Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Im Hintergrund ist eine Wertefrage"

Der sogenannte Nationale Wohlfahrtsindex ist nach Ansicht des grünen Fraktionsvorsitzenden in Schleswig-Holstein, Robert Habeck, besser als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) geeignet, ein Leitfaden der Wirtschaftspolitik zu sein. Auf den Wachstumsbegriff müsse man aber nicht verzichten, sondern ihn qualitativ neu definieren.

Robert Habeck im Gespräch mit Jasper Barenberg | 03.06.2011
    Jasper Barenberg: Über diesen Nationalen Wohlfahrtsindex habe ich vor der Sendung mit dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag von gesprochen, und ich habe Robert Habeck auch gefragt, wie neu eigentlich der Gedanke ist, zum Beispiel Umweltschäden in der Debatte über Wirtschaftswachstum zu berücksichtigen.

    Robert Habeck: Es ist ein alter Hut, darüber nachzudenken, und das zu fordern, weil der Wachstumsbegriff, gemessen am Bruttoinlandsprodukt BIP einfach unspezifisch ist. Also: Wenn eine Ölplattform brennt oder ein Strand verseucht wird oder ein Atomkraftwerk einen Schaden verursacht, dann kann es durchaus sein, dass das Wachstum steigt, weil man Arbeitsplätze schafft, weil Industrie dran hängt, die das alles beseitigen muss, die Schäden. Aber es ist ja volkswirtschaftlich und für den Wohlstand einer Gesellschaft totaler Wahnsinn, das dann auch noch zu begrüßen. Das Neue ist, dass wir erstmals den Versuch unternommen haben, diese verschiedenen Indikatoren, die in der wissenschaftlichen Diskussion schon lange da sind, in Realität zu übersetzen und das für das Bundesland Schleswig-Holstein einmal durchzurechnen - und es funktioniert! Also, man kann damit einen eigenständigen neuen Ansatz in der Wirtschaftspolitik definieren.

    Barenberg: Sollte denn dieser neue Wohlfahrtsindex den alten komplett ersetzen?

    Habeck: Das geht nicht von heute auf morgen, ich würde auch nicht sagen, dass die Studie, die wir jetzt vorgelegt bekommen haben, das Ende der Fahnenstange ist. Aber ja, so muss es sein; er müsste nicht nur den Indikator - Wohlfahrtsindex ist ja nur ein Bemessungsinstrument - ersetzen, sondern er muss damit die Grundlagen für die wirtschaftspolitische Diskussion neu stellen. Mit dem alten Wirtschaftswachstumsbegriff vergrößern wir die Probleme in dem Maße, wie wir glauben, unseren Wohlstand zu vergrößern. Das kann nicht funktionieren auf Dauer.

    Barenberg: Ist denn der Begriff des Wachstums damit auch obsolet oder wird der zumindest infrage gestellt mit diesem neuen Index?

    Habeck: Das ist eine spannende und im Grunde die Metadiskussion, seitdem der Club of Rome gesagt hat: Die Grenzen des Wachstums sind erreicht. Und ich interpretiere die Studie so - und würde das auch politisch so vertreten -, dass das nicht der Fall ist, dass wir Wachstum brauchen, weil wir eine riesige Transformation der Gesellschaft vor uns haben. Und das bedeutet ja, dass neue Produkte erfunden werden, energiesparsamere Produkte, weniger Schadstoff emittierende Produkte, sozial gerechter produzierte Produkte und so weiter. Darauf zu verzichten, dass wir wachsen wollen und die Gesellschaft wachsen muss, bedeutet im Grunde, in Kauf zu nehmen, dass ein Drittel der Welt nicht die gleichen Chancen bekommt, die wir jetzt heute hier haben. Und das halte ich für unethisch. Deswegen müssen wir an dem Wachstumsbegriff festhalten, aber wir müssen ihn qualitativ neu definieren und neu übersetzen.

    Barenberg: Das ist also im Kern keine ökonomische Frage, sondern eine eminent gesamtpolitische Frage - eine Neuausrichtung auf ein neues Wachstumsmodell?

