Donnerstag, 28. März 2024

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Identitäten
Den Anderen Mensch sein lassen

Alfred Grosser betrachtet in seinem neuen Buch "Le Mensch. Eine Ethik der Identitäten" die komplexen Aspekte von Identität heute. Der Politikwissenschaftler, Schriftsteller und Europäer wehrt sich darin vor allem vehement gegen ein Grundübel, das das Zusammenleben der Menschen weltweit vergiftet: den Finger, der auf andere zeigt.

Von Günter Rohleder | 06.03.2017
    "Ich bin ein Mann und keine Frau. Das gibt mir heute noch in der französischen wie deutschen Gesellschaft unverdiente Vorteile. Ich bin alt, aber meine seit langem erwachsenen Söhne arbeiten für mein Ruhestandsgehalt. Ich war beamteter Professor, gehörte also zu jenem privilegierten Teil der Gesellschaft, der nicht arbeitslos werden kann."
    Jeder von uns habe viele Identitäten, und sei es nur, weil er mehrere gesellschaftliche Zugehörigkeiten besitze, schreibt der 92jährige Alfred Grosser in "Le Mensch". Und er zitiert in seinem Spätwerk immer wieder Begegnungen und Erfahrungen aus seinem eigenen Leben, um seine Erkenntnisse zu belegen. Er sei Franzose durch und durch, schreibt Grosser, so wie andere Migranten, die in Frankreich zu Franzosen wurden und niemand würde da von einem Migrationshintergrund sprechen.
    Was macht Identität aus? "Als Radfahrer fürchte ich mich vor Autos. Als Autofahrer fürchte ich die Radfahrer: Ein gutes Beispiel einer gespaltenen Identität."
    Aufgezwungene Identität
    Die Identität des Individuums bestehe nicht darin, sich von außen identifizieren zu lassen durch den Finger, der auf einen zeigt, zitiert Grosser seinen Lieblingsphilosophen Emmanuel Levinas. Denn was der Andere ist, sollte dieser selbst sagen. Häufig sei aber das Gegenteil der Fall: Der Andere wird schlicht zu dem, was von ihm gesagt wird. Identität durch Zuschreibung.
    "Die Engländer, die Juden, die Moslems, die Flüchtlinge, die Katholiken, die Nachbarn, die Ärzte, die Hausfrauen, die Apotheker, die Landwirte: Das "Die" kommt entweder von außen oder von Gruppenvertretern, die behaupten, alle zu vertreten, die das "Die" angeblich umfasst."
    Wichtig dabei sei nicht nur das "Die", sondern die dadurch meistens entstehende Gegenüberstellung eines "Wir" und eines "Die da", die anders sind. "Werden 'Die da' kollektiv als Verbrecher angesehen, spornt das zur Rache an, die bei den Anderen ihrerseits Rächer erzeugt. So geht es unheilvoll weiter."
    Mit "Le Mensch" schreibt Grosser an gegen solche unheilvollen Zuschreibungen. Man könnte auf diese gut verzichten könnte, findet er, wenn man den Anderen schlicht als Menschen betrachten würde.
    Nie den Widerspruch gescheut
    Rückblick: August 1944. Der junge Alfred Grosser, gerade mit falschen Papieren nach Marseille geflohen, hört in der BBC, dass die alten Häftlinge aus dem KZ Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden. Darunter, so wird er später erfahren, sind seine Tante und sein Onkel.
    "Am nächsten Morgen, nach langer Überlegung, war ich sicher, endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt, so furchtbar die Verbrechen und so zahlreich die Verbrecher auch sein mochten. Den Begriff "die Deutschen" lehnte ich ab. Nach der Befreiung von Marseille, im September, stand ich am Krankenbett eines Freundes, der bei den Kämpfen verletzt worden war und zwei Tage später starb. Ein Bett weiter lag ein gefangener und verletzter junger deutscher Soldat. Ich sprach viel mit diesem Altersgenossen (wir waren beide 19) und musste feststellen, dass er von dem Horror wirklich nichts wusste. Da entstand bei mir ein Gefühl der Mitverantwortung für seine Zukunft."
