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"Ich höre mehrere Seiten, das nimmt man mir übel"

In seinem Buch "Freiwild" nimmt der Journalist und frühere Odenwaldschüler Tilman Jens den damaligen Schulleiter der Reformschule in Heppenheim in Schutz und wird dafür heftig kritisiert. Laut Jens habe Rektor Harder die Übergriffe auf Kinder "wirklich aufarbeiten" wollen - mit Vertuschung habe "das überhaupt nichts zu tun".

Tilman Jens im Gespräch mit Friedbert Meurer | 23.05.2011
    Friedbert Meurer: Heute kommt ein Buch in den Verkauf, das der Journalist Tilman Jens über die Odenwaldschule geschrieben hat. "Freiwild" lautet der Titel. Mit Freiwild sind gemeint einerseits die etwa 130 Schüler, die im Laufe der Jahre von ihrem Schulleiter Gerold Becker und anderen Lehrkräften sexuell missbraucht wurden, so wie dieser:

    O-Ton Schüler: Ich kenne noch so Szenen: Der ist dann zu mir gekommen, hat sich an mein Bett gesetzt, im Bademantel kam der hoch, und da musste ich sein Glied mit dem Mund befriedigen.

    Meurer: Erinnerungen eines Opfers. Tilman Jens hat selbst die Odenwaldschule zwei Jahre lang besucht und er meint mit Freiwild nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer, gegen die es eine Hetzjagd in den Medien gebe. Im Vorfeld hat zum Beispiel die "taz" dem Autor vorgeworfen, ein Lehrstück der Schuldumkehr geschrieben zu haben. – Ich habe Tilman Jens gefragt, ob ihm klar war, dass er mit seinen Behauptungen über ein Kesseltreiben der Medien die Opfer an der Odenwaldschule provoziert?

    Tilman Jens: Eigentlich nicht, denn das Wort Freiwild richtet sich ganz explizit nicht irgendwie auf die Täter, bezieht sich nicht auf die Täter. Das Wort Freiwild bezieht sich zum einen – es taucht zweimal auf in dem Buch -, es bezieht sich zum einen auf die Opfer von Gerold Becker und zum anderen in der Tat auf einen, wie ich denke, zu Unrecht beschuldigten Lehrer dort. In der Tat: Der ist kein Täter. Also Freiwild und Täter, never.

    Meurer: Welche Lehrer sind da oder welcher Lehrer ist da zu Unrecht an den Pranger gestellt worden?

    Jens: Da gibt es mehrere, aber zum Beispiel auch der frühere Schulleiter Wolfgang Harder, der einen Fehler gemacht hat, indem er damals, 1999, als die Missbrauchsfälle zum ersten Mal bekannt wurden, die Sache nicht offensiv nach außen vertreten hat. Er wollte die Schule schützen, es ist ein nachvollziehbarer Fehler, aber es bleibt ein Fehler, er hätte offensiv in die Öffentlichkeit gehen müssen damals. Aber er wird jetzt als Täterschützer beschimpft.

    Meurer: Ist er das nicht gewesen?

    Jens: Nein, ist er definitiv nicht gewesen. Es gibt keine expliziten nachweisbaren Punkte, wo man sagen könnte, er hat etwas gewusst vorher. Also er bestreitet dieses sehr glaubhaft. Ich finde es furchtbar, dass eben niemand, ... dass immer nur auf die Opfer ... Man muss die Opfer endlich hören! Ich kann auch so unglaublich gut verstehen, ich habe mit vielen gesprochen, dass sie endlich raus wollen mit ihrer Wahrheit und mit dem, was ihnen angetan worden ist. Aber um den Fall zu beurteilen, kann ich mich nicht nur auf Quellen von einer Seite berufen.

    Meurer: Da Ihr Buch ein bisschen wie eine Verteidigungsschrift wirkt, ...

    Jens: Nö!

    Meurer: Doch, meine ich schon!

    Jens: Nein!