    Habeck: Im Hintergrund ist eine Wertefrage. Das kann man einfach nicht verleugnen. Also, wenn man sagt, das interessiert mich alles nicht, ich finde verseuchte Strände super oder Straßen, an denen viele Verkehrstote entstehen, das interessiert mich gar nicht, Hauptsache, die Straße wird gebaut, und dann steigt eben der Absatz der Särge, dann muss man sich über das, was wir hier angestellt haben, keine Gedanken machen. Es gibt eine Wertefrage, die im Hintergrund beantwortet werden muss. Wenn man die aber sich ernst zumutet, dann läuft es nicht automatisch darauf hinaus, dass man sagt, wir brauchen kein Wachstum mehr, sondern dann kann man entlang von qualitativen Indikatoren, einer ganzen Reihe von Indikatoren einen anderen, nachhaltigeren Ansatz beim Wirtschaftswachstum wählen. Und das würde einfach nur bedeuten, dass wir eine Maßgabe haben, ökonomisch unsere Förderinstrumente neu aufzustellen. Das ist das Neue, dass wir nicht in der politischen Debatte sagen: Wir wollen nicht so und so viel Euro da reinstecken, sondern lieber in erneuerbare Energien. Sondern wir können jetzt in ökonomischen Faktoren nachweisen, dass es nachhaltiger und besser ist, die Gelder anders zu verteilen. Das ist das Spannende dahinter.

    Barenberg: Dieser Ansatz, Herr Habeck, berücksichtigt zum Beispiel Wasserverschmutzung, zum Beispiel Bodenbelastung, zum Beispiel Luftverschmutzung - das scheint sehr plausibel, sehr nachvollziehbar. Er berücksichtigt aber auch zum Beispiel ehrenamtliche Arbeit, Kosten durch Alkoholmissbrauch, durch Tabakmissbrauch, durch Drogenmissbrauch. Wie will man gewichten die harten ökonomischen Fakten von Wachstum gegenüber solchen weichen Kriterien, sage ich mal?

    Habeck: Das ist die spannende Frage, und da wird sicherlich drüber auch noch zu streiten sein. Das Interessante ist, dass diese sogenannten - und auch richtigerweise sogenannten - weichen Kriterien - weil sie eben nicht hart zu ermitteln sind - geldwert übersetzt werden. Das, was wir an Wachstum haben - Beispiel Straße, das kann man ja feststellen, wie viel Umsatz eine Asphaltfirma erwirtschaftet, wenn sie eine Straße asphaltiert, dagegen werden gegengerechnet die schädlichen Wirkungen: Lärm, Verkehrstote, Luftverschmutzung, und so weiter. Und das wird aber geldwert gemacht, und geldwert gegengerechnet. Und da ist natürlich Streitpotenzial drin, dass man sagt: Nein, das ist aber ökonomisch der falsche Indikator, die falsche Umrechnungswährung, sozusagen. Das ist auch völlig okay, dass man sich da Gedanken drüber macht und jetzt anfängt, darüber zu diskutieren. Aber dass man sich das zumutet, das ist unabdingbar aus meiner Sicht. Beim Ehrenamt ist es vielleicht besonders kompliziert, aber es zu leugnen, dass ehrenamtliche Tätigkeit auch Wertschöpfung darstellt, das wäre so was wie spätrömische Dekadenz. Das geht also auch nicht.

    Barenberg: Und am Ende muss man sich dann entscheiden, was einem wichtiger ist: Die Schäden für Alkoholmissbrauch mit einzuberechnen oder die Schäden für Umwelt?

    Habeck: Das ist ja kein Gegensatz. Man muss sich nur entscheiden, dass man verschiedene Indikatoren mit einberechnen will. Welche das sein sollen, genau, darüber kann man streiten. Wenn Leute sagen, die ehrenamtliche Arbeit, die wollen wir nicht gewichten, also positiv gewichten, weil das das Bild von Hausfrauentätigkeit und so weiter hochhält, was wir eigentlich politisch nicht wollen, oder ich jedenfalls nicht wollen würde, dann wäre das Gegenargument: Ja, aber die ganzen Verbandstätigkeiten, im Sportverein, bei der freiwilligen Feuerwehr, und so weiter, die halten ja die Gesellschaft auch am Laufen, und das zu [negieren], geht eben auch nicht. Und da muss man irgendwie dazwischen einen Parameter finden. Das ist eine ganz spannende Debatte, die auch für Grüne, der ich ja bin, Wertvorstellungen noch mal zwingt zu überprüfen. Aber man muss sie sich stellen, das ist die Aussage. Man kann das einfach nicht sagen: Es interessiert uns einfach nicht, und alles, was nichts kostet, ist nichts wert. Die Zeit ist einfach vorbei.

