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Im Schleppnetz nach Europa

Als sich die junge Nigerianerin Chisom einem Schlepper anvertraut, sieht sie sich in Europa schon als erfolgreiche Geschäftsfrau mit Chauffeur. Doch tatsächlich landet sie im Rotlichtbezirk Antwerpens. Mit "Schwarze Schwestern" zeichnet die Autorin Chika Unigwe das Schicksal vieler Schwarzafrikanerinnen auf ihrem Weg nach Europa nach.

Von Imogen Reisner |
    Chisom ist jung, hat das Studium der Wirtschaftswissenschaften erfolgreich beendet und immer davon geträumt, Lagos eines Tages verlassen zu können. Denn dort, wo sich ihr Leben abspielt, tragen die Wände die Farbe von Haferbrei, und es riecht überall nach verschimmelten Träumen.

    "Um die Sporen nicht einzuatmen, hielt sie zu Hause die Luft an.
    Wie ein Schwimmer unter Wasser.
    Einzuatmen würde den Tod bedeuten."


    Zwei Jahre nach ihrem Diplom ist Chisom immer noch arbeitslos. Im bevölkerungsreichsten Land Afrikas leckt man sich keineswegs alle zehn Finger nach den Akademikern, wie Chisoms Vater immer behauptet hatte. Ganz im Gegenteil! Nicht mal die kleinste der zahllosen Banken, die wie Pilze aus dem Boden schießen, interessiert sich für Chisoms Lebenslauf. Und privat bleibt ihr nur die Perspektive, in drei Jahren zusammen mit ihrem Freund zu dessen Familie zu ziehen. Diese Vorstellung ist noch unerträglicher als das, was ihr der feiste Schlepper in Aussicht stellt, dem sie wider besseres Wissen ins Netz geht, ins Schleppnetz nach Europa. Ihre Träume von einem Leben als Chefin mit Chauffeur wird Chisom in einem heruntergekommenen Bordell in Antwerpens Rotlichtbezirk für immer beerdigen.

    Ähnlich ergeht es Ama, Joyce und Efe, den drei anderen Protagonistinnen aus dem Roman Schwarze Schwestern von Chika Unigwe. Auch sie sind jung und stammen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in Nigeria. Der Alltag in ihren Familien ist geprägt von harter Arbeit, Geldmangel und Erschöpfung. Er beraubt sie jeglicher Chance auf ein einigermaßen erträgliches Leben. So bringt der Geruch des Geldes, das in ihrem nahen Umfeld nie in ausreichendem Maße vorhandenen ist, alle vier Frauen um den Verstand. Dele, der reiche nigerianische Schlepper, bestärkt sie in ihren naiven Vorstellungen von einem sorgenfreien Leben im vermeintlichen Schlaraffenland Europa. Illusionen, die sich allerdings schon vor ihrer Abreise aus Nigeria in Luft auflösen, wie uns Chika Unigwe in ihrem Roman nüchtern, anschaulich und spannungsreich erzählt.

    Efe wird mit 16 von einem 30 Jahre älteren Mann hinter dem Haus ihrer Eltern entjungfert. Etliche Liebesnächte später und um diverse Bekleidungsstücke reicher ist Efe bald schwanger. Bei der Geburt ihres Sohnes wird ihr klar, welch einschneidende Probleme ihr bevorstehen.

    "Das Baby war klein und runzlig und hatte schuppige Haut, wodurch es Efe an ein Reptil erinnerte. Dieser Junge war das hässlichste Wesen, das Efe je gesehen hatte, und sie konnte kaum glauben, dass sie es geboren hatte. Sie war jetzt für ihn verantwortlich und würde für ihn sorgen müssen. Sie verspürte keine große Lust dazu ..."

    In Lagos betrachtet man junge ledige Mütter als "beschädigte Ware". Sie haben keinerlei Chance, gesellschaftlich rehabilitiert zu werden. Um sich ein derartiges Schicksal zu ersparen und zumindest in Zukunft ein besseres Leben führen zu können, entscheidet sich auch Efe für die Flucht nach vorn, das heißt für die illegale Einreise nach Europa.

    Am krassen Beispiel ihrer vier Hauptfiguren dokumentiert die ebenfalls in Nigeria geborene Chika Unigwe, was ihre Geschlechtsgenossinnen mit dem Status der Illegalität im Rotlichtmilieu europäischer Großstädte erwartet: Abhängigkeit, Entwürdigung, Einsamkeit und Isolation.

    Ama ist die dritte der vier "schwarzen Schwestern". Seit ihrem achten Geburtstag wurde sie von ihrem bigotten Stiefvater missbraucht. Sie liebt die Musik aus dem Schallplattenladen gegenüber von ihrem Haus, aber sie darf sie nicht hören. Denn in den Ohren des Vaters, der sich in kürzester Zeit zum frömmelnden Hilfsprediger hochgebuckelt hat, ist diese Musik ...

