Der Chor raunt von blauen Zimmern und die Dichterin erscheint. Else Lasker-Schüler kommt aus dem Jenseits, um die Generalprobe ihres Stücks zu erleben. Nichts weniger als einen "Faust III" hat sie verfasst. Faust, mit den zwei Seelen in seiner Brust, stand Pate für "IchundIch" – die Rahmenhandlung, dieses Spiel mit dem Stück im Stück, gehört schon zum Konzept von Lasker-Schülers Originaltext. "IchundIch" meint das innere und äußere Ich, sagt der Komponist Johannes Harneit.
"Also dass die Innen- und die Außenwelt übereinander kommen, ist der eigentliche Sinn von diesem Titel. ‚IchundIch’ ist sozusagen das innere Ich, das wir alle als sehr vielfältig empfinden, das viele Anteile hat. Und das äußere Ich, das mit der Welt fertig werden muss. Um das zusammenzubringen, deswegen musste sie das Werk noch mal schreiben.’"
Das "äußere Ich" von Else Lasker-Schüler war konfrontiert mit der Hetze und der Gewalt des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Die deutsch-jüdische Autorin wurde mehrfach verprügelt auf offener Straße, ebenso verunglimpften Teile der Presse ihr Werk. Nach der Machtergreifung von Adolf Hitler 1933 floh sie über die Schweiz nach Jerusalem. Erschöpft vom Leben als Migrantin schrieb die Über-70-Jährige "IchundIch" im Winter 1940/41 – wenige Jahre später starb sie.
Faust und Mephisto, Hitler und Goebbels
Johannes Harneit kennt das Stück schon vier Jahrzehnte: zunächst als Fragment, bis schließlich vor einigen Jahren eine Neuausgabe des Exilstücks erschienen ist.
"Dieses Drama, als ich das bekommen habe vor fünf Jahren und es frei komponierbar war, war so trocken und auch lustig und so bösartig, dass ich dachte, das ist eine ganz andere Seite von ihr. Und sie hat in dieses lange Drama nur vier, fünf eigene Gedichte eingestreut. Das war ein ganz anderer Zugang, der gut zu ihrer Bekanntschaft mit Brecht und dem verfremdenden Theater passte."
Tatsächlich vermischt Else Lasker-Schüler hier die Grundkonstellation von Faust versus Mephisto, von gut versus böse mit vielen biblischen, literarischen und religiösen Anspielungen. Auch zeitgeschichtliche Figuren wie Joseph Goebbels und Adolf Hitler treten auf. Johannes Harneit und seine Librettistin Lis Arends haben den Originaltext um gut 40 Prozent gekürzt, ohne die Dialoge und Reime anzutasten. Die ohnehin rhythmisierte Sprache lade zum Komponieren geradezu ein – so Harneit.
Bösartige Satire in schillerndem Klang
Als "eine Art surrealistischen Offenbach" bezeichnete Lasker-Schülers Zeitgenosse Franz Goldstein "IchundIch" nach einer ersten Lesung. Und genau hier knüpft Johannes Harneit an. Das in weiten Teilen bissige, um nicht zu sagen, bösartig satirische Stück, das den auftretenden Reigen von Nationalsozialisten als dumm und grausam entlarvt, um schließlich alle in der Höllenglut schmoren zu lassen, dieses Stück hat der Komponist in ein schillerndes Klanggewand gekleidet. Polystilistisch geht Harneit zu Werke: Volksmusik-Zitate stehen neben Kunstlied-Illusionen, Dissonantes kommentiert vermeintlich Vertrautes. Der Schüler von György Ligeti zitiert etwa Trauermarschrhythmen von Felix Mendelssohn, Richard Wagners Wotan-Motiv und auch all das, was an Musik-Zitaten im Originaltext zu finden ist, mit dem Ziel, wie er sagt, eine Art "Dokumentaroper" zu schaffen.
"Ich hab gedacht: Wenn sie schon selbst ein Schauspiel schreibt und du nimmst das als Oper, dann tust du ihr den Gefallen und nimmst all ihre Musikbeispiele, die sie im Schauspiel haben möchte, und baust du da ein! Zum Beispiel ‚Muss i denn zum Städele hinaus’, was sie ja pfeift und singt, das steht genau so im Stück. Oder ‚Freut Euch des Lebens’, das die am Ende singen gerade im schlimmsten Moment, das ist auch im Stück drin. Oder das schöne Lied von Grieg ‚Ich liebe Dich’, das ist auch von ihr ausgesucht. Ich habe das für mich spaßeshalber eine Dokumentaroper genannt, indem ich gesagt habe: Ich versuche die Zeit, in der sie es geschrieben hat, einzufangen. Denn die Wahrheit ist ja, dass wir von 1940 kein Kulturdokument mehr haben. ‚Baron Münchhausen' der Ufa unter Goebbels kann es ja nicht sein, ist ja recht trostlos. Ihr Werk ist vielmehr eine Rettung der deutschen Kultur."
Hochaktuell - aber ohne Aktualisierungszwang
So sperrig das Drama von Else Lasker-Schüler ist: In der Vertonung von Johannes Harneit bekommt das vielschichtige Geschehen eine Sinnlichkeit, eine Eindringlichkeit, die fesselt und auch bedrückt. So etwa, wenn Lasker-Schülers Mephisto, der alte Mephisto wurde früh ausgemustert, sich den Nationalsozialisten entgegenstellt. Als Dokumentaroper ohne Aktualisierungszwang gelingt hier eine Schlüsselszene.
"Weg von der modernen Oper zurück in die Zeit. Und das wird uns auch daran erinnern, dass wir so lange uns diesem Werk nicht gestellt haben. Dass sozusagen ihre Fragen eigentlich – 1940 hätte man ja nicht gedacht, dass die 2019 leider wieder topaktuell sind. Ich bin auch erstaunt, dass sie wieder so aktuell geworden sind."
Es sind Fragen wie: Warum kann Menschenverachtung politisch verfangen und bei Wahlen Stimmen bekommen?
Die Uraufführung auf der Probebühne 1 der Staatsoper Hamburg hat Christian von Treskow stimmig inszeniert: Das Publikum sitzt um das Geschehen herum beziehungsweise mittendrin. Von Treskow konzentriert sich darauf, dem ohnehin komplexen Werk eine klar strukturierte Aufführung zu ermöglichen. Ohne aktuelle Anspielungen. Die Kraft dieses Musiktheaters unter der musikalischen Leitung von Johannes Harneit zeigt sich auch dank eines fein aufspielenden Kammerorchesters und eines stimmig besetzten Sängerensembles. Sopranistin Gabriele Rossmanith als Dichterin und Bariton Jóhann Kristinsson als "neuer" Mephisto überzeugten bei der gestrigen Uraufführung besonders.
Alles in allem eine denkwürdige Gratulation zum 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler in diesem Jahr. "IchundIch" von Johannes Harneit verdient weitere Aufführungen auch an anderen Theatern.