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"Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein vernünftiger Ausgleich stattfinden soll"

Sie könne der künftigen Regierung nicht dankbar sein, dass Mitbestimmung und Kündigungsschutz nicht geschleift werden, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VDK Deutschland. Stattdessen beklagt sie, dass Arbeitgeber zu Ungunsten von Arbeitnehmern und Rentnern entlastet werden.

Ulrike Mascher im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Gerade erst ist er unterzeichnet, und doch stößt der Koalitionsvertrag von Union und FDP schon jetzt auf Widerstand: bei Sozialverbänden etwa, bei Gewerkschaften und bei Politikern der Opposition. Sie alle beklagen eine soziale Schieflage. Ganz anders die Protagonisten der neuen Koalition, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, FDP-Chef Guido Westerwelle und der Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer.

    O-Ton Angela Merkel: Wir haben nicht umsonst das Schonvermögen bei Hartz IV auch hochgesetzt, weil wir auch mit bestimmten Ungerechtigkeiten aufgeräumt haben.

    O-Ton Guido Westerwelle: Dass wir jetzt in der schwarz-gelben Regierung die gröbsten Ungerechtigkeiten bei Hartz IV sofort beseitigt haben, die die SPD nie angegangen ist, zeigt doch, dass das wirklich Klischees sind, die mit der Realität nichts zu tun haben.

    O-Ton Horst Seehofer: Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich mit der sozialen Ausrichtung dieser Koalitionsvereinbarung äußerst zufrieden bin. Die "kleinen Leute", leistungsbereiten Leute werden in diesem Koalitionsvertrag durch die Realisierung der sozialen Marktwirtschaft sehr, sehr gut berücksichtigt.

    Barenberg: Wie sozial und ausgewogen ist also die politische Agenda von Schwarz-Gelb? Am Telefon begrüße ich Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VDK Deutschland. Einen schönen guten Morgen, Frau Mascher.

    Ulrike Mascher: Guten Morgen!

    Barenberg: Frau Mascher, Verbesserungen für Hartz-IV-Empfänger, mehr Geld für Familien mit Kindern. Die künftige Koalition beseitigt Ungerechtigkeiten. Sind das nicht alles Anzeichen dafür, dass die neue Regierung es ernst meint mit der sozialen Balance?

    Mascher: Wenn man genau diese beiden Punkte, die Sie jetzt ansprechen, sich anguckt, dann stimmt da und in sich die soziale Balance nicht. Mehr Geld für Kinder sieht eben so aus, dass diejenigen, die steuerliche Freibeträge in Anspruch nehmen, am meisten davon profitieren, und das sind diejenigen, die hohe Einkommen, hohe Steuerzahlungen haben. Dann gibt es eine Gruppe, die hat was von dem erhöhten Kindergeld. Aber die Gruppe, wo über eine Million Kinder in Armut leben, die hat von diesem Kindergeld überhaupt nichts, weil das ja auf die Regelsätze angerechnet wird. Da stimmt die soziale Balance schon in sich überhaupt nicht.

    Barenberg: Das heißt, die Verbesserungen, die in Aussicht gestellt sind, für Empfänger von Hartz-IV-Leistungen beispielsweise, die reichen Ihnen bei weitem nicht aus?

    Mascher: Dieses Schonvermögen, was da jetzt auf das Dreifache erhöht wird, das ist eine Fallkonstellation, die tritt etwa in zwei Prozent der Fälle, wo Menschen Grundsicherung wegen Arbeitslosigkeit in Anspruch nehmen, auf. Das ist ein Problem ohne Zweifel, aber das ist nicht das zentrale Problem. Das zentrale Problem bei den Hartz-IV-Regelsätzen ist, dass die Regelsätze zu niedrig sind, dass sie insbesondere - und da läuft ja ein Verfahren vorm Bundesverfassungsgericht - für Kinder rein schematisch festgesetzt sind und dadurch den Bedürfnissen, dem Bedarf von Kindern nicht gerecht werden, und etwas, was ich als sehr dramatisch empfinde, wird überhaupt nicht angepackt, nämlich die Beiträge für die Rentenversicherung. Die sind ja so niedrig, wenn sie Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit - also Hartz IV - in Anspruch nehmen müssen, dass sie da pro Jahr, wo sie Hartz IV bekommen, 2,17 Euro für ihre Rente aufgestockt bekommen. Das heißt, wenn sie fünf Jahre lang Arbeitslosengeld II beziehen, dann haben sie einen Rentennutzen von 10,85 Euro davon, und das programmiert Altersarmut in großem Umfang.

