt werden. Es muss schon transparent sein, was ist denn passiert. Und nach wie vor ist das in vielen – und ich muss sagen, das ist nicht nur Kirche, das erleben wir ja immer wieder –, wenn es akute Fälle gibt, dass doch gerne die Augen zugemacht werden und sagen, Nein, das kann ich mir bei dem nicht vorstellen, der war doch immer so nett oder was auch immer und Schwamm drüber!

    Wentzien: Anwältin der Opfer, Frau Dr. Bergmann, waren Sie auch vorher, in einer anderen Ombudsfraufunktion, zusammen mit Kurt Biedenkopf, unter anderem nämlich Ombudsfrau für die Hartz-IV-Reform. Wenn Sie diese beiden Stationen sehen, nach Ihrem aktiven ministeriellen politischen Leben, ist das etwas, was Sie vielleicht auch noch ein drittes Mal bewegen könnte, so einen Ehrenjob oder so einen Nachlesejob oder so einen Anwaltsjob noch mal zu übernehmen? Gibt es da schon ein weiteres Projekt vielleicht?

    Bergmann: Nein, gibt es nicht und ich muss sagen, ich bin auch nicht auf Jobsuche. Ich habe im Moment auch familiär doch Kräfte zuzusetzen, das ist eigentlich auch ganz gut. Die Eigenen müssen auch manchmal drankommen, die haben auch ein gewisses Recht. Vor allen Dingen die Missbrauchs…, die Arbeit da im Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs, das war natürlich eine Arbeit, die unwahrscheinlich viel Sinn gemacht hat. Das waren nicht 150 Stunden, wie mir die Familienministerin am Anfang sagte, es waren eben fast zwei Jahre Fulltime-Job ehrenamtlich, aber man macht das natürlich auch gerne. Das klingt jetzt vielleicht komisch bei dem Thema, aber es hat Sinn gemacht und ich konnte unabhängig arbeiten, was man in der Politik ja sonst nicht unbedingt kann. Da ist die Fraktion und hier und dies und jenes, wir haben es ja gerade wieder erlebt, wie das ist, wie die Abhängigkeiten sind in dem ganzen Bereich der Frauenquote. Aber ich konnte hier richtig unabhängig arbeiten, alle waren zufrieden, dass ich es mache, habe doch viel Unterstützung gekriegt, konnte mir meine Mitstreiterinnen, Mitstreiter raussuchen aus den Beratungseinrichtungen, aus der Wissenschaft, von denen ich wusste, das sind die, mit denen kann man das am besten machen. Und dadurch ist natürlich auch viel in Bewegung gekommen, muss ich schon sagen.

    Wentzien: Und Sie hatten die Erfahrung der praktischen Politik, die Ihnen natürlich ungeheuer geholfen hat!

    Bergmann: Klar, natürlich, ich wusste, jetzt ist der Zeitpunkt da, wo man was erreichen kann, jetzt sind sie alle unter Druck, jetzt muss was passieren, der Skandal liegt auf dem Tisch, also, jetzt kann man noch richtig ranklotzen!

    Ministerin für "Familie und Gedöns"
    Heute im "Zeitzeugen-Gespräch" des Deutschlandfunks Christine Bergmann, ehemalige Bundesfamilienministerin."Die volle Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern, das ist schon ein hohes Gut!" Als Bundesministerin im Kabinett von Gerhard Schröder und Rückblicke auf den realen Sozialismus der DDR.

    Wentzien: Sie waren als Bundesfamilienministerin tief im Westen und tief im Süden der Republik unterwegs, in kleinen Städten und Dörfern 1998 aufwärts, im rot-grünen Kabinett unter Gerhard Schröder. Und Sie kamen damals zu dem Schluss: "Ich hätte mir nie vorstellen können, wie konservativ es in manchen Landstrichen zugeht!" Was hat Sie damals so überrascht und womit mussten Sie aufgrund der Wirklichkeit dort im Südwesten oder tiefen Westen umgehen?

