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"Im Winter schläft man auch bei Wölfen"
Eine atemberaubende Flucht

"Im Winter schläft man auch bei Wölfen" erzählt von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Italien. Andrea Molesini sucht nach einem ungewöhnlichen Zugang, um mit diesem wenig behandelten Teil der Geschichte umzugehen. Traurigkeit oder Hunger mit Zähnen, kalt wie die Perlen am Hals von reichen Frauen, gehören in die Welt des zehnjährigen Erzählers, der die Geschichte seiner abenteuerlichen Flucht vor den deutschen Besatzern erzählt.

Von Anja Kampmann | 26.03.2015
    Es ist nicht das erste Mal, dass sie hinunter ins Loch müssen, aber diesmal ist Pater Ernesto sehr ernst: "Wir sind verraten worden." Das Franziskanerkloster hat einen unterirdischen Zugang zur Lagune von Venedig, ein Segelboot liegt bereit.
    "Eine Maschinengewehrsalve schlägt helle Punkte ins Wasser unserer Heckwelle. Dann Stille. Dann Schreie, bald hier, bald da. Deutsche Schreie. Stachelschweinschreie. Im Kloster gehen die Lichter an."
    Es ist der Beginn einer Flucht. Pietro, der zehnjährige Erzähler und sein jüdischer Freund Dario waren als Waisen im Kloster versteckt, ebenso zwei jüdische Schwestern und eine junge Frau namens Elvira, die als Nonne verkleidet ist. Sie alle und der Pater drücken sich auf die Planken des Segelboots. Während die Amerikaner bereits begonnen haben, das Land zu bombardieren, suchen die deutschen Besatzer in den letzten Kriegstagen noch immer nach Juden.
    Andrea Molesini ist mit diesem Roman ein kleines Meisterwerk gelungen: Pietro, der gerade zehn Jahre alt geworden ist, weiß, worin das Übel der Welt liegt. Die Menschen können mit ihren Augen immer nur einen kleinen Teil von ihr erkennen. Diese Reduzierung wird zum Erzählprinzip Molesinis; in 84 kurzen Kapiteln beschreibt er aus der Perspektive des Jungen eine atemberaubende Flucht.
    Die Mersathim, das Segelboot, wird in der Lagune von einem deutschen Patrouillenboot gerammt, und die Grenzen von Gut und Böse lösen sich weiter auf, als ausgerechnet ein Deutscher, mit einem Namen - Zitat - hart wie Käserinde, sie rettet. Karl erschießt seine eigene Besatzung und flieht mit den beiden Jungen, Elvira und einer der jüdischen Schwestern. Sie sind die einzigen Überlebenden des Angriffs.
    'Im Winter schläft man auch bei Wölfen' erzählt die Geschichte dieser Flucht, die in Apfelkarren und auf Kartoffelwagen vom Meer ins Gebirge führt, vor allem jedoch ist es die Geschichte der zwei Jungen, die Vertrauen fassen zu dem deutschen Deserteur mit den Fesselstriemen an den Handgelenken. Inmitten des Krieges sind die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht mehr zu erkennen. Sprache hat hier nicht nur die Funktion, die Welt zu beschreiben, sondern gegen die Angst anzureden.
    "Sie haben nicht geschossen. Es bleiben nur die langen Schatten der Bösen unter dem riesigen Mond. Sie sind schwärzer als das Dunkel und haben kurze Gewehre, ich sehe sie auf der weißen Straße gehen, im Mondschein, der sich in den Pappeln verfängt. Sie gehen hintereinander und ihre Stiefel wirbeln den Mondstaub auf. Sie kommen dicht an uns vorbei. Und ich spüre, wie Dario leise an meinem Hals atmet."
    Gerade aus dem scheinbaren Defizit, die Welt nur in Teilen erfassen zu können, entwickelt der Roman seine Kraft. Neben der Kinderperspektive, die mit gestochen scharfen Bildern überzeugt, eröffnen Tagebucheinträge Elviras eine zweite Perspektive in dem Roman. Darin verdeutlichen sich die Stationen der Flucht und zugleich ihre Tarnung als Nonne. Zwei Faschisten, die versuchten, sie zu vergewaltigen, hat sie mit einem Küchenmesser erstochen.
    Molesini hat einen Erzähler geschaffen, der bleibende Bilder schafft. So sind die Schuhe der toten Mutter so blank wie ein Teller, den man mit Brot ausgewischt hat; die Traurigkeit hat die Farbe von Schlamm und der Hunger hat Zähne, kalt wie die Perlen am Hals von reichen Frauen.
    So bleibt der Fokus auf der sinnlichen Wahrnehmung, bei der Angst und dem Hoffen der Kinder. Andrea Molesini gelingt es aber auch, die zeitgeschichtlichen Informationen en passant einzubetten.
    Faschisten, die mitten in der Nacht ihre Uniformen verbrennen, um sich den Partisanen anzuschließen, geben ein ebenso deutliches Bild wie die Schlussszene, in der deutsche Soldaten in einer Kneipe schikaniert werden.
    "Die beiden Jungen mit der Geige haben Angst. Aber vielleicht hat das ganze Wirtshaus Angst. Ich weiss, was Angst ist, es ist der Geruch nach Katzenpisse an einer gekalkten Wand. Und hier ist Angst. Überall. Sie ist auch in den weißen Rauchschwaden, die in der Luft weiße Schlieren ziehen."
    Gerade die Leichtigkeit, mit der hier erzählt wird, seine genaue und bildreiche Sprache, zeichnen den Roman aus. So sind die Augen von erschossenen Freunden offengelassene Fenster, und Pietro wird begleitet von einem imaginären Wolf, der zu ihm kommt, um die Angst zu vertreiben. Geschult ist Andrea Molesini nicht zuletzt durch seine zahlreichen Übersetzungen von Dichtern wie Derec Walcott oder Ezra Pound, aber Molesini ist auch selbst Lyriker, was sich in der motivischen Verdichtung und sprachlichen Genauigkeit vieler Szenen zeigt.
    Mit seinem zweiten Roman "Im Winter schläft man auch bei Wölfen" stellt Andrea Molesini einmal mehr unter Beweis, wie gerade der erzählerische Zugriff in seiner motivischen Verflechtung und der großen Nähe zu den Figuren es vermag, sich gegen jede Banalisierung des Kriegsgeschehens zu stellen. Auch die Bedeutung der spannungsreichsten Szenen erschließt sich erst in der Furcht der Kinder um diejenigen, die sie lieben, und um eine Welt, die sich ihnen gerade erst erschließt.
    Andrea Molesini: "Im Winter schläft man auch bei Wölfen"
    Roman, 271 Seiten, Piper Verlag, 19,99 Euro