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"Ich war das einzige jüdische Kind"

Edgar Hilsenrath ("Der Nazi und der Friseur") rückte einigen Wochen in die Schlagzeilen, als seinem bis-dato-Verleger Volker Dittrich die Rechte an seinen Werken entzogen wurden. Dittrich porträtiert hier Edgar und dessen Bruder Manfred auf sehr persönliche Weise - und lässt den Rechtestreit auf sich beruhen.

Von Martin Sander | 21.06.2012
    "Also, Halle war eine richtige Nazistadt, eine ganz braune Stadt, und in der Schule, ich war das einzige jüdische Kind, wurde natürlich dementsprechend gehänselt, von den Lehrern, aber auch von den kleinen Hitlerjungen. Ich musste mich täglich mit ihnen prügeln ..."

    So erinnert sich der Schriftsteller Edgar Hilsenrath an seine Kindheit im NS-Staat, hier auf einer Lesung 2006 in Gelsenkirchen:

    "Und der Lehrer malte da mal ein Schwein auf die Tafel und fragte mich, weißt Du, was das ist: Ja, sagte ich, ein Schwein. Nein, sagte mein Lehrer: Das ist ein Jude. Das stimmt aber nicht, sagte ich. Der Lehrer sagte dann: Weiß Du, warum Juden kein Schweinefleisch fressen. Nein, sagte ich. Weil sie ihresgleichen nicht essen, sagte er, deshalb. Ich sagte: Das stimmt aber nicht."

    Das Werk des 1926 in Leipzig geborenen Edgar Hilsenrath spiegelt häufig die Stationen seines Lebens. Es geht um die Kindheit in Leipzig und Halle, die Flucht mit der Mutter und dem jüngeren Bruder aus Nazideutschland ins rumänische Sereth, das Überleben im Getto von Mogilev-Podolsk, die enttäuschten Hoffnungen vom Leben in Palästina noch vor der Gründung Israels und um ein Vierteljahrhundert, das Edgar Hilsenrath als Schriftsteller und Gelegenheitsarbeiter in New York verbrachte. Nun hat der Autor und Verleger Volker Dittrich ein Buch vorgelegt, in dem er die Erinnerung von Edgar Hilsenrath in Fragmenten seiner Literatur vorstellt. Zugleich stellt er ihr die Erinnerung seines drei Jahre jüngeren Bruders Manfred gegenüber. Dabei ergeben sich faszinierende Abweichungen im Blick auf das Schicksal der Familie und den Charakter ihrer Angehörigen.

    "Als ich geboren war, sind der Vater und Edgar in das Zimmer gekommen, und Edgar hat mich angesehen, er war drei Jahre alt und sagt: Das ist aber ein schwarzer Jude. Der Antisemitismus der Deutschen ist sogar schon in die Haut von jüdischen Kindern gekommen. Und Edgar war stolz, er war ein blonder deutscher Junge. Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass Edgar später im Leben wieder nach Deutschland zurück wollte. Das ist natürlich meine Analyse. Mein Bruder wird vielleicht damit nicht einverstanden sein, aber so sehe ich es."

    Manfred Hilsenrath, Jahrgang 1929, schlug nach dem Zweiten Weltkrieg einen ganz anderen Weg ein als sein Bruder Edgar. Nachdem er sich bereits im Getto intensiv mit Mathematik beschäftigt hatte, absolvierte er in den USA ein Ingenieurstudium und machte dort als Computerfachmann und wissenschaftlicher Berater der Weltraumbehörde NASA Karriere. Anders als Edgar, der Amerika auch aus politischer Abneigung den Rücken kehrte und seit 1977 als freier Autor in Berlin-Friedenau lebt, verkörpert Manfred einen unerschütterlichen amerikanischen Patrioten.
    Im Mai 2011 hat Volker Dittrich Manfred Hilsenrath im US-amerikanischen Failand Bay besucht und fünf Tage lang dessen Erinnerungen an das Schicksal der Familie Hilsenrath aufgezeichnet. Daraus ist zunächst ein Hörfunkfeature entstanden, dann das Buch.

    "Manfred Hilsenrath, was mich sehr beeindruckt hat in diesen fünf Tagen, wo wir immer tiefer in seine Vergangenheit vorgedrungen sind und er sich an immer mehr Sachen erinnerte: Er erzählt wirklich wunderbar, und für mich war er plötzlich auch ein großer Erzähler. Und als ich manche Sachen übertragen habe, von Edgar, von Lesungen, habe ich gemerkt, dass die beide doch eine gleiche Sprachmelodie haben, einen gleichen Sprachduktus. Und da war ich sehr überrascht. Und das hat mich sehr beeindruckt."

