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Imre Kertész' Tagebuch
"Kein Tag ohne Zeile - gegen Auschwitz"

Das Tagebuchschreiben sei so bedeutsam, "weil darin Bilder vom Leben aufleuchten, mehr als in der künstlerischen Form", schreibt Imre Kertész. In der Veröffentlichung seiner Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit zwischen 1991 und 2001 wird nochmals deutlich, welche zentrale Rolle der Holocaust und Auschwitz im Werk von Kertész spielen.

24.11.2016
    Der Schriftsteller Imre Kertesz.
    Imre Kertés verflechtet in seinen Tagebuch-Veröffentlichungen die täglichen Notizen mit dem Roman. (dpa/picture-alliance/Laszlo Beliczay)
    Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, der im März im Alter von 86 Jahren verstorben ist, wurde im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis geehrt, weil er aus der Erfahrung, die er als Vierzehnjähriger in Auschwitz machen musste, ein literarisches Werk von einsamer Größe hervorgebracht hat. Dieser Autor mit der warmen Erzählerstimme, in der noch das verblichene Deutsch der Donaumonarchie nachklang, war aber nicht nur ein großer europäischer Romanschriftsteller, sondern auch ein bedeutender Tagebuchautor. In seinem Werk überlagern sich die beiden Schreibweisen. Früher galten Tagebücher als Nebenarbeiten der Dichter, die ihren Werkausgaben einfach angehängt wurden. Doch längst haben sich Aufzeichnungen, die nicht dem Faden einer Erzählhandlung, sondern dem Kalender und der Tagesbeobachtung folgen, zu einer eigenen literarischen Form entwickelt. Nimmt man die Beispiele Friedrich Hebbels, Ernst Jüngers, Virginia Woolfs oder auch die von Kertész‘ großem Vorbild Sándor Márai, so überleben und überbieten ihre Tagebücher bisweilen das eigentliche literarische Werk.
    Alle Aufzeichnungen, die Imre Kertész in drei Büchern veröffentlicht hat, zeigen die enge Verflechtung von Tagebuch und Roman. 1993 erschien auf Deutsch das Galeerentagebuch, das der Autor im Untertitel ausdrücklich auch "Roman" nannte. Darin sind Ereignisse und Gedanken der Jahre von 1961 bis 1991 festgehalten, in denen Kertész an seinem ersten Roman eines Schicksallosen schrieb. In diese Zeit fiel auch die Arbeit am zweiten Erzählwerk Fiasko, das die anfängliche Ablehnung des Romans eines Schicksallosen verarbeitete. Diese Erfahrung der Erfolglosigkeit hatte Kertész zuvor auch seinem Tagebuch anvertraut. 2013 kamen die Tagebücher der Jahre 2001-2011 heraus. Sie nannte der Autor "Letzte Einkehr". Die Aufzeichnungen dieses Jahrzehnts verarbeitete Kertész unterdem gleichen Titel zu einem weiteren "Tagebuchroman", den er 2014 als "Krönung" seines Werkes bezeichnete.
    Die Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren des Ruhms und der Krankheit
    Jetzt also, kurz nach seinem Tod, erscheinen unter dem Titel "Der Betrachter" Aufzeichnungen der Jahre 1991-2001. In diesem Jahrzehnt fand Kertész zunehmend Anerkennung, Preise und Ehrungen mehrten sich, der Roman eines Schicksallosen wurde in mehrere Sprachen übersetzt, die finanziellen Sorgen rückten in den Hintergrund, der Kalte Krieg ging zu Ende, sein Heimatland Ungarn schüttelte die kommunistische Diktatur ab. Dennoch hellen sich die Welt und Gegenwart des Schriftstellers nicht auf. Der Ton dieser Tagebücher ist bestimmt durch Misstrauen, Melancholie, durch Krankheit und Tod seiner ersten Ehefrau Albina, vor allem aber durch die fortwuchernde Erinnerung an die faschistische und kommunistische Diktatur.