    Bergmann: Ja, ich bin ja ganz anders sozialisiert, ich komme ja aus einer Gesellschaft, die ich nicht unbedingt wiederhaben möchte, aber die den großen Vorteil hatte, dass die Erwerbsarbeit von Frauen und auch von Müttern, muss man da ja noch mal sagen, voll akzeptiert war. Also, keiner wäre auf die Idee gekommen, einer Vollzeit-erwerbstätigen Mutter vorzuwerfen, dass sie eine Rabenmutter ist, weil sie nicht rund um die Uhr sich ausschließlich um ihre Kinder kümmert. Das hatte natürlich auch ökonomische Notwendigkeiten, von einem Gehalt konnte man in der DDR auch den Trabbi nicht finanzieren. Aber die Frauen haben ihre Erwerbsarbeit schon schätzen gelernt und die damit verbundene Unabhängigkeit.

    Und das ist auch heute noch so, es gibt eine interessante Untersuchung vom Institut für demografische Forschung in Rostock, die haben verglichen Familienbilder Ost/West und haben festgestellt, das hat sich erhalten. Also, auch zwischen den Generationen gibt es da keine Konflikte, auch nicht zwischen Männern und Frauen. Also, die volle Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern, das ist schon ein hohes Gut. Und das heißt natürlich auch, das ist ja nur umzusetzen, wenn man eine entsprechende Infrastruktur hat, wenn die Rahmenbedingungen einigermaßen, also Kinderbetreuungseinrichtungen da sind, und zwar Ganztagseinrichtungen, nicht so eine Kitastelle, die da von früh um neun bis Mittag da ist und dann müssen die Kleinen wieder abgeholt werden.

    Berlin ist immer noch mal eine andere Situation, also, Westberlin hat immer auch hohe Frauenerwerbsarbeit gehabt und vielleicht nicht so ein tolles Angebot, aber irgendwo ging es. Aber wenn man da, als ich nach Süden kam und dann gab es für die unter Dreijährigen ein Prozent Betreuung, ach du liebe Güte, was ist denn das!

    Wentzien: Würden Sie sagen, da hat sich was verändert seither?

    Bergmann: Das hat sich verändert, da hat sich in den letzten gut zehn Jahren doch eine Menge verändert. Ich bin ja am Anfang immer, wenn ich auf die Kinderbetreuung eingegangen bin und das auch als Bundesthema haben wollte, vor allen Dingen eben auch für die unter Dreijährigen, beschimpft worden, ich wolle alle Kinder internieren, wurde mir schon vorgeworfen von einer großen, renommierten Zeitung.

    Wentzien: Mit den vier Buchstaben?

    Bergmann: Nein, hat nur drei!

    Wentzien: Aha!

    Bergmann: Also, ich wolle die Kinder internieren, die armen Kleinen. Wollte ich gar nicht, aber bei einem Prozent Angebot haben die Mütter ja überhaupt keine Möglichkeit, einer Erwerbsarbeit nachzugehen! Und das ist schon bitter und zahlt sich ja über das ganze Leben, wie wir eben wissen, doch sehr negativ aus. Aber da hat sich einiges geändert, wobei ich glaube, dass vor allen Dingen es den Schub gegeben hat, als plötzlich klar wurde, dass die Bevölkerungsentwicklung so negativ ist. Also, Hilfe, wir sterben aus, plötzlich war das dann ein Thema, muss man vielleicht doch was tun für die bessere Vereinbarkeit, woran liegt das, dass Frauen – übrigens mehr Männer noch als Frauen – sich weniger für Kinder entscheiden, und gucken in andere Länder, warum geht es da.

    Wentzien: Mit einem Mal gehört die Frauen die Hälfte des Himmels, weil die Demografie es diktiert!

    Bergmann: So ist das!

    Wentzien: Optimistisch war jetzt der Ausblick, Sie sagen, es hat sich was verändert und es hat sich auch in den letzten zehn Jahren dann noch mal mit Zeitraffer was …

    Bergmann: Ja, da muss sich auch in den Köpfen was verändern. Also dazugehört, das ist ja immer das Schwierige bei diesen Themen, wo man sagt, da muss man immer ackern und ackern und ackern und hoffen, dass also endlich das einmal über die Reizschwelle geht. Und wenn ich manche Diskussionen mir heute noch anhöre, da denke ich, du liebe Güte, da sind wir doch nun seit mindestens 20 Jahren drüber raus!

    Wentzien: Fragen Ihre Enkel nach den drei Buchstaben DDR, und wenn ja, wie erklären Sie diese drei Buchstaben?