    Barenberg: Auf der anderen Seite, Frau Mascher, was die Mitbestimmung angeht, was den Kündigungsschutz angeht, was die Rentengarantie angeht, nichts von all dem will die künftige Regierung antasten. Erweist sich die Sorge insgesamt betrachtet vor einem schwarz-gelben Kahlschlag nicht als völlig überzogen und unbegründet?

    Mascher: Ich denke, in einer solchen Krise, in der wir jetzt sind, den Kündigungsschutz anzupacken und die Mitbestimmung, da ist die Kanzlerin, glaube ich, klug genug gewesen, sofort einen Riegel vorzuschieben und das nicht zu machen. Aber dafür kann ich dieser neuen Koalition nun nicht besonders dankbar sein, dass das, was 60 Jahre den sozialen Frieden in unserem Land mit gesichert hat, jetzt nicht geschleift wird. Aber wenn Sie sich den ganzen Gesundheitsbereich angucken, da ist ja alles offen.

    Barenberg: Ja, und was beklagen Sie da jetzt besonders?

    Mascher: Na ja, da haben sie einmal, dass der Grundsatz, dass die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer beziehungsweise die Rentner jeweils hälftig ihre Beiträge zu den Krankheits-, Gesundheitskosten einbringen. Das wird hier verlassen. Die Arbeitgeberbeiträge werden eingefroren. Und das, was an notwendigen Kostensteigerungen durch den medizinischen Fortschritt, durch die Veränderung der Altersstruktur auf die Krankenversicherung zukommt, das wird alleine den Versicherten aufgetragen und dann findet das noch in einer so merkwürdigen Form statt, dass neben dem Beitragssatz, den sie prozentual von ihrem Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen müssen, dies durch einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge, die sozial ausgeglichen werden, finanziert werden soll und das ganze soll jetzt eine Regierungskommission lösen. Da ist Tür und Tor geöffnet für eine ganz beachtliche zusätzliche Belastung der Versicherten. Es gibt Menschen, die sagen, dieser soziale Ausgleich, der müsste einen Umfang von fast 20 Milliarden haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie bei den jetzigen Haushaltssituationen ein vernünftiger sozialer Ausgleich stattfinden kann. Und dann lese ich, dass zum Beispiel der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich reduziert werden soll. Das war gerade jetzt eine Errungenschaft, dass die Kassen einigermaßen jeweils entsprechend ihrer Versicherten hier Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen haben. Das soll offenbar zurückgedreht werden. In der Pflegeversicherung soll auch ein verpflichtender, auf Kapitaldeckung beruhender Zusatzbeitrag erhoben werden, natürlich nur von den Versicherten. Da gibt es für diejenigen, die hier von den Steuererleichterungen wenig oder gar nichts haben werden, erhebliche Belastungen.

    Barenberg: Viele Details, Frau Mascher, von denen bei vielen auch noch gar nicht klar ist, was davon genau kommt und in welcher Form konkret. Aber ein Grundsatz - Sie haben es erwähnt - scheint ja schon festzustehen: Die Arbeitgeber sollen, was die Sozialversicherungssysteme angeht, geschont werden. Was ist denn falsch an dem Versuch der künftigen Regierung, die Erholung der Wirtschaft mit dieser Entscheidung zu unterstützen?

    Mascher: Die Erholung der Wirtschaft zu unterstützen, ist sicher nicht falsch, aber die Frage, wenn die Beitragssätze für die sozialen Sicherungssysteme festgefroren werden, ob das tatsächlich Arbeitsplätze schafft, das ist eine Erwartung, eine Hoffnung, die ich je nach politischer Einschätzung vornehmen kann. Ich glaube, man kann sie nicht belegen.