    Zugleich bringt uns dieses Betrachter-Tagebuch in die unmittelbare, aber keineswegs intime Nähe eines Künstlers, der mit den Erfahrungen des Alters, der Krankheit, der künstlerischen Krise, des Ruhms, der Liebe, zu kämpfen hat und der alle Misshelligkeiten in einer grimmigen, aber auch triumphalen Sprache verarbeitet. Man spürt, dass dieser Schriftsteller nicht zum Glücklichsein geboren ist, sondern auch in den Momenten der Anerkennung, der Liebe, des schöpferischen Gelingens mit dunklen Schatten kämpft, mit dem Judenschicksal, mit der Heimatlosigkeit, der nahenden Krankheit, dem eigenen Zweifel.
    "Mein Leben war immer (…) auf Verlieren gegründet; ich machte meine sicheren Verlusteinsätze wie andere den Gewinntip. Und jetzt? Es gibt irgendein mystisches Gegengewicht; ich selbst habe nicht allzuviel gewonnen, und die Altersqualen, der nahe Tod gleichen alles wieder aus. War ich glücklich? Bin ich glücklich? Ich bin es nur – im totalen Sinn des Wortes, das heißt im vollen Sinn meiner Seinsrealität -, solange ich schreiben kann. Das andere bin ich nicht."
    Das Tagebuch als die höhere literarische Form
    Dieses Hochgefühl des Schreibens gewährt erst recht das Journal. Die tägliche Aufzeichnung hält die Gewissheit fest, im Schreiben zugleich in der Welt zu sein. Damit knüpft Kertész an eine gleichsam mönchische Regel an, die befiehlt: Nulla dies sine linea, kein Tag ohne eine Zeile! Das Tagebuchschreiben dient nicht in erster Linie der Erinnerung, sondern gewährt das Gefühl des Lebendigseins. Was das Tagebuch vermag, erlernt man aus anderen Tagebüchern. Immer wieder notiert Kertész Gedanken und Eindrücke aus den "täglichen Zeilen" anderer Autoren. Über die Seiten seiner Betrachtungen verstreut finden sich Lesefrüchte aus den Tagebüchern Tolstois, Kafkas, Camus‘, Thomas Manns, Emile Ciorans und Sándor Márais. Und so neigt der "Betrachter" auch zu der Ansicht, dass das Tagebuch eine höhere literarische Form darstellt:
    "Die Bedeutsamkeit des Tagebuchschreibens also: weil darin Bilder vom Leben aufleuchten, mehr als in der künstlerischen Form. (…) Auch das Tagebuchschreiben hat nur dann Sinn, wenn es die rätselhafte emotionale Filtermaschine durchläuft, die den rohen Tatsachen letztlich künstlerische Form und Empfindung verleiht."
    Das Tagebuch, die "tägliche Zeile", behauptet sich gegenüber der schönen Literatur im traditionellen Sinne durch die Wahrheitsmacht der Bilder aus dem Leben selbst. Die Aufzeichnung durchläuft nicht nur die "emotionale Filtermaschine", sondern sie spricht in mehreren Registern gleichzeitig. Der Tagebuchautor kann selbst als Künstler die Wahrheit der Kunst befragen und bezweifeln, er kann aber auch in den eigenen vergangenen Notizen blättern und trauern. Oder er kann beim Wiederlesen des Galeerentagebuchs bisweilen die vergangene düstere Zeit als glückliche Epoche erleben:
    "Meine geheimen Morgenstunden, geheimen Spaziergänge, meine einsame, intime Selbstzerfleischung, das Schreiben als Geheimnis: all das ist vorbei, kann es vorbei sein? Die träumerischen Zusammenhänge meines Lebens, der Augenblick vor (…) zwanzig Jahren, da ich, in hoffnungsloser Lage, mitten in ein für Liebe gehaltenes hoffnungsloses Gefühlsknäuel verwickelt, sagte (…), dass ich Weltruhm brauchte, dass nur Weltruhm mich retten könnte. Voilà hier steht er am Tor. Ich bin sogar schon eingetreten durch das Tor – ist es nicht so?"