    Bergmann: Das ist gar nicht einfach. Das ist gar nicht einfach, ich habe auch schon eine Menge so Projekttage mitgemacht an Schulen, wenn Schulen kamen … Also zu erklären, wie das Leben in einer Diktatur ist, ist schwierig bei Zehnjährigen, oder meine Enkel sind jetzt 16. Ich erzähle dann da meistens, ich sage, ihr habt doch hier alle Jeans an. Ja, sage ich, wisst ihr, wir hätten nicht gewagt, mit Jeans in die Schule zu gehen. Wir hatten alle eine von irgendeiner Oma oder Tante aus dem Westen, aber dass Jeans, das war das Kleidungsstück des Klassenfeindes ungefähr und da wurde man ausgezählt. Das war schwierig. Oder mit einer Westtüte in die Schule zu gehen. Also, diese lächerlichen, kleinen Dinge, an denen man aber deutlich machen kann, wie ein solches System bis ins Einzelne hinein funktioniert. Also nicht nur die Einstellung, Ideologie oder was auch immer, sondern wirklich bis ins normale Leben rein versucht zu gängeln und vorzuschreiben. Das leuchtet denen dann meistens ein.

    Ich bin auch schon gefragt worden von Schülern, ja, warum haben Sie denn nicht, wenn Ihnen die Partei nicht gefiel, einfach eine andere gegründet? Ich sage, ja, wenn das gegangen wäre, dann hätten wir nicht so lange Diktatur gehabt, mit Sicherheit! Ja, warum … Wie das so funktioniert und wofür manche Menschen auch ins Gefängnis gekommen sind. Ich kam ja nach Leipzig in die Studentengemeinde zu einer Zeit, als der Studentenpfarrer ein paar Monate vorher verhaftet war und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde wegen Boykotthetze. Er hat irgendetwas gesagt, was dem DDR-Oberen nicht gefiel. Und solche Beispiele kann man den Kindern erzählen, aber es ist schwer.

    Wentzien: Wie werden das Ihre Enkelkinder deren Enkeln erzählen, was meinen Sie?

    Bergmann: Tja, das wird wahrscheinlich noch schwieriger werden. Ich freue mich immer, wenn es auch mal … Also, Bücher sind, glaube ich, hilfreich, also wenn man so Situationen beschreiben kann, auch Filme. Also, wir haben immer noch relativ wenig richtig gute Filme, meist geht es dann um die Stasi herum, das ist natürlich auch ein wichtiges Thema, aber es ist nicht der DDR-Alltag gewesen. Aber so dieser normale DDR-Alltag, wie hat der funktioniert, wie war das, wenn die in der Schule früh erst mal zum Appell antreten mussten, und wie war das, wenn die Studenten zum sozialistischen Studentenlager geschickt wurden, und was hat man da erlebt, ich glaube, da kann man das ein bisschen vermitteln, aber es ist immer dann ganz spannend, wie man eben sich ansonsten … Weiß nicht, ansonsten lesen sie Fantasy und dann lesen sie eben mal was über die DDR!

    Von Rabenmüttern und Betreuungsquoten
    Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen-Gespräch". Heute mit der ehemaligen Bundesfamilienministerin Christine Bergmann. "Man darf eigentlich ohne diese historische Geschichte, also ohne die Geschichte nicht auskommen." 150 Jahre Sozialdemokratie in Deutschland, Anmerkungen zur aktuellen Lage und Frauenthemen, Frauenfragen.

    Wentzien: Wir haben noch ein knappes halbes Jahr bis zur Bundestagswahl und die Stimmung bei den drei Buchstaben SPD ist schlecht. Die Umfragen gehen auch noch weiter in den Keller, in den Medien gibt es für den Spitzenkandidaten Mitleid auf der einen, aber auch schon mal richtig kommentierte Lächerlichkeit auf der anderen Seite, und das alles im Geburtstagsjahr der SPD, die nämlich im Mai, am 23. Mai in Leipzig ja 150 Jahre feiern wird. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diesen Zustand Ihrer Partei sehen?

