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Imker und philosophischer Beststellerautor

Vor 100 Jahren bereits ist dieses Buch von Maurice Maeterlinck in der deutschen Übersetzung erschienen. Die Neuedition bietet nun die Gelegenheit zu überlegen, ob die Leser heute wie damals im "Fin de siècle" auf die drängenden Fragen ihrer Zeit Antworten im Bienenstock finden können.

Von Helmut Mörchen | 20.10.2011
    Der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1911, der belgische Autor Maurice Maeterlinck, ist nur noch wenigen bekannt. Der 1862 in Gent geborene, aber frankophone Dichter starb 1949 87-jährig in seinem südfranzösischen Schloss Orlamonde. Heute ist wohl nur noch Opernfreunden sein frühes Drama "Pelléas et Mélisande" durch die Vertonung Claude Debussys vertraut. Vor hundert Jahren aber war er, besonders auch in Deutschland, ein hochgeschätzter Bestsellerautor. In Ernst Glaesers autobiographischem Roman "Jahrgang 1902", 1928 erschienen, lässt der Autor die Mutter des Ich-Erzählers in der gespannten Stimmung kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs Ablenkung in der Dichtung finden. "Meine Mutter kümmerte sich in diesen Tagen wenig um mich. Sie las Maeterlinck: ‚Das Leben der Bienen’. Ein junger Arzt, der ein Feingeist war, hatte es ihr geliehen und in zarten Gesprächen ihre Leidenschaft für Literatur geweckt."

    Dieses 1901 erschienene und seit 1911 in deutscher Übersetzung vorliegende Buch können wir nun in einer schönen Edition des Zürcher Unionverlags zur Hand nehmen und so das Leseerlebnis unserer Vorfahren nachholen. Sprachlich eins zu eins, denn es handelt sich bei dieser Neuedition um die Erstübersetzung. Schon im Jahr 1902 eröffnete Rainer Maria Rilke in Bremen einen umfassenden Vortrag über Maeterlinck mit der Bemerkung, dass dieser "in Friedrich von Oppeln-Bronikowski einen sehr geeigneten und gewissenhaften Übersetzer gefunden" habe.

    Die Neuedition bietet so die Gelegenheit, der Frage nachzugehen, was wohl damals eine so breite Leserschaft in Maeterlincks Bienen-Buch gesucht und gefunden hat, und auf welches Interesse seine Studie heute stoßen könnte.

    Maeterlincks Anmerkungen zur "Bibliografie der Bienenkunde" gleich im ersten Kapitel "Auf der Schwelle des Bienenstocks" und auch der dem Buch angefügte Essay "Über Bienen" des österreichischen Schriftstellers Gerhard Roth, wie Maeterlinck auch Imker, können den Eindruck erwecken, hier werde Expertenwissen zur Diskussion von Fachleuten untereinander ausgebreitet.

    Wer aber diese Schwelle überschreitet, wird von Maeterlinck gut gegliedert in Kapiteln über "Das Schwärmen", "Die Stadtgründung", "Die jungen Königinnen", den "Hochzeitsflug" bis zur "Drohnenschlacht" auf unterhaltsame Weise in eine Welt entführt, deren Eigenart, deren Regeln, deren Zweckbestimmung uns fern und doch auch nah zu sein scheinen.

    Maeterlincks Buch über den Bienenstaat platzte in eine Zeit, in der in der Ahnung kommender Krisen und Katastrophen die Menschen die Spannung zwischen Individualität und Kollektivismus zunehmend verunsicherte. Der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, die Ungewissheit über Sinn und Ziel von Politik und Geschichte beunruhigte viele Menschen um 1900 zunehmend. Fin de Siecle, also das Ende einer Epoche, oder Jahrhundertwende als Aufbruch in eine fortschrittliche Moderne?

    Vor diesem vielleicht ja auch heute wieder aktuellen Hintergrund lohnt es sich, Maeterlincks Bienen-Buch zu lesen. Während etwa bei Jean-Henri Fabres vor kurzem auch wieder neu entdeckten "Erinnerungen eines Insektenforschers" die Vergleiche zwischen Insekten und Menschen Episoden bleiben, ist bei Maeterlinck der Grundriss des Bienenstaats fast durchgehend Blaupause für Vorstellungen von der Konstruktion der menschlichen Gesellschaft. Die in den letzten Jahren wieder heftig und kontrovers erörterte Frage, ob der Mensch über Freiheit verfügt oder der Kausalität der Naturgesetze gänzlich unterworfen ist, steht bei Maeterlinck am Anfang seiner Überlegungen:

    "Der Mensch hat das Vermögen, sich den Naturgesetzen nicht zu fügen. Ob es recht oder unrecht ist, von diesem Vermögen Gebrauch zu machen: Das ist der wichtigste, aber auch der unaufgeklärteste Punkt unserer Moral. Inzwischen ist es nicht belanglos, den Willen der Natur in einer anders gearteten Welt zu belauschen, und gerade bei den Honigwespen, die nächst dem Menschen unzweifelhaft die intelligentesten Bewohner dieses Erdballs sind, tritt dieser Wille sehr deutlich zutage. Er trachtet sichtlich nach Veredelung der Art, aber er zeigt auch, dass er diese nur auf Kosten der individuellen Freiheit und des individuellen Glücks erreichen will oder kann."

    Der Preis für "die architektonische, ökonomische und politische Vollkommenheit des Bienenstocks" ist die bedingungslose Unterwerfung aller – einschließlich natürlich auch der Königin – unter das Gesetz des Ganzen.

    Entgegen der Treitschkeschen Vorstellung von "Männern machen Geschichte" hatte ja schon Leo Tolstoi in "Krieg und Frieden" episch entwickelt, wie die Imperatoren, Napoleon und der russische Zar, Vollstrecker kollektiver, von ihnen kaum steuerbarer Kräfte sind. Natürlich bezieht sich Maeterlinck explizit weder auf Treitschke noch auf Tolstoi, aber wie er beim Ausschwärmen der Bienen den "Geist des Bienenstocks" als eigentliches Subjekt hervorhebt, erinnert in seiner Schilderung sehr an die Beschreibung einer der vielen frühmorgendlichen Schlachten in "Krieg und Frieden":

    "Mit der Königin ist es wie mit den Führern der Menschen: Sie scheinen zu befehlen und gehorchen doch selbst nur Geboten, die gebieterischer und unerklärlicher sind als die, welche sie ihren Untergebenen erteilen. Wann dieser ‚Geist’ den Augenblick für gekommen hält, muss er wohl schon bei Morgengrauen, ja vielleicht schon am Tag vorher oder zwei Tage vorher bekannt geben, denn kaum hat die Sonne die ersten Tautropfen aufgetrunken, so nimmt man rings um den Bienenstand eine ungewöhnliche Unruhe wahr, über deren Wesen sich der Bienenwirt selten täuscht. Manchmal soll selbst Uneinigkeit, Zaudern und Zurückweichen eintreten. Es kommt sogar vor, dass sich der goldig schimmernde, durchsichtige Schwarm mehrere Tage hintereinander bildet und ohne ersichtlichen Grund wieder verschwindet."

    Bemerkenswert sind Maeterlincks Gedanken zur Willkürlichkeit der Unterscheidung zwischen Instinkt und Intellekt. Die "hirnlosen Fliegen" stürzten sich anders als die Bienen nicht ungebremst in von Menschen bereitete todbringende Lockspeisen. So stehe "die Frage noch offen, ob man nicht intelligent sein muss, um so großer Torheiten fähig zu sein." So wie wir die Bienen beobachten und beurteilen, käme ein "übermenschlicher Beobachter" beim "Anblick der Alkoholverwüstungen unter den Menschen oder eines Schlachtfelds" hinsichtlich der "Grenzen unseres Verstandes" zu ähnlichen Schlüssen.

    Bei weiteren Beobachtungen, etwa der "Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und dem Unglück ihrer Mitschwestern", stellen sich im Blick auf das Massensterben und die Massenmorde in den hundert Jahren zwischen der Lektüre damals und heute noch ganz andere Assoziationen ein.

    Dass aber Maeterlincks Buch nicht Schopenhauerschen Pessimismus oder gar Spenglersche Untergangsphantasien verbreitet, verdanken wir Leser damals wie heute dem so klugen und erfrischenden Schlusskapitel über den "Fortschritt der Art". Nicht dem Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet, sondern Karl Poppers kritischen Rationalismus vorwegnehmend entlässt uns Maeterlinck in die Hoffnung, dass für eine sich ihrer Erkenntnisgrenzen und ihrer Handlungsverantwortung bewussten Menschheit sich letztlich alles "natürlich zum Besten wendet".
    Maurice Maeterlinck: Das Leben der Bienen
    Aus dem Französischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski
    Mit einem Essay über Maeterlinck und die Bienen von Gerhardt Roth

    Unionsverlag, Zürich 2011, 256 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-293-00427-X