Breker: Gibt es denn auch eine Gerechtigkeitslücke zu den Arbeitssuchenden im Osten?
Pohl: Ja, das ist ja das Problem. Ich meine, die, die ihren Job haben - das sind ja nun eine ganze Reihe, in der Industrie insgesamt 800.000 Erwerbstätige -, haben es ja noch relativ gut getroffen. Aber bei einer Arbeitslosigkeit von rund 1,8 Millionen sehen Sie natürlich, wie viele Leute vor den Werkstoren stehen und eigentlich Einlass begehren, und die empfinden alles natürlich als furchtbar ungerecht, mit Recht, denke ich mal.
Breker: Aber der Streik scheint ja nun unausweichlich.
Pohl: Na ja, es geht auch bei dem Streik nicht um wirtschaftspolitische Vernunft, sondern um das Interesse einer Gewerkschaft, die eben nicht ertragen will, dass in ihrem Organisationsgebiet unterschiedliche Regelungen getroffen worden sind, egal ob nun die wirtschaftliche Lage unterschiedlich ist. Das ist Verbandsinteresse, das ist auch das legitime Interesse der IG-Metall. Es ist nicht wirtschaftspolitisch begründet.
Breker: Gibt es denn eine Produktivitätslücke zwischen Ost und West?
Pohl: Die gibt es. Also die am Markt erwirtschaftete Leistung, das ist ja die Produktivität, ist im Osten sehr viel geringer als im Westen, aber es ist natürlich auch so, dass das Lohnniveau insgesamt geringer ist, so dass man, was die Industrie betrifft, sagen kann, dass also Produktivitätsrückstand und Lohnrückstand sich etwa die Wage halten.
Breker: Ist denn Ostdeutschland als Niedriglohnland ein wirklich wichtiger, bedeutsamer Standortvorteil für Ostdeutschland?
Pohl: Also Niedriglohnland ist keine strategische Option für Ostdeutschland auf die Dauer. Das kann man sich natürlich überhaupt nicht vorstellen, denn was wäre niedrig? Da müsste man vielleicht auf die niedrigen Löhne von Polen und Ungarn runtergehen. Das kann sich eigentlich gar keiner vorstellen. Die Frage ist schon Option Hochlohnland, die Frage ist nur, wie schnell man dies erreichen kann. Das hängt von der Wirtschaft und von der Dynamik der Wirtschaft ab, und die ist im Moment in ganz Deutschland nicht gut und damit natürlich in Ostdeutschland nicht gut, aber das ist die Voraussetzung. Erst muss die Produktivität steigen, die Wirtschaft wiederum, dann kann man auch die Löhne auf höherem Niveau sehen.
Breker: Arbeitszeitverkürzungen sind Lohnerhöhungen, das darf man nicht vergessen. Das ist für große Betriebe in Ostdeutschland sicherlich leichter zu verkraften als für mittlere und kleine.
Pohl: Leider haben wir aber hier überwiegend mittlere und kleine Unternehmen, so dass also die Orientierung an den großen Namen, an den großen Automobilherstellern, an den großen Chemieunternehmen natürlich absolut fehl ist. Aber was werden die Unternehmen machen? Also Arbeit wird teurer, und dann wird man sich schon überlegen, ob man noch Leute einstellt, möglicherweise vielleicht auch die Produktion dorthin verlagern, wo sie billiger ist, oder, was ich befürchte, wird auch sein, dass die Arbeitnehmer zwar stundenmäßig weniger arbeiten, aber sie müssen mehr ran, also sie werden mehr Leistungen von ihnen abverlangen, um sozusagen diesen Lohndruck, der durch die Arbeitszeitverkürzung entstanden ist, auszugleichen. Am Ende arbeiten die Leute kürzere Zeit aber müssen sich mehr anstrengen.
Breker: Wenn die Menschen, die Metallarbeitnehmer in Ostdeutschland weniger verdienen als die im Westen, dann ist doch eigentlich ganz logisch, dass die besten, die intelligentesten, die Facharbeiter dort hingehen, wo sie höhere Löhne bekommen, also in den Westen. Bleibt die Abwanderung ein Problem?