    Bergmann: Ja, ich würde es nicht ganz so negativ sehen, weil ich natürlich auch die Stimmung erlebe, auch bei mir in meiner Abteilung, wo ich nun so oft nicht bin, aber trotzdem, oder in dem Umfeld, und ich denke, es ist noch ein halbes Jahr und es geht eigentlich auch nicht immer nur darum, wie sieht das mit der nächsten Wahl aus. Sie haben etwas angesprochen, so, was ist denn eigentlich SPD heute, 150 Jahre, stolze Geschichte, stolze Geschichte! Und da sehe ich, dass im Moment die SPD wirklich die eigenen Themen wieder gut aufgegriffen hat: Mindestlohn, SPD, das Thema Arbeit war immer ein Thema für die Sozialdemokraten. Da ging es früher immer um zu viel Arbeit, um zu schlecht bezahlte Arbeit, geht es heute wieder, und um zu lange Arbeitszeiten. Und jetzt zu sagen, dass Menschen, dass es auch ein Stück Würde für Menschen bedeutet, von ihrer Hände Arbeit auch leben zu können. Also, dass man herangeht an das Thema Mindestlohn jetzt, das halte ich schon für ein ganz wichtiges Thema.

    Wentzien: Aber Sie sagen es, diese nachdenklichen Stimmen gibt es ja auch in der Partei, gar keine Frage. Und wenn man jetzt das Jubiläum hat, kann man da ja vielleicht auch ein bisschen mehr dran arbeiten. Eine nachdenkliche Stimme stammt zum Beispiel von jemandem, den Sie auch gut kennen und schätzen, das weiß ich, nämlich dem Chef der Historischen Kommission der SPD, von Bernd Faulenbach, der sagt aber, Frau Bergmann, innerhalb der SPD ist das Gefühl eines historischen Auftrags verloren gegangen und viele SPDler kommen heute ohne Geschichte aus. Hat er recht?

    Bergmann: Man darf eigentlich ohne diese historische Geschichte, also ohne die Geschichte nicht auskommen. Das würde ich sagen, das ist sicher ein Versäumnis auch der letzten Jahre, dass das zu wenig gepflegt wurde. Also was ist eigentlich unsere Traditionslinie, wo sind unsere eigenen Themen, ohne sozusagen aus der Zeit rauszufallen. Denn natürlich ist heute SPD was anderes als vor 150 Jahren, das ist ja ganz klar, aber ich glaube, da wird sich einiges noch berappeln. Und ich habe ja nun wirklich in meinem Leben Phasen erlebt, wo ich dachte, jetzt ist es ganz furchtbar, und da war es eigentlich gerade die SPD, die mir Hoffnung gegeben hat. Ich denke mal an ‘68, ‘68 war ja in der DDR schrecklich, der Prager Frühling war gerade erstarrt, es war eine Depression, die kann man sich heute kaum mehr vorstellen, und da gab es die SPD. Da gab es Willy Brandt und da gab es Egon Bahr und die mit diesen, was ihnen ja, was ja sehr kritisiert wurde, also dieser Wandel durch Annäherung, die Politik der kleinen Schritte. Und ich sehe, wo diese kleinen Schritte hingeführt haben. Einen Großteil haben die dazu beigetragen, dass wir zur Friedlichen Revolution gekommen sind. Und ich denke, vor diesem Hintergrund muss sich die SPD auch wieder berappeln.

    Wentzien: Also, das wäre Ihr Appell, erinnert euch, woher wir kommen, dann wissen wir auch, wohin wir gehen.

    Bergmann: Ja, natürlich!

    Wentzien: Und Ihr Appell Richtung Willy-Brandt-Haus, Wahlkampfteam Peer Steinbrück, was sollen die Damen und Herren tun?

    Bergmann: Ich glaube, die machen das eigentlich schon ganz gut, wirklich auf die Menschen zugehen. Das ist es. Also, ich habe ja Wahlkampf eigentlich immer gerne gemacht, auch so die Dinge, so früh um sechs irgendwo an der U-Bahn Material verteilen, da kriegt man so mit, wie die Stimmung ist. Ob einem jemand das aus der Hand nimmt. Das Schlimmste ist ja, wenn einem Niemand mehr was aus der Hand nimmt, also sagen, mit euch wollen wir gar nicht, mit euch streiten wir noch mal mehr! Und das sehe ich nicht zurzeit, also da wird schon durchaus diskutiert. Und das sind die Themen eben, Arbeit, Mindestlohn oder in Berlin auch das Thema, aber in anderen Städten auch, bezahlbarer Wohnraum. Also, auch das sind natürlich Themen, die die Lebenswirklichkeiten der Menschen, das Leben der Menschen bestimmen.

    Wentzien: Und ganz konkrete Tipps für diese Mannschaft rund um Peer Steinbrück oder für den Kandidaten selbst, hätten Sie die auch noch?

