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"Ich wissen nur eins: Ich keine Wort verstehen"

Die 35-jährige Xiaolu Guo ist einer der Stars der jungen chinesischen Literatur. Im "Kleinen Wörterbuch für Liebende" schildert die Autorin und Filmemacherin den Zusammenprall von westlicher und östlicher Kultur. Sie ist Expertin auf diesem Gebiet, lebt sie doch seit sechs Jahren in England.

Von Günter Kaindlstorfer | 04.08.2008
    Lost in translation: Als Xiaolu Guo 2002 mit einem Stipendium nach London kam, um Englisch zu lernen und den European Way of Life kennenzulernen, war der Kulturschock enorm: Die junge Frau war bei analphabetischen Großeltern in einem Fischerdorf am chinesischen Meer aufgewachsen - und jetzt sollte sie sich in einer der betriebsamsten Metropolen des kapitalistischen Westens behaupten, ohne die Sitten und Gebräuche ihres Gastlandes zu kennen und ohne des Englischen mächtig zu sein. Xiaolu Guo fühlte sich einsam, deprimiert, vollkommen überfordert. Sie belegte einen Englisch-Kurs, beobachtete das in ihren Augen höchst exotische Alltagsverhalten der Engländer und beschloss, ihren Kulturschock in einem Roman zu verarbeiten. Nachdem dieser Roman einige Jahre später, 2007, in den USA und Großbritannien erschien und zum Sensationserfolg geriet, liegt er jetzt auch auf Deutsch vor: "Kleines Wörterbuch für Liebende", heißt er - für Xiaolu Guo auch ein Stück Selbstvergewisserung:

    "Meine Lebenssituation ist alles andere als einfach: Ich bin vom chinesischen Kommunismus, von der chinesischen Kultur geprägt, und jetzt lebe ich seit sechs Jahren im Westen. Das verwirrt mich, nach wie vor. Und diese Verwirrungen diskutiere ich in diesem Buch."

    Heute lebt Xiaolu Guo in einer Sozialwohnung im Londoner Stadtteil Hackney, einem der ärmeren Viertel der britischen Metropole, hier wohnen viele Inder, viele Pakistani, viele Einwanderer aus anderen ehemaligen britischen Kolonien.
    Klar, dass Xiaolu Guo auch eigene Erfahrungen eingearbeitet hat in ihr "Kleines Wörterbuch für Liebende". Die Geschichte der Ich-Erzählerin erinnert denn doch frappant an ihre eigene: Eine junge Chinesin, 23 Jahre alt, kommt nach London, um ihr Englisch aufzubessern. Sie landet auf dem Flughafen Heathrow und fühlt sich wie erschlagen von der fremden Kultur.

    Aber ich wissen nur eins: Ich keine Wort verstehen von was Menschen sagen. Ab jetzt ich haben immer dabei ,Chinesisch-Englisches Taschenwörterbuch‘. Mit seine rote Umschlag sehen aus wie ,Kleine Rote Buch‘.

    Xiaolu Guos Roman ist in kunstvollstem Pidgeon-Englisch geschrieben. Das ist die eine Pointe des Buchs. Die andere: Der Roman ist strukturiert wie ein Vokabelheft: Die Autorin notiert Schlagworte - "Full English Breakfast", "Bachelor", "Pub" - und erzählt dazu passende Geschichten aus dem Alltag der Protagonistin.

    Heute ich fahre erste Mal mit Taxi. Wie soll finden ich wichtige Orte mit Bus und U-Bahn? Unmöglichkeit. U-Bahnplan sieht aus wie Teller voll Nudeln. Busplan sein unverstehlich.

    Anne Rademacher hat in ihrer Übersetzung viel vom Charme des Buchs ins Deutsche hinübergerettet. Der Gegensatz zwischen Ost und West - eines der zentralen Motive des Romans - wird auch in der deutschen Übersetzung anschaulich dargestellt.

    'Ich' ist Gegensatz von 'Gruppe' und 'Kollektiv'. 'Ich' ist Feind von Kommunistische Partei. In Mittelschule haben wir gelernt, dass ein Mensch, der sich selbst vergisst und nicht an seine Bedürfnisse denkt, besonders bewunderungswürdig ist ... Aber hier, in diese verregnete alte kapitalistische Land, ist 'Ich' wichtiger als alles andere.