    "... reines Teufelszeug! Solche Musik ( ... ) erklingt nicht zum Lobe des Herrn. Ja, Musik des Teufels! Der schwingt die Hüften und schüttelt die Hörner, wenn er Musik wie diese hört ( ... ) und schürt das Feuer für die Seelen, die er damit anlockt."

    Ama ist schon als Kind so einsam, dass sie mit den Wänden spricht und sie als ihre besten Freunde betrachtet. Als sie Lagos in Richtung Belgien verlässt, weiß sie, dass es in ihrer Stadt genug junge Leute mit Universitätsabschluss gibt, die ihren rechten Arm dafür hergeben würden, im Ausland zu arbeiten.

    Auch das Schicksal von Joyce, alias Alek, die schöne, wie Ebenholz schimmernde, ein 1,90 Meter große Frau, ist absolut chancenlos. Bevor sie mit ihrer Familie vor anrückenden Rebellen in den Sudan fliehen kann, wird sie zutiefst traumatisiert. Die tapfere Joyce, die die Liebe findet und wieder verliert. Und deren Trostlosigkeit von keinem Grauen auf der Welt mehr übertroffen werden kann.

    Nicht in der Zwartezusterstraat, der Straße der Schwarzen Schwestern, im Sperrbezirk von Antwerpen. Und auch nicht von Madam, der herzlosen nigerianischen Puffmutter mit dem Master in Betriebswirtschaftslehre, die Joyce und ihre drei Kolleginnen wie ihr persönliches Eigentum hält, in Zellen, die nicht größer sind als eine Hundehütte.

    Klar und nüchtern, aber niemals voyeuristisch, mit starken Bildern und einer Vielzahl gut recherchierter Details beschreibt die promovierte Literaturwissenschaftlerin Chica Unigwe den tristen Weg ihrer schwarzen Heldinnen vom afrikanischen Dauerregen in die europäische Traufe. Schildert deren aussichtslose Lebensgeschichten in den dörflichen und städtischen Strukturen in Nigeria so detailliert und präzise, dass das Elend förmlich greifbar ist, welches die jungen Frauen dazu treibt, ihre Heimat Richtung Europa zu verlassen. Im Herzen das Bild einer Fata Morgana, wie Unigwes Roman in der Originalausgabe heißt.

    Ebenso mitleidslos und ehrlich wie die unverrückbaren Umstände daheim dokumentiert der Roman die bitterharte Arbeit, die die vier illegalen Immigrantinnen als Prostituierte in den Schaufenstern und Hinterzimmern des Rotlichtmilieus täglich leisten müssen. Indem sie unentwegt zwischen den Personen, den Zeiten und den Orten des Geschehens hin und her springt, bringt die Autorin immer wieder Spannung und Dynamik in das meist triste Geschehen des Prostituiertenalltags.

    Die Authentizität und Schnörkellosigkeit, mit der Chika Unigwe in ihrem Debüt auf dem deutschen Buchmarkt das Schicksal ihrer vier Protagonistinnen darstellt, unterscheidet sich in seinem nahezu dokumentarischen Charakter von anderen Büchern, die das Thema der illegalen Prostitution behandeln. Auch Mythen, die der europäischen Bürokratie bei der Anerkennung von Flüchtlingen teilweise zugrunde liegen, werden kritisch beleuchtet. Im konkreten Fall geht es um Verhaltensempfehlungen im Umgang mit der Einwanderungsbehörde:

    "Heule. Jammere. Rauf dir die Haare. Die Weißen lieben solche Geschichten. Sie hören es gern, wenn wir erzählen, wie wir uns ( ... ) in unseren absurden Kriegen die Köpfe abhacken.
    Je makabrer die Geschichte, desto besser."


    Die Klammer, die beide Teile sowie Anfang und Ende des Romans zusammenhält, ist ein Mord. Bis zum Schluss schafft es die Autorin, den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Die einzigen, die niemals erfahren werden, wer der Mörder ist, sind die unmittelbar Betroffenen, die schwarzen Schwestern – auch das eine eher bittere Einsicht aus den knapp 300 Seiten des Romans.

    Armut ist weiblich, lautete eine Erkenntnis der letzten Jahre im noch immer relativ gesättigten Europa. Weibliche Chancenlosigkeit in prekären Gesellschaften ist ein weiteres Ungleichgewicht, das die Lektüre von Schwarze Schwestern nachhaltig belegt. Welche Anstrengungen es kostet, sich auch als Prostituierte einen unverhandelbaren Rest an Würde zu bewahren, bezeugen die Lebenswege von Sisi, Efe, Ama und Joyce leibhaftig und eindrucksvoll.

    Chika Unigwe: "Schwarze Schwestern", Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Tropen bei Klett Cotta, Stuttgart 2010, 284 Seiten; 19,95 Euro