    Bergmann: Ja, er muss sich natürlich um die Frauen kümmern, das ist ganz klar. Das sind immerhin 50 Prozent der WählerInnen, der Wählerschaft, muss ich jetzt sagen, um es grammatikalisch richtig zu machen. Ja, die Frauenthemen sind schon wichtige Themen!

    Wentzien: Warum hat die SPD bei all diesen historischen Verdiensten und potenziellen Möglichkeiten in der Zukunft es eigentlich noch nicht geschafft, was die CDU geschafft hat, nämlich eine Frau an die Spitze zu stellen?

    Bergmann: Da haben meine eigenen Leute natürlich auch einiges versäumt in den letzten Jahrzehnten, das muss man eigentlich ganz klar sagen. Wobei wir schon eine ganze Menge Frauen haben in der SPD, die es ziemlich weit gebracht haben. Die also in Ministerämtern, vor allen Dingen, wenn man denkt an Hannelore Kraft, die fällt einem da immer als Erstes ein, so viele davon haben wir auch nicht, das weiß ich auch, klar, ich glaube, auch da kann man durchaus noch eine Kohle zulegen.

    Wentzien: Wann in den nächsten 150 Jahren gibt es eine Spitzenkandidatin der SPD für eine Bundestagswahl?

    Bergmann: Na, ich bin keine Hellseherin, aber …

    Wentzien: Hoffnungsfroh?

    Bergmann: Das wird nicht lange dauern, natürlich!

    Wentzien: Wie oft haben Sie als Bundesministerin in der Zeit von ‘98 aufwärts bei vielen Treffen am Rande des Kanzleramtes mit Spitzenvertretern der Wirtschaft immer wieder zum Thema Gleichstellung, Frauen, Unterstützung von Frauen und der Lebenswirklichkeit von Männern und Frauen in diesem Land gedacht, warum, Himmel, bewegt ihr euch nicht? Die großen Karossen sind immer nach diesen Treffen, ich erinnere mich sehr gut, rausgefahren, weggefahren und ich könnte mir vorstellen, dass Sie dann danach immer gedacht haben, ja, Himmel, wann bewegen die sich endlich!

    Bergmann: Ja, ich sagte vorhin ja schon, es ist, es muss sich in den Köpfen so viel ändern. Das ist ein richtig mühsamer Prozess, das haben wir gesehen bei dem Thema Kinderbetreuung, ehe es so in den Köpfen einigermaßen drin ist, in den Westköpfen, muss ich jetzt sagen, dass das gar nicht des Teufels ist, wenn Kinder ein paar Stunden am Tag nicht fremdbetreut - das Wort Fremdbetreuung ist schon so verräterisch, wenn ich Fremdbetreuung höre, denke ich immer, was ist denn das, da denkt man immer, die Kinder werden im nächsten Moment jetzt irgendwo gemartert! Sondern eben in einer guten Bildungs- und Betreuungseinrichtung versorgt werden und auch gefördert werden. Also, wie lange das gedauert hat, bis das so einigermaßen geschluckt wurde, und in dem Bereich der Wirtschaft ist es eben noch mal besonders schwierig. Und das Thema habe ich ja angefangen, wohl wissend, dass es nicht sicher ist, ob ich die Runde gewinne.

    Aber man muss ja anfangen, einer muss ja anfangen, der muss den Bohrer an das Brett setzen und anfangen, das Brett zu bohren. Wir haben das ziemlich gut vorbereitet, haben eigentlich viele Veranstaltungen gemacht mit der Wirtschaft zusammen, auch mit Unternehmen, es gibt ja auch ein paar Vorzeigeunternehmen, die das gut machen. Ich denke immer, wenn so ein Arbeitsdirektor erzählt, wie gut das für das Unternehmen ist, Frauen auch in den Führungspositionen zu haben und auch die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dann ist das immer besser, als wenn die Frauenministerin das sagt. Aber es geht nicht rein in die Köpfe! Und nach wie vor bin ich ja der festen Überzeugung, wir müssen es gesetzlich regeln, sonst passiert es nicht. Obwohl mittlerweile ja auch schon Fachkräftemangel herrscht, obwohl die Frauen gebraucht werden. Aber das fällt unwahrscheinlich schwer. Das ist natürlich auch ein Abgeben von Macht, von Einfluss von Männern. Und da sind wir wirklich an dem Punkt, wo es offensichtlich nach wie vor wehtut. Und wenn da nicht wirklich richtig politischer Druck gemacht wird – und der ist ja, als ich das damals gemacht habe, war der politische Druck ja auch mager, um es mal sehr freundlich auszudrücken, es war durchaus nicht so, dass der Kanzler nur Hurra geschrien hat, wir müssen jetzt was machen!