    Meurer: Bleiben wir bei Wolfgang Harder. Der war ja Schulleiter nach Gerold Becker und ich glaube bis 1999. Und ein Jahr vorher, 1998, haben erste Schüler berichtet über Missbrauchsfälle. Harder wollte das intern lösen. Muss man da nicht sagen, damit hat er dann doch die Täter geschützt?

    Jens: Nein. Er wollte es nicht intern lösen, er wollte es intern aufklären. Das Problem war, dass er dann eben 1999 in Ruhestand gegangen ist, dann kam ein neuer Schulleiter. Er hat gesagt, wir arbeiten das erst einmal intern auf. Das war ein Fehler, aber mit Vertuschung hat das überhaupt nichts zu tun. Er wollte wirklich aufarbeiten.

    Meurer: Ich greife das noch mal auf mit der Verteidigungsschrift, weil Sie das ein bisschen an die Decke gebracht hat, Herr Jens.

    Jens: Nein gar nicht an die Decke, nur es stimmt nicht!

    Meurer: Also Sie schreiben beispielsweise über Gerold Becker, den Haupttäter. Ich zitiere: "Bei Gerold Becker hat es als Schüler gereicht zu sagen, du, ich möchte das nicht."

    Jens: Oh oh oh oh!

    Meurer: Exkulpiert das Becker in irgendeiner Art und Weise, dass er dann in diesen Fällen die Schüler in Ruhe gelassen hat und andere nicht?

    Jens: In keiner Weise. Sie zitieren ein Zitat. Ich sage, ein Schüler sagt, es war so. Andere sagen, und die werden genauso zitiert, er hat mich in seiner Wohnung eingeschlossen. Also ich exkulpiere überhaupt nichts. Ich benenne das, was Gerold Becker getan hat, ich sage, es ist ein Verbrechen, explizit sexuelle Gewalt. Also sozusagen daraus, nur weil ich nicht nur die Täter unisono höre, und weil ich auch sage, es gibt Täter, die in der Tat es mit der Wahrheit nicht sehr genau nehmen, der Bildhauer Gerhard Roese aus Darmstadt, diesen Fall dokumentiere ich, der neun Lehrer belastet hat, aus eigener Anschauung kann ich berichten, dass, und sieben dieser Anschuldigungen zwei Monate später fallen lassen musste. Ich höre mehrere Seiten, das nimmt man mir übel. Gut, damit muss ich leben.

    Meurer: Sie schreiben, Herr Jens, manches Opfer wagt nun, in ungebremst gewalttätigen Fantasien der Rache zu schwelgen. Sind solche Fantasien nicht verständlich, wenn jemand traumatisiert ist, dass er sich dann vorstellt, wie sein Peiniger selber gequält wird?

    Jens: Ja, natürlich. Nur man muss es benennen. Also wer sagt, ich träume davon, dem einen spitzen Bleistift ins Auge zu rammen, dann muss man sagen, das sind Gewaltfantasien, die dieses Verbrechen ausgeübt hat. Ich werfe das keinem Opfer vor, nur es ist gewiss nicht die Wahrheit, es ist nicht der Umgang damit. Stellen Sie sich vor, also ich kann sehr gut verstehen, dass etwa Marianne Bachmeier den Mörder ihres Kinder erschossen hat. Ich kann das nachvollziehen. Aber zur Bundesjustizministerin sollte man sie vielleicht doch nicht ernennen.

    Meurer: Aber die Opfer haben ja niemanden erschossen, oder sich wirklich in Realität gewehrt?

    Jens: Nein!

    Meurer: Es bleibt ja bei Fantasien.

    Jens: Es bleibt bei Fantasien, die muss man benennen. Ich habe sie auch deswegen zitiert, um einfach zu zeigen, wie tief die Traumata sind. Ich kann mich dem nicht anschließen, aber ich kann das natürlich verstehen.

    Meurer: Die ganze Geschichte ist dann medial ja aufgekommen, die Vorwürfe also gegen Lehrer an der Odenwaldschule, im Jahr 1999, Ende 1999, durch einen Artikel in der "Frankfurter Rundschau", der aber kaum beachtet wurde und in Vergessenheit geriet. Da schreiben Sie, Sie hätten damals, als Sie den Artikel gelesen haben, Mitleid für Gerold Becker empfunden, für den Schulleiter damals.