    Volker Dittrich ist auf Manfred Hilsenrath über dessen Bruder Edgar aufmerksam geworden. Denn in den Jahren 2003 bis 2011 war Dittrich der Verleger von Edgar Hilsenrath. In seinem gemeinsam mit Gerrit Schooff betriebenen Dittrich-Verlag brachte er erstmals eine Edgar-Hilsenrath-Werkausgabe in zehn Bänden auf den Markt und den Autor wieder ins Gespräch. Edgar Hilsenrath hatte vor allem in den späten siebziger Jahren mit seinem Roman "Der Nazi und der Friseur" Furore gemacht. Die groteske Geschichte von einem SS-Massenmörder, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Identität eines Juden annimmt, sorgte lange für guten Absatz. Als nach der Jahrtausendwende das Publikumsinteresse erlahmte und die Gewinnchancen gesunken waren, warf der Piper-Verlag als Rechteinhaber Edgar Hilsenrath aus seinem Programm und Volker Dittrich übernahm den Autor. Um die Werkausgabe Band für Band vorzustellen, absolvierten beide gemeinsam über 60 Lesungen – Edgar Hilsenrath, intellektuell auf der Höhe, indes von mehreren Schlaganfällen gezeichnet, auf einen Rollstuhl und Insulin-Spritzen angewiesen, und Volker Dittrich als Verleger, Moderator, Krankenpfleger und Chauffeur.

    "Ich hab alles eben organisiert bis ins Kleinste. Und wir sind immer mit dem Auto gefahren, sodass ich ihn vor das Hotel oder vor den Veranstaltungsraum fahren konnte, und ja: Wir haben abends dort diese Lesungen gemacht. Ich habe gelesen, und er hat wunderbar erzählt. Ich habe ihn befragt über sein Leben. Wir waren ein eingespieltes Team."

    So enthält Volker Dittrichs Buch neben den Erinnerungsfragmenten von Edgar und Manfred noch eine dritte Ebene, die Erfahrungen Volker Dittrichs als Verleger und Partner von Edgar, aber auch seine Beobachtungen zu der vielschichtigen Beziehung der beiden Brüder. Es ist vor allem dieser dritte, verbindende Strang, der die Lektüre von "Zwei Seiten der Erinnerung" spannend macht. Zu der Geschichte gehört auch, dass der Witwer Edgar Hilsenrath 2009 erneut eine Ehe schloss. Fortan bestimmten die Ehefrau und ihr Vertrauter Ken Kubota über Edgars Leben. An der neuen Konstellation zerbrach die Beziehung zwischen dem inzwischen 86-jährigen Edgar Hilsenrath und seinem Bruder Manfred – nach einem Telefonat aus Berlin in die USA.

    "Doch hat er mich angerufen zu meinem Geburtstag. "Edgar, wie kommt das?" "Ja, Chiara ist nicht da, un der Ken ist nicht da. Und da konnt ich anrufen". Und da sag ich: "Und wenn se da is, kannste mich anrufen". "Um Gottes Willen" und "Wie geht's Dir". "Ja, es geht mir gut. Man behandelt mich gut, der Ken behandelt mich gut. Und alles ist in Ordnung." Usw. usw. Auf einmal sagt er: Ich höre die Schlüssel in der Tür. Ich muss abhängen." Bumm, abgehängt!"

    Doch nicht nur Edgar Hilsenraths Verbindung zu seinem Bruder ist abgebrochen. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist auch Volker Dittrich aufgrund eines Gerichtsentscheids nicht mehr Herausgeber der Edgar-Hilsenrath-Werkausgabe. Mit Blick auf die neue Ehefrau und ihren Vertrauten Ken Kubota, den der Autor zum Generalbevollmächtigten ernannt hat, sagt Dittrich:

    "Sie haben versucht, einen neuen Vertrag mit mir abzuschließen oder mit uns, mit der GbR abzuschließen. Und da sollten wir schlechtergestellt werden. Und nachdem ich nicht bereit, einen schlechteren Vertrag abzuschließen, wo Filmrechte zum Beispiel, die ich vermittelt hatte, nicht drin vorkommen, hat man kurze Zeit später, also der Generalbevollmächtigte, der hat mir eine E-Mail geschrieben. Wir wünschen keinerlei Kontakt mehr. Und danach haben sie geklagt ... und haben gewonnen, ja."

    Im Buch "Zwei Seiten der Erinnerung" geht Volker Dittrich auf den unerfreulichen Streit mit keinem Wort ein. Indes ist sein Buch nicht nur spannend zu lesen. Durch den unglücklichen Streit um die Rechte bietet es im Augenblick auch eine der raren Möglichkeiten, mit einem herausragenden Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur Bekanntschaft zu schließen. Denn der Dittrich-Verlag darf die Werkausgabe nicht mehr verkaufen. Im normalen Buchhandel ist sie nicht mehr anzutreffen. Die restlichen Exemplare werden über einen schwer auffindbaren Kleinstverlag im Internet angeboten, als dessen Geschäftsführer Ken Kubota fungiert, der Vertraute der neuen Ehefrau. Nach einem erfolgreichen Konzept für Edgar Hilsenraths Literatur sieht das nicht aus.

    Volker Dittrich: "Zwei Seiten der Erinnerung. Die Brüder Edgar und Manfred Hilsenrath". Dittrich Verlag, 254 Seiten, 17,80 Euro