    Wentzien: Nein, er hat das ja ganz anders kommentiert, ja, da kommen wir gleich drauf!

    Bergmann: Aber auch die Gewerkschaften haben pflichtschuldig einen Brief geschrieben, aber ansonsten … Ja, das Betriebsverfassungsgesetz ist uns erst mal wichtiger, das muss jetzt vielleicht nicht sein! – So, aber inzwischen ist natürlich die Diskussion schon weitergegangen. Nicht gerade mit vollem Nachdruck, aber mindestens unter den Frauen. Auch die Medienfrauen haben da viel zu beigetragen, sodass es jetzt schwerer ist, sich davonzustehlen. Also, es geht schon weiter.

    Wentzien: Und jetzt kommt die CDU und schreibt die Quote fest im Jahre 2020 aufwärts im Programm. Ärgert Sie das?

    Bergmann: Na ja, das ist nun so eine Mogelpackung, also, das ärgert mich nicht. Aber es ärgert mich schon, dass auch in den Zeiten, als die SPD an der Regierung war, nicht mehr Nachdruck hier gemacht hat! Also, dieses hier, das stört mich jetzt weniger, denn bei dem, was jetzt im Bundestag verhandelt wurde, waren die Anträge von der SPD sehr viel weitergehender, also, die hat das mittlerweile, denke ich, gut auf dem Schirm. Aber es hätte durchaus ein bisschen früher passieren dürfen, wäre auch nicht so schlimm gewesen!

    Wentzien: Jetzt kommen wir mal zu dem Mann, der sich in Ihrem Buch jetzt im Nachgang noch mal wieder ganz anders aufgestellt hat, der heißt nämlich Gerhard Schröder und würde von heute aus dann Altkanzler bezeichnet werden. Als Sie damals vorpreschten, und zwar sehr kontinuierlich an diesem Thema immer entlang, nämlich als Bundesministerin, seine Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, da sagte er, das sei ein Ressort für Gedöns. Haben Sie den Regierungschef mal zur Rede gestellt?

    Bergmann: Er sagte, für Familie und das andere Gedöns, so war das ungefähr. Ja, natürlich können Sie sich schon ungefähr vorstellen, welche Antwort man dann kriegt. Ich habe ja auch immer Schwierigkeiten gehabt damit, oder andere haben immer Schwierigkeiten gehabt, Familie, Senioren, Frauen und Jugend auseinanderzuhalten, in der richtigen Reihenfolge zu benennen. Aber das drückt natürlich schon ein Stück Missachtung aus des gesamten Ressorts. Und Sie haben das ja gelesen, in dem Buch drückt er sich dann anders aus. Ich glaube schon, dass im Laufe der Legislaturperiode auch klar geworden ist, dass die Themen Familie, Frauen schon welche sind, die nun alle bewegen. Aber der Einstieg war schon schwierig, weil so immer noch die alte Meinung herrschte, ja, das ist ein weiches Ressort, so ungefähr. Familie, ja, kommt dann schnell mal das Wort Gedöns dazu. Mindestens verbal.

    Wentzien: Wie muss ich mir das vorstellen? Also, jetzt stellt der sich dann vor den Zaun des Kanzleramtes damals und sagt, dieses Ressort da mit Familie und Gedöns, Sie hören das und dann gehen Sie rein zu ihm, ich nehme an, Sie rauschen rein zu ihm ins Zimmer, wie muss ich mir das vorstellen?

    Bergmann: Ach nein, so können Sie sich das … Das ist ja gefallen, als es irgendwie um die Schattenmannschaft ging, also bevor wir überhaupt an der Regierung waren. Da wurde das bei irgendeiner Runde, bei der ich nicht dabei war - ich habe es dann auch nur von anderen gehört oder aus der Presse entnommen. Ja, ich habe ehrlich gesagt, ich habe das erst mal gar nicht so ernst genommen, weil ich sagte, na ja, Gott, was soll’s. Ich weiß, dass ich eine anständige Arbeit machen kann, und fertig! Ich habe das unterschätzt eigentlich, dass einem so ein Wort dann anhängt, ewig! Das ist einfach so, das kriege ich … Jedem fällt ein, bei Schröder, Familie, kommt als nächstes Gedöns.

