"Hallo! Hallo. Sie haben die Kanon-Hotline erreicht. Mein Name ist Ilja von She She Pop… wir widmen den heutigen Abend ja der Erinnerung ans Theater, wo wir ja nicht mehr hingehen können. Schön, dass Sie anrufen. Sitzen Sie bequem?"
Die charmante Hommage ans Impulse-Festival beginnt nicht digital, sondern von Ohr zu Ohr, am Telefon. Gemeinsam erschaffen wir Erinnerung im Erzählen. Ilia Papatheodorou vom Performance-Kollektiv She She Pop erzählt von einem Bühnenereignis, das sie besonders beeindruckt hat. Und dann bin ich dran und grabe auch eine ganz alte Theatererinnerung aus. Die Umarbeitung von She She Pops Stück "Kanon" als Telefon-Theater funktioniert als Jubiläumsstück wunderbar, irgendwie langsam, intim, erfrischend undigital und nostalgisch ist diese mündliche Archiv-Erschaffung. Eine Erinnerungs-Anregung, die der Geschichte der "Impulse" würdig ist, denn das Festival hat in dreißig Jahren die Grenzen der Performance-Kunst ausgemessen und immer wieder überschritten.
"Fremde Heimat, irr als Flüchtling in der Fremde ich umher. Und die meisten meiner Lieben… ach ich find sie nimmermehr…"
Hymne an den Heimatverlust in Ostpreußen
Vergessen kann aber auch eine Tugend sein. Darum dreht sich die virtuelle Arbeit von Oliver Zahn. In "Lob des Vergessens Teil 2" muss sich der Zuschauer bei einer Zoom-Konferenz anmelden und sieht als Bühne den Desktop des Theatermachers. Wir hören ein altes Lied. Und sonst nichts. Stattdessen tippt eine unsichtbare Hand auf digitale Notizzettel. Es ist eine stumme Vortrags-Performance. Einst sangen dieses Lied wehmütig deutsche Vertriebene aus Osteuropa. So tief hat es sich in ihr kollektives Gedächtnis gegraben, dass es heute selbst bei der Therapie von Demenz-Kranken eingesetzt wird, da es die Erinnerung triggert. Die Vertriebenen sahen sich als Opfer. Die echten Opfer des Zweiten Weltkrieges kamen in dieser Narration dagegen nicht vor, meint der Regisseur Oliver Zahn. Er ringt schreibend mit den Sätzen, zeigt uns seine Recherche-Ergebnisse auf dem Computer-Bildschirm. Anhand von Archiven, Binärdateien, Youtube-Videos wird klar, wie viel Mühe in das Bewahren des gesungenen Gedächtnisspeichers investiert wurde. Die mythische Hymne an den Heimatverlust in Ostpreußen war offenbar die Überschreibung eines Volkslieds aus Russland. Wurde das Liedgut des Feindes damit vielleicht bewusst enteignet, fragt Oliver Zahn in seiner digitalen Essay-Performance.
Internet als Erinnerungsspeicher
Es ist so spannend wie anstrengend, seine Gedanken am Bildschirm nachzulesen. Immer stärker münden sie in eine Reflexion über Erinnerung: Ist es nicht manchmal auch einfach besser, überlegt der Regisseur, die toxischen Denkweisen zu vergessen, die sich mit der heroischen Opfer-Erzählung der Vertriebenen verbinden? Und wie hat sich das Erinnern durch das Internet verändert, das nichts mehr vergisst?
Die heilende Bedeutung von Erinnerung zeigt dagegen die schöne Arbeit "Stricken" von Magda Korsinsky:
"Ich bin in einer sehr rassistischen Familie aufgewachsen… Du bist ja nicht schwarz, du bist ja mokka, und du bist ja unsere Schokolade. Und dieser Druck einfach gleich zu sein wie weiße deutsche Kinder, den Druck haben sie schon massiv geschürt."
Sechs afrodeutsche Frauen sprechen da in sehr radiofon-podcastartigen 50 Minuten ziemlich persönlich über ihre weißen Großmütter. Gefilmt wurden sie vor Wänden mit fein bestickten Tischdecken und Taschentüchern: Nostalgische Souvenirs der Kindheit. Und ihre Erinnerungen erzählen eben auch viel über komplexe Generationenverhältnisse. Zwischen Großmüttern, die in NS-Schuld und Rassismus verstrickt waren und 68-er-Mütter, die ausbrachen. Und eben hoch eloquenten, erfolgreichen afrodeutschen Töchtern, die dennoch selbst oft strukturellen Rassismus verspüren.
"Lesson 1: How to feel yourself in Zoom." Und wem das alles zu viel und zu verkopft ist, zumal noch nur auf einem winzigen Computerbildschirm, der kann ja immer noch die Ballettübungen mit dem zur Zeit größten Shooting Star der Tanz- und Theaterszene Florentina Holzinger mitmachen. Zur dreistündigen Eröffnungsshow der "Impulse" zeigte sie mit ihren nackten Tänzerinnen ein 15-Minuten-Home-Workout der besonderen Art und bringt ironisch damit auf den Punkt, wie wir uns alle gerade zwischen Drill, Selbstoptimierung und Selbstausbeutung bewegen, erstarrt vor den Bildschirmen, voller Sehnsucht nach Bewegung und Begegnung.