    Melancholie und grimmiger Humor
    Auch hier klingt das Habsburger literarische Erbe durch: Pessimismus, Melancholie, der böse Blick auf die Welt, der grimmige Humor. Diese große Tradition, die er mit Autoren und Autorinnen wie Karl Kraus, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek oder auch mit den ungarischen Freunden Peter Nadas und Peter Esterhazy teilt, bewahrt auch jenes endzeitliche Vokabular, das es Kertész ermöglichte, sein Werk um das Schwarze Loch Auschwitz herum zu errichten. Nahezu jede üble Erfahrung ruft diese Erinnerung auf, gleich ob er den zeitgenössischen Antisemitismus beobachtet, ob er eine Klinik betritt oder ob er es mit dem Tod zu tun bekommt. Ja, selbst die Aufforderung eines Freundes, Bachs Johannes-Passion zu hören, diktiert ihm die Bemerkung: "Bach kannte noch nicht Auschwitz, nur die Hölle."
    Kertész sieht die europäische Kultur allein durch diese beiden Ereignisse bestimmt, durch die Passion auf Golgatha und durch den Holocaust. Er betrachtet sich daher als "Medium des Geistes von Auschwitz", seine Schriftstellerexistenz ist an diese Erfahrung genagelt wie Jesus ans Kreuz. Im Zeichen und gezeichnet von dieser Mission muss ihm alle Literatur, die ihren Sinn von einer anderen Erfahrung her bezieht, wie etwa die Romane Umberto Ecos, beinahe als Schund erscheinen. Und immer wieder fragt er sich: Welcher Historiker, welcher Autor hat diese Geschichte begriffen?
    "Denkt denn keiner daran, dass Hitlers wirkliches Ziel die Verwandlung der Welt in Auschwitz war? Warum glaubt man ihm das nicht? Wahrscheinlich deshalb, weil Historiker doch meist nüchterne Intellektuelle sind, die in ihren Bibliotheken bei Kaffee und Cognac versuchen, das Bild der Welt zusammenzusetzen; sobald sich ein Dostojewski unter den Historikern findet, wird sich das Geheimnis des durch Hitler gesteuerten Holocaust auf der Stelle lösen – obgleich zu befürchten wäre, dass er die Angelegenheit überdämonisieren würde. Den treffenden Titel hat schließlich Hannah Arendt gefunden: Die Banalität des Bösen." (p. 231)
    Gegen die Aneignung des Holocausts durch das Unterhaltungskino
    Doch in dieser Rolle läuft der Schriftsteller Gefahr, wie er selbst schreibt: ein "Auschwitz-Clown" zu sein. Das ist freilich das Risiko aller Heiligen und Propheten, nämlich der Welt als Narr zu erscheinen. Es geht Kertész auch nicht nur darum, den im Namen "Auschwitz" steckenden Schrecken lebendig zu halten, sondern auch darum, die Aneignung des Holocaust durch das Unterhaltungskino zu bekämpfen. Den Welterfolg des Films Schindlers Liste kommentiert er mit den Worten: "Seit Spielberg und das amerikanische Kapital den Holocaust entdeckt haben, müssen wir damit rechnen, dass sich die monströse Geschichte der Judenausrottung im tiefen Dunkel romantischer Indianergeschichten verliert." Diese Besorgnis diktiert ihm kein literarischer Dünkel, keine Kinoverachtung, sondern die kritische, selbstkritische, um nicht zu sagen, die selbstzerstörerische Skrupelhaftigkeit des Künstlers. Kertész weiß nur zu genau, dass es kein authentisches Erzählen gibt, sondern dass auch der aufrichtigste Künstler die Welt als künstliche Wirklichkeit hervorbringt. Im Tagebuch prüft der Betrachter daher täglich, wie er seine Erfahrung justieren und die Worte noch einmal an die rechte Stelle rücken kann. Nulla dies sine linea, diese alte Tagebuchdevise, hieß für Kertész: Kein Tag ohne eine Zeile gegen Auschwitz.
    Imre Kertész: Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991-2001.
    Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Reinbek: Rowohlt 2016. - 19,95 €