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"In der Sache ist er angekommen"

Ex-Bild-Chef Hans-Hermann Tiedje bescheinigt Guido Westerwelle Erfolg bei der Themensetzung. Der Außenminister sei mit seiner Bewertung des Hartz-IV-Urteils darüber hinaus nicht allein - Umfragen stützten ihn teilweise.

Hans-Hermann Tiedje im Gespräch mit Bettina Klein | 22.02.2010
    Bettina Klein: Wie kommt eigentlich die aktuelle Debatte über mögliche Konsequenzen aus dem Hartz-IV-Urteil in der Öffentlichkeit an? Welche Folgen gibt es für die Regierungskoalition in Berlin? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Kommunikationsberater und ehemaligen Chefredakteur der Bildzeitung, Hans-Hermann Tiedje. Schönen guten Morgen!

    Hans-Hermann Tiedje: Guten Morgen, Frau Klein!

    Klein: Haben wir jetzt einen Fortschritt in der Debatte erlebt durch die Vorstöße von Herrn Westerwelle?

    Tiedje: Wir haben keinen Fortschritt in der Debatte erlebt. Der Fortschritt liegt darin, dass die Debatte überhaupt stattfindet. Wenn Sie sich erinnern: vor einer Woche oder vor zehn Tagen ging es ja darum, ob Westerwelle mit dieser Themensetzung in der Öffentlichkeit überhaupt durchdringen kann. Es ist ja traditionell so ein-, zwei-, dreimal im Jahr, dass irgendeiner sich bemüht, ein Thema zu setzen, und ein Teil der Öffentlichkeit versucht, diese Diskussion zu unterbinden. In diesem Fall hat man das als empörend, oder als unanständig abqualifiziert, was Westerwelle da sagt, und das sind immer sichere Zeichen dafür, dass bestimmte Leute eine bestimmte Diskussion gar nicht führen wollen. Es ist Westerwelle gelungen, diese Diskussion – und zwar auf breiter Front – loszutreten, und insofern hat er zumindest persönlich in der Öffentlichkeit – das mag vielleicht manche wundern, dass ich das sage, aber es ist so – sein Thema gesetzt und damit bisher Erfolg gehabt.

    Klein: Also der Aufschrei ist erfolgt und damit das eigentliche Ziel des FDP-Chefs erreicht, oder wie?

    Tiedje: Man muss ja immer sehen, wie das losging in dieser Koalition. Der hatte ein bestimmtes Programm, Kündigungsschutz, Mindestlohn, Gesundheitsfonds, Steuersenkungen sind nicht drin, das war die Position der CDU. Die FDP kam in eine Koalition, die sogenannte Wunschkoalition, in der von vornherein von Frau Merkel fast alles abgebogen worden ist, und da ist es natürlich so, dass man wahrscheinlich sich dann überlegt, was ist hier das Thema. Und das Thema, das Westerwelle gefunden hat und das ja auch traditionell ein Thema ist, ist die Mitte, der Kampf um die Mitte, und da ist die Frage, wie gewinne ich den. Wenn Sie sich erinnern: Eigentlich vertritt Westerwelle Punkt für Punkt ja nur Thesen oder Auffassungen, die Frau Merkel vor fünf Jahren auf dem Leipziger Parteitag der CDU auch vertreten hat. Die hat sich nur geändert. Er vertritt die Positionen von Friedrich Merz. Er vertritt sie nicht so elegant. Und dann ist ihm natürlich dieses Bild mit der spätrömischen Dekadenz aus dem Ruder gelaufen. Natürlich gab es damals keine Hartz-IV-Empfänger und natürlich stimmt das Bild nicht, aber in der Sache ist er angekommen. Es ist eine breite Diskussion. Vielleicht erinnern Sie sich daran, ich nicht, dass seit langer Zeit eine so breite massive Diskussion über ein Thema in Deutschland geführt wird.

    Klein: Herr Tiedje, der Eindruck ist natürlich schon klassisches Oppositionsgehabe in der Regierung. Kann sich das eine Bundesregierung leisten?

    Tiedje: Das weiß ich nicht. Da müssten Sie Frau Merkel fragen, da bin ich der falsche Ansprechpartner. Die Beobachtung, dass Westerwelle Regierungsmitglied ist und sich teilweise wie ein Oppositioneller aufführt, die teile ich auch, aber wenn es dem Ziel dient.