    Xiaolu Guos Protagonistin entstammt einer Aufsteigerfamilie aus der chinesischen Provinz. Die Eltern der jungen Frau - einst Bauern - haben eine kleine Schuhfabrik gegründet und damit gutes Geld gemacht. Jetzt soll die fügsame Tochter im Westen Englisch lernen, damit sie später einmal das elterliche Exportgeschäft ankurbeln kann.

    "Da gibt es einen Schock, wenn sie in den kapitalistischen Westen kommt. Die neue Umgebung zwingt sie, die Gewissheiten ihrer Jugend in Frage zu stellen und die Welt mit anderen Augen zu sehen."

    "Kleines Wörterbuch für Liebende" ist natürlich, der Titel verrät es, auch ein Liebesroman. In einem Programmkino in South Kensington - man gibt Fassbinders "Angst essen Seele auf" - lernt Xiaolu Guos Heldin einen melancholischen britischen Hippie von Mitte vierzig kennen, einen beziehungsscheuen Aussteiger, der seinen Lebensunterhalt mit Boten- und Lieferfahrten verdient und sich nebenbei als Bildhauer versucht. Eine aussichtslose Liaison beginnt. Von einem Tag auf den anderen zieht die Chinesin in des Lovers vergammelte Junggesellenbude: Die interkulturellen Missverständnisse nehmen ihren Lauf.

    "Die beiden zentralen Charaktere, das sind diese naive junge Frau aus China und der zivilisationsmüde Hippie aus England. Die beiden gaben mir Gelegenheit, die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West herauszuarbeiten. In gewisser Weise ist ja die Sprache der zentrale Protagonist meines Romans. Über die Sprache wird der Zivilisationskonflikt zwischen dem Mann und der Frau ausgetragen. Sie kämpfen auf dem Schlachtfeld der Sprache, sie schlagen sozusagen eine sprachliche Identitätsschlacht."

    So leidenschaftlich es etwa sexuell zur Sache geht zwischen dem Londoner Alt-Hippie und der jungen Asiatin: Letztlich ist ihre Liebe zum Scheitern verurteilt. East meets West: Das hat natürlich seine komischen Aspekte, und Xiaolu Guo schlägt aus der ungleichen Beziehung zwischen den beiden Protagonisten humoristische Funken, dass es auf 350 unterhaltsamen Seiten nur so britzelt: Sie träumt auf traditionell chinesische Weise von Familiengründung und Symbiose zu zweit, Er will seine Unabhängigkeit auch in der Beziehung bewahren. Sie wünscht sich Literatur und bildende Kunst schön und gefällig, Er modelliert verrenkte männliche Torsi, um die Fragmentierung des modernen Menschen sichtbar zu machen. Sie liebt Fleischgerichte, Er ist Vegetarier. Der freiwillige Verzicht auf Fleisch erscheint Ihr als typisch westliche Bizarrerie.

    Wenn ich zurückblicke auf meine Kindheit, ich sehe, wie viele Gewalt herrschte in Welt von meine Gefühle. Wir waren Bauern. Meine Eltern beide arbeiteten in Reisfelder ... Wir waren arm. Es gab nicht genug Sachen zu essen. Nur wenig Fleisch. Bei jede Essen ich hatte Angst, mehr zu essen als meine Mutter erwartet. Manchmal stand gebratene Schweinefleisch auf Tisch, es roch himmlisch. Aber ich wagte nicht, mit meine Stäbchen nach Fleisch zu langen, weil es nur war für meine Vater. Ein Mann braucht Fleisch, und natürlich ist Mann wichtiger als Frau.

    Ob Mann tatsächlich wichtiger ist als Frau - auch daran kommen Xiaolu Guos Heldin Zweifel im Lauf ihres London-Aufenthalts.
    "Kleines Wörterbuch für Liebende" ist ein amüsanter Roman, den man an einem Nachmittag mühelos wegliest. Man soll sich allerdings nicht täuschen lassen. Hinter der unterhaltsamen und gefälligen Oberfläche des Texts versteckt sich ein komplexer, ein faszinierend vielschichtiger Roman über die Reibungen und Kollisionen zwischen Ost und West. Charmanter sind die interkulturellen Diskrepanzen zwischen China und dem müden, selbstverwirklichungsversessenen Westen wohl kaum einmal dargestellt worden.

    Xiaolu Guo: "Kleines Wörterbuch für Liebende"
    Roman
    aus dem Englischen von Anne Rademacher,
    Knaus-Verlag, München, 350 Seiten, EUR 19,95