    Jens: Ja.

    Meurer: Das war ein schwerer Fehler, räumen Sie das ein?

    Jens: Aber selbstverständlich! Das schreibe ich ja auch. Das war ein ganz gravierender Fehler. Damals war ich wie viele blind. Nicht nur alte Odenwaldschüler waren taub und blind, haben diesen Artikel, der wirklich dezidiert war, nicht für Recherchen aufgegriffen; auch die Kollegen, selbst im Deutschlandfunk, wurden nicht richtig aktiv.

    Meurer: Lag das daran, dass zu viele Odenwaldschüler, ehemalige Odenwaldschüler, an einflussreichen Stellen in den Medien saßen und ihre alte Schule nicht beschmutzt sehen wollten?

    Jens: Also so unisono besetzt sind die Medien nicht von Odenwaldschülern. Das glaube ich nicht. Ich denke, da hat ganz viel eine Rolle gespielt. Zum einen: Wir waren uns der Größe dieses Verbrechens nicht bewusst, auch der Umfänglichkeit nicht. Ich denke aber auch, da spielen ganz spezielle zeitspezifische Dinge eine Rolle, also der Wormser Prozess, weit über 20 Leute hinter Gittern gebracht wegen vermeintlicher Kinderschändung, die mussten alle freigelassen werden wegen erwiesener Unschuld. Man war vorsichtig damals, sozusagen da auf dieses Thema draufzuspringen. Dennoch: Man hätte es tun müssen. Es ist grotesk, dass weder "Bild", noch die "FAZ", noch der "Spiegel", noch sonst irgendein Blatt oder die großen Radiostationen da eingestiegen sind, und da darf ich mich nicht ausnehmen. Ich war damals schon Journalist.

    Meurer: Wenn Sie die Zeiten in Erinnerung rufen, Herr Jens, die 70er-Jahre, das Zeitalter sexueller Libertinage, Befreiung, hat das einige Lehrer zum Missbrauch ermuntert?

    Jens: Ja. Zumindest hat es ... also ich würde nicht sagen, dass das Schuld war, aber es erklärt natürlich zumindest bei einigen einiges, also die Entklemmung und jetzt kann ich alles ausleben. Es erklärt aber vor allen Dingen, glaube ich, warum wir weggeschaut haben damals. Wir haben gesagt, wir sind doch keine Spießer, wir verachten doch keine Homosexuellen, die sind lang genug verfolgt worden. Wir haben nicht hingeschaut und Indizien gab es genug. Also man stelle sich vor, der Musiklehrer Held - die Odenwaldschule war eine koedukative Anstalt, Jungs und Mädchen immer zusammen -, in dessen Familie (also das waren die Wohneinheiten an der Odenwaldschule) sind ausschließlich Knaben zwischen 12 und 15 Jahre aufgenommen worden. Dass da niemand hellhörig geworden ist, auch wir Schüler nicht, das ist schon eklatant, das hat viel mit dem Zeitgeist zu tun.

    Meurer: Diese Welt bleibt Ihr Sehnsuchtsort, Herr Jens, diese Schule?

    Jens: Ja die Schule war ja nicht nur Missbrauch, die Missbrauchsschule bestimmt nicht. Es war eine verdammt gute Zeit, na klar. Also ich kam aus einem baden-württembergischen Gymnasium, grauenhaft autoritär, dort diskutierten wir, lasen Adorno, Beckett, was auch immer. Es war schon eine faszinierende Umgebung. Die Schattenseiten habe ich, auch ich damals nicht gesehen.

    Meurer: Das war Tilman Jens, Journalist, Autor des Buchs "Freiwild" über die Odenwaldschule, das heute in den Verkauf kommt. Und wenn ich am Anfang gesagt habe, er war zwei Wochen Schüler der Odenwaldschule, das stimmt natürlich nicht; es waren zwei Jahre.