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In Melancholie versunken

Drei Sonaten hat Johannes Brahms dem Zusammenspiel von Geige und Klavier gewidmet - einer Gattung, die damals von vielen totgesagt wurde. Ihm gelang es, die Form mit neuem Leben zu füllen. Und den Geschwistern Lusine und Sergey Khachatryan gelang eine feinfühlige Interpretation.

Von Raoul Mörchen |
    Drei Sonaten hat Johannes Brahms dem Zusammenspiel von Geige und Klavier gewidmet, drei Werke, die bald nach ihrer Entstehung in den festen Repertoireschatz der romantischen Kammermusik ge-langten. Sie sind erste und letzte Worte eines Komponisten in einer Gattung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von vielen totgesagt war, und die Brahms allen Zweifeln zum Trotz doch noch einmal mit Leben füllen konnte. Das Geschwisterpaar Lusine und Sergey Khachatryan hat die Sonaten op. 78, 100 und 108 für das französische Label Naive aufgenommen.

    Brahms: Sonate op.78, 1. Satz: Vivace man non troppo

    Warum Johannes Brahms 45 Jahre alt werden musste, um endlich solche Musik zu schreiben? Die Biografie bietet für eine Antwort wenig Anhaltspunkte. Natürlich hatte sich Brahms selbst früh schon für das Klavier entschieden. Als 10-Jähriger bereits trat er in seiner Heimatstadt Hamburg auf. Doch gerade am Klavier war Brahms der Geige nahegekommen: gleich zu Beginn seiner Karriere als Begleiter des ungarischen Virtuosen Eduard Remenyi. Mit ihm ging Brahms 1853 auf Konzertreise und machte dabei die Bekanntschaft des jungen Joseph Joachim. Der wohl bedeutendste deutsche Geiger seiner Epoche wurde ein enger Freund, er führte Brahms im Hause Robert und Clara Schumann ein und wurde zum wichtigen Fürsprecher in den erhitzten ästhetischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts. Wie gut sich Brahms generell mit Geigern stand, das lässt sich nicht zuletzt an der Werkgeschichte der Sonate Nr.1 op. 78 ablesen: Im Jahr nach ihrer Vollendung begleitete Brahms am Flügel mit Joseph Helmesberger, Joseph Joachim und Adolf Brodsky gleich drei der damals bekanntesten Musiker durch die neue Partitur. An Anregung, Anreiz und Gelegenheit hat es nicht gemangelt.

    Brahms: Sonate op.78, 1. Satz: Vivace man non troppo

    Wo nun auch immer die Gründe dafür liegen, dass Brahms sich so spät erst der Violinsonate zuwendet, ob es tatsächlich, wie Freunde berichten, zuvor mehrere gescheiterte Versuche in dieser Gattung gab: Als Johannes Brahms im Juni 1879 sein Opus 78 an die Freundin Clara Schumann schickt, fügt er zwar die launigen Worte hinzu, er fürchte, die Sonate sei langweilig, doch weiß er sehr wohl, was er hier erreicht hat: nicht weniger nämlich als die Ehrenrettung einer in Misskredit geratenen Gattung. Schon der junge Schumann hatte die Sonate eigentlich aufgegeben; die klassische Herkunft war ihr scheinbar nicht auszutreiben. Kein Spielraum schien darin für die Wucherungen der romantischen Fantasie. Wer sich fortschrittlich wähnte, ließ die Finger davon: Im Kreis der selbst ernannten Fortschrittspartei um Franz Liszt und Richard Wagner galt die Sonate als Auslaufmodell.
    Der Klassizist Johannes Brahms dachte anders – die Rahmenbedingungen der Sonate mochte er nach wie vor akzeptieren. Unter der Prämisse allerdings, dass er darin noch Platz fände, etwa Neues und Persönliches zu sagen. Im Falle der Violinsonate brauchte es dafür halt seine Zeit.

    Brahms: Sonate op.108, 2. Satz: Adagio

    Drei Violinsonaten, zehn Sätze: kein Satz verrät die Tradition. Das klassische Prinzip von Balance und Ausgleich bleibt bewahrt, von Zusammenhalt und Harmonie. Am Ende eines jedes Satzes schließt sich der Bogen, der Form wird genüge getan. Doch was darin geschieht, im Innern, verlangt unsere volle Aufmerksamkeit. Denn in jedem Satz mischt Brahms die alten Karten neu: Wer verstehen will, wie er das tut, muss genau hinhören, auf das Zusammenspiel der beiden Instrumente vor allem, die sich kaum irgendwo noch wie früher als Duo gegenüberstehen, in der klassischen Rollenverteilung: "Erst ich, dann du", sondern gemeinschaftliche Verantwortung tragen. Brahms hat das enge Verhältnis vielfach abgestuft: Mal sprechen Geige und Klavier wie aus einem Mund, dann wechseln sie sich ab, das gerade erst Gesagte kehrt in einer anderen Stimme als Echo wieder oder wird leise unterstrichen, Gedanken und Erinnerungen überlagern sich. Kontrapunkt nannten das die Alten: bei Brahms ist es reine Intensität.