    Wentzien: Dabei ist es so, wir haben von der Wirtschaft gesprochen, dass in der mittelständischen Wirtschaft längstens erkannt wird, was der Arbeitsdirektor, den Sie zitiert haben, aus anderen Unternehmen weiß, nämlich dass gemischte Teams, gemischte Aufstellungen ganz andere Ergebnisse zeitigen und dass es nicht nur den Familien, den Männern, Frauen und Kindern, sondern auch den Unternehmen, die das tun, gut geht. Und dabei ist es längstens so, dass auch Herr Schröder dann schlussendlich gesagt hat – er soll jetzt noch mal ganz kurz zitiert werden –: "Ich habe gelernt, auch dank der Arbeit von Christine, wie wichtig dieses politische Thema für die Zukunft unserer Gesellschaft ist." War oder ist dieser Schnellmerker Schröder, der ja jetzt heute natürlich was ganz anderes sagt, typisch für eine bestimmte Generation von Männern und vielleicht auch noch weiterhin, für so eine unterschwellige Existenz? Sie haben vorhin ja gesprochen auch von den Männern, die Angst haben davor, dass da so eine Frauenpower auf sie zurollt.

    Bergmann: Ja, die sind ja auch in einer Weise sozialisiert, die das sehr gefördert hat. Wir haben über das Thema Frauen und Arbeit schon gesprochen, also, den Begriff Zuverdienerin, den habe ich erst 1990 gelernt. Ich wusste nicht, was eine Zuverdienerin ist. Also, die sind sozialisiert und Schröder ist ja auch nicht mit dem goldenen Löffel oder silbernen Löffel geboren worden und hatte eine Mutter, die schwer arbeitete, aber in dem eigenen Umfeld waren offensichtlich sie immer diejenigen, die das Geld nach Hause brachten, und die Frauen die, die sich überwiegend um die Familie kümmerten. Und dieses Familienbild – und das ist gar nicht, da steht Schröder schon für eine ganze Generation Männer, auch der sozialdemokratischen, die haben auch erst mal lernen müssen, wohl gemerkt, also der westdeutschen sozialdemokratischen, muss ich dazu immer wieder sagen, Männer.

    So, dass aber jetzt Frauen andere Vorstellungen haben, dass auch andere Gesellschaftsbilder, andere Familienbilder kommen, die werden jetzt alle munter oder schneller munter, wenn sie Töchter haben, die gut ausgebildet sind, die einen vernünftigen Job haben wollen, die auch eine Familie haben wollen und sagen, na, was ist denn das jetzt, wo ist denn jetzt hier mein Betreuungsplatz, damit ich auch vernünftig meinen Beruf ausüben kann, Karriere machen kann und so weiter. Also, das ist meine Erfahrung – wir haben viel ja auch mit Unternehmen zusammen gemacht –, dass das zu dem Lerneffekt ganz erheblich beiträgt bei Männern.

    Also, da ist eine Generation noch am Werke gewesen und das ändert sich aber mit der nächsten Generation, die natürlich meistens nicht diejenigen sind, die in den Unternehmensvorständen sitzen, aber in den Partnerschaften, habe ich festgestellt bei meinen Kindern oder auch in dem Umfeld, da wird schon sehr viel mehr geteilt die Arbeit. Nicht 100 Prozent, aber das sieht schon anders aus. Und da fällt das dann auch leichter. Also, hier ist ein richtiger, ja, auch ein Lerneffekt schon da. Und da haben einige schon gelernt in den letzten Jahren, denke ich schon. Aber sind natürlich auch Nützlichkeitserwägungen. Wenn man sagt, also, wenn ich jetzt hier einen Ingenieur brauche oder eine Ingenieurin und jetzt kriege ich aber nur eine Frau, dann nehme ich vielleicht doch die Frau. Besser als nichts ist es ja immer!

    In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Birgit Wentzien im Gespräch mit Christine Bergmann.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Wahlkampfauftakt in Hannover, 13.8.2005
    Er bezeichnete das Ressort von Bergmann als "Familie und Gedöns": Altbundeskanzler Gerhard Schröder (AP)

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