    Dieser Mitverantwortungsethik ist Grosser treu geblieben. Identitäten sind vielschichtig und widersprüchlich und Widerspruch hat Grosser nie gescheut. Er hat sich in seinem langen Leben immer wieder eingemischt in die gesellschaftlichen Verhältnisse, besonders in die europäischen und hier besonders in die deutsch-französischen. Und wenn er eingeladen wird, in der Frankfurter Paulskirche eine Rede zu halten, dann kann es ihm passieren, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland versucht, ihn wieder auszuladen, weil ihm Grossers Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu weit geht.
    Bricht eine Lanze für die Politik
    "Das Wort Politik hat oft einen schlechten Klang. "Die Politik" wird vielfach verachtet. "Die Politiker" noch mehr." Schreibt der Politologe und Humanist Alfred Grosser. Und er verteidigt einen emphatischen Begriff von Politik, wenn er ausführt:
    "Zunächst ist Politik das Edelste, das Höchste, das es in einer Gesellschaft gibt. Sie ist die Summe der Ziele und Mittel, für die sich eine Gesellschaft als Gemeinschaft entscheidet, um zu versuchen, ihre Gegenwart und ihre Zukunft zu meistern."
    "Le Mensch" taucht den Leser in ein Wechselbad: Da ist zum einen der von radikalem Humanismus getriebene Aufklärer, der aus der Perspektive des klugen und ungeheuer kenntnisreichen Beobachters ergiebig über Ungerechtigkeit, soziale Missstände und Moral in Gesellschaft und Politik und Religion reflektiert. Und da ist zum anderen der hoch geehrte wie streitbare Zeitzeuge und Gastredner, der mit zahlreichen Amts- und Würdenträgern aus Politik, Religion und Gesellschaft in Kontakt stand und steht. Grosser zitiert großzügig aus deren Redemanuskripten und verteilt neben Kritik viel Lob: Weniger Zitate und weniger Prominenz hätten das Buch noch lesenswerter gemacht.
    Und manchmal wirkt der Identitätsbegriff überstrapaziert: Etwa wenn Grosser nach der wirtschaftlichen Identität Europas fragt. Reicht es nicht, die wirtschaftlichen Interessen zu problematisieren?
    Verzweiflung, aber auch Hoffnung
    "Man könnte verzweifeln...", beginnt Alfred Grosser seine Schlussbetrachtung in "Le Mensch". "Die Gewalt weltweit. Töten wird zur Normalität. Folter auch. Schon Kinder lernen, den 'Feind' zu bezeichnen und ihn blutig zu bekämpfen. (...) Menschen verhungern in Aleppo und in Afrika. In unserem Europa entstehen Diktaturen in Polen und in Ungarn, die Menschen die Grundrechte verweigern. Schlimmer noch, die Türkei: Jeder kritische Journalist wird als Terrorist behandelt. Die Todesstrafe kommt wieder."
    Grund zur Verzweiflung? Ja. Aber am Ende spricht der Autor auch von Hoffnung: "Man sollte hoffen, im Moment des Sterbens sagen zu können, ... dass man 'ansteckend gelebt' hat." Zitiert der Atheist Alfred Grosser den Jesuitenpriester François Varillon. "...dass man seine Zeit genutzt hat, 'um den Anderen zum Sein – und zum Anderssein zu verhelfen'. Den Anderen Mensch sein lassen. Ihn anders sein lassen, als ich bin – was Zeugnis seiner Freiheit sein soll."
    Doch wie kann man beeinflussen, ohne die Freiheit zu begrenzen? Fragt der Autor. "Die Antwort scheint mir zu sein, dass es gilt, dem Anderen bewusst zu machen, was seine vielfältigen Zugehörigkeiten sind und ihn dann auf kritische Distanz zu bringen zu diesen Zugehörigkeiten, denn so kann er entdecken, dass seine eigentliche Identität das Zusammenwirken dieser Zugehörigkeiten ist."
    Alfred Grosser: "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten."
    J.H.W. Dietz-Verlag, 288 Seiten, 24,90 Euro.