    Barenberg: Sie haben gesagt, dass die Ergebnisse dieser Studie auch Schlussfolgerungen zulassen oder geradezu erzwingen über eine andere, über eine neue Wirtschaftspolitik. Was heißt das zum Beispiel für Schleswig-Holstein? Der Abschied von der klassischen Industriepolitik, von dem Wunsch, Großbetriebe anzusiedeln in Schleswig-Holstein, Arbeitsplätze zu schaffen?

    Habeck: Das wäre vielleicht ein halber Schritt zu weit gegangen. Es ist eben nicht möglich, eine Prognose zu erstellen, leider. Das halt waren meine Hoffnung, als ich die Studie in Auftrag gegeben habe, dass mir die Wissenschaftler sagen: Du hast - weiß nicht, was - fünf Millionen Euro, wenn du sie da rein steckst, erwirtschaftest du nach dem Indikator folgende Spanne, und nach unserem Indikator die andere Spanne. Es ist aber leider nicht so, sondern man kann klassisches Wirtschaftswachstum haben, und trotzdem steigt der alternative Wohlstandsindex der Gesellschaft, man kann aber auch schrumpfendes BIP haben, und der Wohlfahrtsindex bleibt gleich. Es ist schwer, das zu prognostizieren, aber die Studie sagt zum Beispiel, dass ein Bundesland wie Schleswig-Holstein seine Stärke und sein Innovationspotenzial da hat, wo die klassische Ökonomie eigentlich die Schwächen vermutet. Die Innovationsträger sind die kleinen und mittelständischen Betriebe im Land. Die sind nicht nur sozusagen so eine Art zweite Deichlinie - das ist ja bekannt, dass die mittelständische Wirtschaft weniger krisenanfällig ist -, sondern da finden die Innovationen statt. Und daraus kann man schon ableiten, dass die Idee, Schleswig-Holstein zu so was wie Detroit machen zu wollen - also große Industrie, Autoindustrie oder so was hier ansiedeln zu wollen -, genau an der Wirklichkeit des Landes vorbeigeht.

    Barenberg: Schleswig-Holstein geht es laut diesem Wohlfahrtsindex glänzend, im Vergleich zu anderen Gebieten oder im Vergleich zum gesamten Bundesgebiet. Heißt das denn auch, dass das Land künftig keine Transferzahlungen mehr aus dem Länderfinanzausgleich braucht?

    Habeck: Der Länderfinanzausgleich ist ein eigenes Problem, und der ist kompliziert, und aus meiner Sicht kompliziert schlecht, weil er eine Anreizwirkung für die Länder darstellt, sowohl für die Geber- wie die Nehmerländer, keine Einnahmen zu erhöhen. Es gibt Bundesländer - ich sage jetzt nicht welche -, die werben schon damit, dass sie keine Steuerprüfung haben, weil es keinen Sinn macht für die, mehr Steuern einzunehmen, dann würden sie nämlich die ganzen Gelder nicht im Land behalten, sondern weiter ausschütten. Also, der Länderfinanzausgleich muss dringend reformiert werden, den Schritt würde ich jetzt nicht gehen, sondern ich würde sagen, dass die weichen Indikatoren stärker ökonomisch gewichtet werden müssen. Das ist also greifbar im Bildungsbereich zum Beispiel, wenn man Einkommensumverteilung mit misst und negativ wertet - das ist jetzt Bestandteil der Studie zum Beispiel -, dann hat man einen anderen Ansatz zur Steuerpolitik, also, es ist wahrscheinlich weniger sinnvoll, nach diesem - ökonomisch weniger sinnvoll, Betriebe zu haben, wo wenige Leute viel verdienen und viele Leute kaum was verdienen. In dieser Hinsicht gibt es ökonomische Argumentationshilfen. Der Länderfinanzausgleich ist erst mal außen vor. Denn letztlich ist es ja real erwirtschaftetes Geld, das dann umverteilt werden muss. Aber die Lebensverhältnisse in den Ländern würden wahrscheinlich ernster gewichtet werden können, also die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Dafür könnte dieser Ansatz helfen.