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"Immunitätsgesetz" in der Türkei
Kurdischen Abgeordneten droht Haft

Im türkischen Parlament geht es heute um eine umstrittene Verfassungsänderung. Demnach soll es künftig einfacher sein, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben - vielen von ihnen drohen dadurch jahrelange Haftstrafen. Die geplante Verfassungsänderung richtet sich vor allem gegen die HDP. Die prokurdische Partei befürchtet, zerschlagen zu werden.

Von Thomas Bormann | 17.05.2016
    Die kurdische Parlamentsabgeordnete der HDP, Leyla Zana, verlässt das Podium des Parlaments in Ankara, nachdem sie ihren Eid abgelegt hat.
    Die kurdische Parlamentsabgeordnete der HDP, Leyla Zana, verlässt das Podium des Parlaments in Ankara, nachdem sie ihren Eid abgelegt hat. (picture alliance / dpa / Str)
    Panzer rollen durch die Wohnviertel kurdischer Städte im Südosten der Türkei, ganze Straßenzüge liegen in Schutt und Asche. Ist das der notwendige Kampf des türkischen Staates gegen PKK-Terroristen, wie es die Regierung betont? Oder ist das vielmehr ein Krieg der türkischen Armee gegen die eigene Bevölkerung, wie es die prokurdische Oppositionspartei HDP immer wieder anprangert?
    Vor einigen Wochen sagte HDP-Parteichef Selahattin Demirtas: "Wenn man mit 10.000 Soldaten und sechs Generälen in einen Bezirk eindringt, dann leisten die Bürger dort Widerstand. Wenn die Regierung dort Haus um Haus stürmt und durchsucht, dann hat sie dem Volk den Krieg erklärt. Dann wird sich das Volk natürlich dagegen widersetzen." Geht es nach Präsident Erdogan wird, Parteichef Demirtas wegen solcher Aussagen bald im Gefängnis sitzen.
    Zwar prangern auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch an, die türkische Regierung gehe unverhältnismäßig hart vor und nehme bei ihren Militäroperationen keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Aber derlei Kritik prallt an Erdogan ab.
    Erdogan wirft vielmehr den Parlamentsabgeordneten der prokurdischen HDP vor, sie würden ihre Immunität missbrauchen. "Die Abgeordneten genießen ja nicht deshalb Immunität, damit sie Terror-Organisationen schützen”, schimpfte Präsident Erdogan schon vor Monaten: "Das Parlament darf diesen Missbrauch der Immunität nicht länger dulden. Das Parlament und die Justiz müssen gegen Abgeordnete vorgehen, die sich wie Mitglieder einer Terrororganisation verhalten.
    Inzwischen hat die Regierungspartei AKP alles in die Wege geleitet, um mit einer Verfassungsänderung die Immunität von Abgeordneten leichter aufheben zu können.
    "Der türkischen Demokratie geht der Atem aus"
    Drei Mal gab es bei den Diskussionen um dieses Gesetz schon handfesten Streit im Parlament: mit Schlägereien und Fausthieben. Die Mehrheit für eine Verfassungsänderung scheint inzwischen sicher – an diesem Freitag schon soll das Parlament entscheiden. Danach könnte es sehr schnell gehen: Innerhalb von zwei Wochen könnten Staatsanwälte Parteichef Demirtas wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung” anklagen und verhaften lassen. Dasselbe droht etlichen weiteren HDP-Abgeordneten. "Wir sollen mundtot gemacht werden”, beklagt Parteichef Demirtas: "Wenn das passiert, dann werden die Bürger ihren Glauben an eine demokratische und friedliche Politik komplett verlieren. Die Menschen werden nach anderen Mitteln und Methoden suchen."
    Demirtas befürchtet, dass die Gewalt im Südosten der Türkei noch weiter zunehmen wird, wenn seine Partei mit diesem Immunitätsgesetz quasi aus dem Parlament gedrängt wird und somit diese kurdische Stimme im Parlament verstummt. Parteichef Demirtas zieht ein pessimistisches Fazit: "Der türkischen Demokratie geht der Atem aus. Es gibt leider keine Anzeichen, die auf eine kurzfristige, baldige Besserung hoffen lassen."