    Klein: Seinem Ziel dient es möglicherweise, aber schadet er damit dem Amt des Außenministers, dessen Inhaber ja eigentlich der hohen Diplomatie Tribut zollen muss. Welcher Eindruck entsteht da?

    Tiedje: Das ist ja nicht der kritische Punkt. Es kommt der Vergleich Westerwelle-Fischer. Das ist das nächste, was in den nächsten Tagen stattfinden wird. Ist er überhaupt als Außenminister geeignet, wenn er so was macht, wenn er solche Dinge sagt? Ich finde, das kann man nach knapp 100 Tagen gar nicht beantworten. Wenn man sich daran erinnert – die wenigsten werden das tun -, wie 1983 die Koalition Kohl-Genscher ins Amt ging, nach 100 Tagen standen die vor allen möglichen Streitfragen und Scherbenhaufen. Das hat dann 16 Jahre gedauert. Also das ist zu früh!
    Aber ich möchte noch mal daran erinnern: Westerwelle ist ja nicht so allein auf weiter Flur. Die Umfragen stützen ihn teilweise, dann dieses beredte, geradezu hörbare, fühlbare Schweigen von Gerhard Schröder. Wo ist der eigentlich? Der hat ja Hartz IV über Deutschland gebracht. Wo ist der? Hat er was zu Westerwelle zu sagen, ja oder nein? Vielleicht bringen Sie Schröder dazu, sich mal zu äußern. Es sind viele Punkte, die in der Öffentlichkeit noch zu klären sind, und es ist absolut richtig, dass Westerwelle Fehler gemacht hat, aber er hat sich offenbar ein Ziel gesetzt und er ist auf dem Weg, das zu erreichen. Ich sehe das ein bisschen anders als ein Teil der veröffentlichten Meinung.

    Klein: Die Kanzlerin hat sich distanziert, ein bisschen distanziert jedenfalls. Dies sei nicht ihr Duktus, dies sei nicht ihre Wortwahl. Agiert sie glücklich im Augenblick in der Öffentlichkeit?

    Tiedje: Frau Merkel war vier Jahre als Kanzlerin der Großen Koalition immer sehr populär und populär ist sie im Augenblick auch noch, aber im Augenblick erwartet die Öffentlichkeit, glaube ich, Entscheidungen von ihr. Und was will sie machen? Sie kann ja Westerwelle nicht wirklich stoppen, weil zurück zur Großen Koalition gibt es nicht, Bundestagswahlen stehen nicht vor der Tür. Ob sie glücklich agiert, will ich mal nicht beurteilen, aber ich glaube, das ist Westerwelle jetzt auch Wurst. Der hat ein Ziel und der will durch und deswegen agiert er so, wie er agiert.

    Klein: Wo wird das Ganze enden? Was meinen Sie?

    Tiedje: Das endet einfach in irgendeinem großen Koalitionsfrieden in ein paar Monaten, aber ich glaube, dass Westerwelle insofern die öffentliche Diskussion ein Stück vorangebracht hat, weil die Menschen, die da sagen – ich sehe das jetzt Mal von der Meinungsseite her, von der veröffentlichten Meinung -, darüber darf man gar nicht reden und das ist unanständig, das ist empörend, die geraten langsam unter Druck und auch in die Minderheit. Sie können das ja sehen zum Beispiel am Mitgliederverhalten der Gewerkschaften. Denen laufen immer mehr Mitglieder davon. Eigentlich müssten doch in diesen Zeiten die Gewerkschaften an Mitgliederschaft zunehmen. Daran kann man schon erkennen, dass viele Arbeitnehmer, sagen wir mal Bauarbeiter, Stahlarbeiter, die sehen ja das, was teilweise bei ihnen passiert in ihrer Umgebung, und die haben sicher das Gefühl, dass Westerwelle Dinge ausspricht, die nicht so ganz falsch sind.

    Klein: Das Wort dazu von Hans-Hermann Tiedje, Kommunikationsberater, ehemaliger Chefredakteur der Bildzeitung. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Tiedje.

    Tiedje: Auf Wiederschauen!