    Barenberg: Handwerkspräsident Otto Kentzler zum Beispiel sagt, dass die Steuerentlastung und die anderen Maßnahmen zusammen Hunderttausenden von Familienunternehmen neue Spielräume schafft für Investitionen. Das sind doch eigentlich gute Aussichten?

    Mascher: Ich denke, Spielräume für Investitionen würden für diese Unternehmen geschaffen, wenn sie wieder ordentlich Kredite bei ihren Hausbanken bekommen, ohne einen riesigen Aufwand. Das scheint doch im Moment eher das Problem von Familienunternehmen zu sein, als dass sie da Anteile bei den Arbeitgeberbeiträgen einsparen können. Das ist eine Worthülse, die ich seit vielen, vielen Jahren kenne, die immer wieder von den Arbeitgeberverbänden, von den Wirtschaftsverbänden kommt, dass hier der Schlüssel ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Ich fürchte, so wird es nicht sein.

    Barenberg: Sie haben das Gesundheitswesen angesprochen. Die Gesellschaft wird älter, wir haben es mit einem rapiden demografischen Wandel zu tun, die medizinische Versorgung wird anspruchsvoller, dadurch auch teuerer. Wie soll es, Frau Mascher, anders gehen, als dass wir alle künftig mehr für unsere Gesundheit ausgeben müssen?

    Mascher: Wenn Sie sehen, was im Gesundheitswesen im Moment schief läuft: Es hat ein großes Gutachten gegeben, was feststellt, ja, wir brauchen in einer Zeit, wo die Altersstruktur sich ändert, eine Neuorientierung unserer medizinischen Versorgung auf alte Menschen. Aber da läuft im System noch so viel schief, zum Beispiel bei der Frage, wie sieht es aus mit Prävention, wie sieht es aus mit Rehabilitation, wie sieht es aus mit den Kenntnissen, wie werden Arzneimittel an alte Menschen verschrieben. Die haben teilweise neun verschiedene Medikamente, wo man über Wirkung und Wechselwirkung überhaupt nicht Bescheid weiß. Wir bräuchten hier wirklich eine Neuorientierung unserer Medizin. Da könnten wir ganz sicher erhebliche Beiträge auch sparen, was im Moment ins Leere läuft, oder wo im Bereich der Prävention zu wenig gemacht wird, um später höhere Kosten zu vermeiden. Ich denke, im Gesundheitssystem selber muss sich was verändern, aber das läuft nicht unter diesem schönen Spruch "alle müssen mehr zahlen". Die Versicherten zahlen schon mehr seit 2004. Sie zahlen die Praxisgebühr; die soll jetzt immerhin überprüft werden. Sie zahlen Zusätze für verschriebene Arzneimittel, sie müssen sich ganz viele Arzneimittel für einfache Erkrankungen selber kaufen. Die werden nicht mehr ersetzt. Hier wird schon eine ganze Menge auf die Versicherten abgelastet. Die zahlen schon erheblich mehr für ihre Gesundheit.

    Barenberg: Frau Mascher, zum Schluss vielleicht: Die Ankündigung der Koalition lautet ja auch, dass der Ausgleich zwischen arm und reich künftig viel stärker über das Steuersystem funktionieren soll. Das ist doch eigentlich auch ein Schritt in die richtige Richtung, dass künftig alle sich an diesem Ausgleich beteiligen und nicht nur die Beitragszahler?

    Mascher: Da bin ich mal gespannt, wie das aussehen soll, weil wir natürlich auf der anderen Seite ja erhebliche Belastungen, finanzielle Belastungen haben für den Abbau dieser ganzen Verschuldung, die für die Finanzmarktkrise oder den Schutz vor der Finanzmarktkrise jetzt aufgenommen werden mussten. Ich weiß nicht, wie viel Steuermittel da zur Verfügung stehen, um einen vernünftigen sozialen Ausgleich zu organisieren.

    Barenberg: Die Präsidentin des Sozialverbandes VDK Deutschland heute Morgen im Deutschlandfunk im Gespräch. Vielen Dank für dieses Gespräch, Ulrike Mascher.

    Mascher: Ich danke!