Pohl: Die Abwanderung ist nach wie vor ein Problem, aber ich denke mal, hier muss man sehr genau hingucken. Man wandert natürlich nicht wegen einem oder zwei Euro mehr in den Westen und gibt dafür seine ganzen Beziehungen hier auf. Man wandert in den Westen, wenn man keinen Job findet und wenn man in einer Region ist, wo es auch keine Aussicht auf Jobs gibt. Das ist das Problem. Also man muss eigentlich hier sozusagen die Durststrecke bis zu den Jobs überwinden. Das ist, glaube ich, der Punkt. Bei qualifizierten Arbeitskräften muss man natürlich auch sehen, im Osten gibt es auch eine Differenzierung. Es ist ja nur der Durchschnitt der Löhne niedriger; bei Qualifizierten sind die Abstände geringer, eben weil dort auch vielleicht der Lohn ein Abwanderungsargument wäre.
Breker: Wie hoch ist eigentlich der Organisationsgrad der Gewerkschaften im Osten? Sie sagten, dieser Streik geht von Verbandsinteressen aus.
Pohl: Also das ist immer eine Frage, wie Sie es rechnen. Es sind relativ wenige Unternehmen noch in den Tarifverbänden. Also das hängt immer von der Branche ab, sagen wir mal im Schnitt 25 Prozent. Es betrifft natürlich mehr Arbeitnehmer, weil insbesondere die großen Unternehmen drin sind, und sie haben natürlich größere Arbeitnehmerzahlen als die kleineren. Insofern ist der Organisationsgrad der Arbeitnehmer höher. Was man auch sehen muss, selbst wenn ein Unternehmen nicht im Tarifverband drin ist, wird der Tarifvertrag trotzdem von einigen natürlich angewendet. Aber die grundlegende Haltung, raus aus den Tarifverträgen, nimmt im Osten ihren Anlauf. Ich denke, das wird früher oder später auch auf den Westen überschwappen, wenn eben Löhne und Arbeitsbedingungen so gehandhabt werden, wie das hier der Fall ist.
Breker: Halten Sie es denn überhaupt für möglich, dass die Gewerkschaften die notwendige Zustimmung von 75 Prozent ihrer Mitglieder erreichen werden?
Pohl: Das ist eine spannende Frage. Also wenn Sie ins Fernsehen gucken und sehen, wie da mit Trillerpfeifen vor den Werkstoren gepfiffen wird, kann man natürlich sagen, das gibt die Stimmung wieder. Aber ich denke schon, in dieser ja insgesamt schlechten Wirtschaftslage in Deutschland wird einigen Arbeitnehmern schon ein ungutes Gefühl aufkommen, und sie sagen, also sägen wir nicht an dem Ast, auf dem wir sitzen. Was nun überwiegt, das wird man sehen, also das muss man noch abwarten, jedenfalls kriegen Sie mit der Trillerpfeife noch keine Arbeitsplätze gesichert.
Breker: Was bedeutet denn ein Streik für die Entscheidung von Investoren? Bedeutet das, dass sie den Osten meiden werden?
Pohl: Also ich möchte nicht soweit gehen. Es ist ja nicht so, dass hier im Osten die Streikhäufigkeit riesengroß ist. Ich meine, in Deutschland ist sie sowieso nicht so groß, wenn man das mit anderen Ländern vergleicht, also ich glaube, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist eher die Frage, bleiben im Osten auf absehbare Zeit gewisse Vorteile erhalten für Unternehmen, die hier wirtschaften, so dass sie sagen, wir bleiben hier, wir bauen hier Zweigwerke auf. Sie müssen ja auch sehen, selbst wenn die großen Unternehmen ihre Zweigwerke hier haben, irgendwann sind diese Investitionen mal aufgebraucht, und da stellt sich immer die Frage, wo kommt jetzt die Neuinvestition? Das muss nicht der Osten sein, da gibt es auch andere Standorte, und für diesen Fall, denke ich, muss der Osten Vorteile haben, eben solange die wirtschaftliche Lage noch so ist, auch eben am Arbeitsmarkt, auch an den Arbeitskonditionen.
Breker: Wie lange muss er die Vorteile haben?
Pohl: Ja, das ist eine Frage, die schwierig zu beantworten ist. Ich denke, es wird noch Jahre dauern, denn die Vorstellung, dass man eine Wirtschaft, die sozusagen 1990 bei Null angefangen hat, innerhalb von 10, 15 Jahren auf ein Hochleistungsniveau wie Westdeutschland bringen kann, ist natürlich naiv. Also es wird auch weiterhin noch lange dauern. Wichtig ist nur, dass die Perspektive auf den Aufholprozess da ist, und er wird auch in den Branchen ganz unterschiedlich laufen. Es gibt ja inzwischen schon sehr erfolgreiche Industriebranchen, aber wir werden uns insgesamt noch mit Geduld wappnen müssen.
Breker: Vielen Dank für das Gespräch.