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Idlib
Helfer zwischen allen Fronten

An der syrisch-türkischen Grenze sitzen hunderttausende Syrer fest. Hinter ihnen die Militäroffensive des syrischen Regimes und Russlands, vor ihnen die Grenzanlagen der Türkei. Die Provinz Idlib ist das letzte oppositionell kontrollierte Gebiet Syriens. Drei Millionen Menschen leben hier, viele protestieren, auch gegen die Ignoranz Europas.

Von Kristin Helberg | 08.06.2019
Rauchwolken über der syrischen Stadt Idlib
Rauchwolken über der syrischen Stadt Idlib (AFP / Omar Haj Kadour )
Der syrisch-türkische Grenzübergang Atmeh am 31. Mai. Mehrere Hundert Syrer beteiligen sich am ersten "Marsch zur Grenze", Videos der Protestaktion erreichen über das Internet auch Europa, den eigentlichen Adressaten. "Stoppt die Massaker oder öffnet die Grenzen" steht auf einem Plakat.
Hunderttausende Syrer harren entlang der Grenze in überfüllten Camps oder unter freiem Himmel aus. Angesichts der katastrophalen Zustände könne die Lage bald eskalieren, befürchtet Sophie Bischoff von der Initiative Adopt A Revolution. Sie steht von Deutschland aus in engem Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Partnern in Idlib, die zum Teil vor den Luftangriffen fliehen mussten.
"Es werden wieder vermehrt Fassbomben eingesetzt, wo dann so Hubschrauberkolonnen mittlerweile fliegen und auch gleichzeitig abwerfen. So dass zwischendurch kein Rettungswagen irgendwo hinfahren kann, weil einfach direkt nacheinander zu viele Fassbomben abgeworfen werden."
Idlib ist das letzte von Assad-Gegnern gehaltene Gebiet. Fällt es an das Regime, sind viele hier nicht mehr sicher. Denn wer sich in den vergangenen Jahren für Freiheit und Demokratie eingesetzt hat, muss damit rechnen, verhaftet, gefoltert und getötet zu werden. Die von Adopt A Revolution unterstützten Aktivisten haben Schulen geleitet, Dialogprogramme organisiert, Theaterstücke aufgeführt oder mit Frauen über häusliche Gewalt gesprochen. Manche von ihnen kennt Sophie Bischoff seit Jahren.
"Viele unserer PartnerInnen wurden auch schon vertrieben aus anderen Landesteilen – also Idlib ist für sie die letzte Station. Und für sie ist auch klar, es geht nicht zurück unter die Kontrolle des Regimes. Dafür haben sie sich ja vorher schon zum Teil zwei oder drei Mal entschieden."
Extremisten kontrollieren die Provinz
Andere müssen sich schon jetzt verstecken. Akram al-Ahmad fährt nur noch heimlich nach Idlib und bleibt ansonsten in der Türkei. Der 42-Jährige leitet das Journalistenbüro Syrian Press Center und bildet junge Bürgerjournalisten aus. Deshalb hat er zwei Feinde: das Regime und die Dschihadisten von Hayat Tahrir al-Sham, kurz HTS. Die Extremistengruppe ist aus der Nusra-Front hervorgegangen, dem früheren Al Qaida-Ableger in Syrien. Militärisch kontrolliere HTS etwa 70 Prozent der Provinz, sagt Akram al-Ahmad bei einem Gespräch in Berlin.
"Der Aufstieg der Dschihadisten hat die Zivilgesellschaft geschwächt. Internationale Geldgeber ziehen sich zurück aus Angst, ihr Geld könnte bei HTS landen. Aktivisten werden bedroht und verlassen das Land. Mehr als 80 Prozent der Menschen lehnen HTS ab. Sie wissen, dass das Regime die Präsenz von HTS als Vorwand nutzen kann, um nach Idlib zurückzukehren."
Entsprechend schwer fällt es den HTS-Vertretern, gesellschaftlich Fuss zu fassen. Ihre so genannte "Heils-Regierung" bemüht sich, lokale Verwaltungen zu übernehmen und Organisationen zu vereinnahmen. Dagegen helfe nur eine unabhängige Finanzierung, erklärt Sophie Bischoff von Adopt A Revolution.
"Es gab ja eben auch 2018 gute Beispiele, dass der gesamte Bildungssektor oder der Gesundheitssektor sich tatsächlich auch gegen HTS zur Wehr setzen konnte. Und sagen konnte "nee, in unsere Krankenhäuser, da kommt kein HTS-Vertreter rein". Das konnten sie nur, weil sie unabhängig finanziert sind und weil HTS weiß, wir brauchen diese Krankenhäuser, wir können es nicht bezahlen."
"Abriegeln und aushungern lassen"
Inzwischen kommt die Gefahr für das Gesundheitswesen aus der Luft. Unterstützt von russischen Kampfjets hat das Regime nach UN-Angaben mindestens 24 medizinische Einrichtungen angegriffen. Dagegen sei kein einziges HTS-Büro getroffen worden, betont Akram al-Ahmad. Das Regime bekämpfe folglich keine Terroristen, sondern die zivile Verwaltung von Idlib. Für den Journalisten sind Assad und HTS die zwei Seiten der gleichen Medaille.
"Da die Dschihadisten unter uns leben, sind sie eine akute Bedrohung. Aber langfristig ist das Regime gefährlicher. Denn HTS verschwindet wieder, während Assad bleibt."
Das Regime werde Idlib mittelfristig zurückerobern, indem es die Provinz entlang der Autobahn M4 teilt, vermutet al-Ahmad. Diese verbindet Aleppo im Norden mit der Küstenstadt Lattakia. Den südlichen Teil werde Assad abriegeln und aushungern lassen, befürchtet der Journalist, wie zuvor das Umland von Damaskus. Über die Rückgabe des nördlichen Teils werde sich Damaskus langfristig mit der Türkei verständigen. Noch will Ankara seinen Einfluss in Idlib bewahren – mit Hilfe von loyalen syrischen Rebellen, 12 türkischen Beobachterposten und einer Imagekampagne für HTS.
"Die Türkei versucht gerade, das Image von HTS zu verbessern. Seit ein paar Monaten verändern die Extremisten ihr Verhalten, ihr Auftreten, ihre Kleidung und Fahnen. Gegenüber der Bevölkerung sind sie zurückhaltender, Journalisten und Aktivisten haben mehr Handlungsspielraum. Die Türkei will HTS international akzeptabel machen."
Für die Dschihadisten sei das vor allem eine Überlebensstrategie, meint Al-Ahmad. Denn der Widerstand gegen HTS geht weiter. Die Menschen protestieren, weigern sich, Steuern zu bezahlen und lassen sich nicht mehr so leicht einschüchtern. Umso bedauerlicher sei der Rückzug westlicher Geldgeber aus Idlib, sagt Sophie Bischoff von Adopt A Revolution. Statt zivilgesellschaftliche Initiativen in ihrem Kampf gegen Extremismus zu stärken, lasse man diese gleich doppelt im Stich – gegenüber den Bomben des Regimes und gegenüber den Dschihadisten. Sollte Assad den Nordwesten zurückerobern, müsse die Bundesregierung Verantwortung für ihre syrischen Partner übernehmen, fordert Bischoff.
"Die waren politisch aktiv, deren Namen sind bekannt unter anderem wegen dieser Projekte, die aus Deutschland finanziert wurden. Die können nicht zurück in die Regimegebiete, deswegen ist es dann schon unsere Verantwortung zu sagen, okay, wie holen wir die Leute dann dort raus."