    Brahms: Sonate op.108, 2. Satz: Adagio

    Kann man über eine Interpretation etwas Besseres sagen, als dass sie ermöglicht, ein Werk nicht nur zu erleben, sondern auch zu verstehen? Was die Geschwister Lusine und Sergey Khachatryan mit Brahms anstellen, wiederholt gewissermaßen, was Brahms mit der Tradition anstellt: Es hinterlässt das eigentümliche Gefühl, etwas Bekanntem zu begegnen und darin sofort das Unbekannte zu entdecken. Tatsächlich wird wohl selbst dem, der glaubt, die Violinsonaten gut zu kennen, manches erst in dieser Interpretation auffallen: zum Beispiel das sofortige Klavierecho des kleinen punktierten Eingangsmotivs im dritten Satz der ersten Sonate im Bass und gleich darauf auch im Diskant: eine leise, von den Khachatryans präzis formulierte Warnung, das fast beiläufige Motiv ernst zu nehmen. Denn es ist einerseits Auftakt zu einem Eigenzitat, zum Zitat des sogenannten Regenliedes, dem die Sonate auch einen entsprechenden Beinamen verdankt. Und es ist andererseits eine Erinnerung an den tragischen Marschrhythmus aus dem gerade erst verklungenen zweiten Satz – und damit womöglich eine stille Traueradresse an die Freundin Clara Schumann: Vor wenigen Wochen erst hatte sie ihren auch von Brahms geliebten Sohn Felix verloren.

    Brahms: Sonate op.78, 3. Satz: Allegro molto moderato

    Momente wie diesen lassen sich überall finden in der grandiosen Gesamtaufnahme der Brahms-sonaten von der Pianistin Lusine und dem Geiger Sergey Khachatryan. Momente, die einem diese drei Werke so nahe bringen wie selten. Was Brahms an kompositorischen Ideen hineingetragen hat: hier wird es unmittelbar nachvollziehbar. Doch scheut man sich, den Zugang der beiden Musiker analytisch zu nennen. Denn was man erfährt mit und über Brahms, wird nicht kühl doziert, sondern mit Leidenschaft dem Notentext als dessen künstlerische Botschaft entnommen. Dass die beiden Ge-schwister den Text so genau gelesen haben, blockiert nicht, sondern ermöglicht erst dessen unmittelbare Wirkung.

    Brahms: Sonate op.108, 3. Satz: Un poco presto e con sentimento

    1983 beziehungsweise 1985 in Armenien geboren, als Kinder bereits nach Deutschland gekommen, haben die Pianistin Lusine und der Geiger Sergey Khachatryan sehr früh als Duo auf sich aufmerksam gemacht. Schon in den ersten Veröffentlichungen konnte man da zwei Musikern begegnen, die sich in allem einig zu sein schienen. Charakteristisch die Mischung aus Achtsamkeit und Leidenschaft – und der Wille, Musik radikal zu denken, als Text und als Geschichte. So würde es zu kurz greifen, die neue Platte bloß eine werkgetreue Interpretation dreier Sonaten zu nennen: Sie ist und atmet Brahms, vermittelt am Ende nicht nur, wie diese Werke sind, sondern auch warum. Der Musikwissenschaftler Rudolf Gerber hat einmal sehr treffend von der "Müdigkeit" gesprochen, die Brahms gesamtes Leben befallen habe. Diese Müdigkeit ist die Melancholie eines Künstlers, der allenfalls noch an die Gegenwart, aber nicht mehr an die Zukunft glauben mochte. So teilen auch die drei Violinsonaten nicht die Hoffnung, die noch Beethoven beseelte, die Hoffnung auf die grenzenlose Gestaltungsfähigkeit des menschlichen Geistes. Brahms greift nicht mehr nach den Sternen. Er sucht in dem, was ist, die letzten verbliebenen Freiräume. Auch das versteht man besser dank dieser neuen Aufnahme: Auch sie ist durch und durch befallen von Melancholie.

    Brahms: Sonate op.100, 2. Satz Andante tranquillo

    Lusine Khachatryan, Klavier, und ihr Bruder Sergey Khachatryan, Geige, spielen Brahms. Ihre Gesamtaufnahme der Brahmschen Violinsonaten ist erschienen beim Label Naive und wurde ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.


    Musik.

    Brahms S0natas
    Lusine Khachatryan (Klavier) und Sergey Khachatryan (Violine)
    Label: NAIVE V 5314
    Labelcode 0540
    EAN 822186053140