Der Ruf zum Mittagsgebet hallt aus der Moschee im Dorf Bisahda. Der Mullah ist nicht da. Also ruft Rahimuddin zum Gebet. Rahimuddin ist der Dorfschreiner und wohnt mit seiner Familie direkt neben der Moschee, die seit Jahren ein Rohbau ist. Es fehlt das Geld für die weitere Renovierung. In Bisahda leben rund 1.100 Familien. Die meisten Einwohner sind gläubige Hindus. Nur ein paar Dutzend sind Muslime. Und seit mitten im Dorf ein Mord geschah, ist nichts mehr so wie es einmal war.
"Ich weiß nicht, ob das ein geplanter Mord war. Ich weiß auch nicht, ob es da Feindschaften gab", sagt der 40-jährige Rahimuddin und schaut auf den Boden. Der Schreiner hat Angst, Fragen zu beantworten.
Mord an Kühen ist ein Verbrechen
Der Mord, der in Bisahda alles verändert hat, geschah am Abend des 28. September 2015. Damals hallte eine Durchsage durch den Lautsprecher des Dorftempels: Die muslimische Familie Aqlaq habe eine Kuh geschlachtet und das Fleisch verzehrt, donnerte es durch die engen Gassen. Kühe sind für Hindus heilige Tiere. In vielen indischen Bundesstaaten ist es ein Verbrechen, Kühe zu schlachten und ihr Fleisch zu essen. Die religiös-konservative Regierung von Premierminister Narendra Modi, der selber ein tief gläubiger Hindu ist, diskutiert ein nationales Kuh-Schlachtverbot. Modis Partei BJP vertritt vor allem die Belange der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit Indiens. Führende BJP-Politiker wollen das säkulare Indien in einen Hindu-Staat verwandeln, in dem sich Minderheiten wie Muslime und Christen anzupassen haben. Seit die Regierung Modi im Amt ist, fühlen sich Indiens Hindu-Nationalisten beflügelt. Angriffe auf Muslime nehmen zu. Die Kuh ist ein Politikum.
Im Dorf Bisahda, das nur etwa 40 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Neu-Delhi im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh liegt, rottete sich im vergangenen September nach der Lautsprecherdurchsage des Tempels ein wütender Mob von rund 1.000 Hindus zusammen und zog zum kleinen Haus der beschuldigten muslimischen Familie Aqlaq. Familienoberhaupt Mohammed Aqlaq, der Dorfschmied, überlebte den Angriff nicht. Einer seiner Söhne wurde schwer verletzt.
"Gehen Sie doch selber zum Haus der Aqlaqs. Schauen Sie sich an, wie eng die Gasse vor dem Haus ist. Dort wohnen sonst nur Hindus, da gibt es keinen Platz, um eine Kuh zu schlachten", sagt Dorfschreiner Rahimuddin.
Kühe mit religiösen Ketten um den Hals trotten gemächlich durch das Dorf. Auch in der Mord-Gasse. Heute ist das kleine Ein-Zimmer-Haus der Aqlaqs mit der leuchtenden, blau-roten Holztür verwaist. Die Familie hat das Dorf verlassen. Sheila, die grauhaarige hinduistische Nachbarin des leeren Hauses, ist gespalten.
"Mohammed Aqlaq war ein guter Mann, er nannte mich Tante, unsere Familien kannten sich seit über 50 Jahren", berichtet die alte Dame – um dann zu ergänzen: "Aber er hat es wirklich gewagt, mitten unter uns eine Kuh zu schlachten, nachdem er seine Verwandten in Pakistan besucht hat."
Lügen und Anschuldigungen wühlen die Menschen auf
Die Nachbarländer Pakistan und Indien sind verfeindet. Gesehen hat Sheila nichts von der mutmaßlichen Kuh-Schlachtung, wie sie später zugibt. Ein paar Häuser weiter lebt Sanjay Rana - ein Großgrundbesitzer und einer der mächtigsten Männer im Dorf. Sanjay Rana ist auch politisch aktiv – für die Hindu-Partei BJP. Ranas Sohn gehört zu den 18 jungen Männern, die nach dem Mord inhaftiert worden sind. Der Sohn soll für die Lautsprecherdurchsage im Tempel gesorgt haben.
"Aqlaq hat die Überreste der geschlachteten Kuh vor unsere Häuser geworfen, um uns zu provozieren", behauptet Sanjay Rana. Der Dorfschmied habe sich nach einem Besuch im muslimischen Nachbarland Pakistan radikalisiert und Sympathien für den Dschihad gehegt. Rana kramt ein Smartphone hervor und zeigt Bilder. Zu sehen ist eine Silberschüssel, in der vage die Überreste eines Kalbs zu erkennen sind.
"Diese Schüssel war im Kühlschrank der Aqlaqs”, behauptet Sanjay Rana. Doch im Polizeibericht steht davon nichts. Die gesamte Untersuchung des Vorfalls ist widersprüchlich und politisch aufgeheizt. Es gibt viele Gerüchte und keine Beweise. Es sind zwei Labor-Berichte im Umlauf. Einer sagt, dass Kuhfleisch in der Nähe des Tatorts gefunden worden sei, ein anderer spricht von Schaffleisch. Spielt das eine Rolle für die Aufklärung des Mordes? Für die Hindus im Dorf ja. Sanjay Rana und seine Unterstützer haben geklagt und vor Gericht durchgesetzt, dass die Polizei jetzt auch gegen die Aqlaq-Familie ermittelt.
"Das Schlachten einer Kuh ist hier bei uns in Uttar Pradesh auch ein schweres Verbrechen", erklärt Rana. Für ihn symbolisiert die Kuh "die Unantastbarkeit der eigenen Mutter".
"In unserem Dorf leben Hindus und Muslime friedlich zusammen", betont der lokale BJP-Politiker immer wieder. Aber Aqlaq habe eine Kuh geschlachtet, das habe die Menschen gegen ihn aufgebracht. "Sein Tod war kein geplanter Mord, sondern nur ein tragischer Unfall", betont der kräftige Mann.
"Unsere Kinder sind unschuldig. Aqlaq hat für sein Verbrechen die gerechte Strafe erhalten", versichert auch Sanjay Ranas Frau Kiran. Sie fordert eine Haftentschädigung für ihren Sohn und seine Freunde. Die 18 inhaftierten, mutmaßlichen Täter stammen alle aus der gleichen Großfamilie.
Kein Verständnis für finanzielle Unterstützung der Familie
Mutter Kiran und die anderen Frauen der Rana-Familie zeigen kein Verständnis dafür, dass die Familie des Mordopfers vom Staat finanziell entschädigt worden ist. Die Frauen empfinden das als Belohnung für die wahren Verbrecher - als Belohnung für die Kuh-Mörder.
War es ein eskalierender Familienstreit? Oder ein politisches Komplott? Die verstörend verwirrende Mord-Geschichte aus dem Dorf Bisahda sagt viel aus über die religiösen Spannungen, die in der indischen Gesellschaft schlummern. Ein Gerücht kann reichen, um einen Gewaltausbruch heraufzubeschwören. Im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, in dem das kleine Dorf Bisahda liegt, stehen im nächsten Jahr wichtige Landtagswahlen an. Die Parteien heizen mit populistischen Parolen die Stimmung zwischen Hindus und Muslimen an. Nationalistische Hindu-Gruppen nutzen die heilige Kuh, um auf Stimmenfang zu gehen. Andere Parteien umwerben die muslimische Minderheit, die bei einem knappen Wahlausgang entscheidend ist. Zwischen der heiligen Kuh und dem mordenden Mob bleibt die Wahrheit auf der Strecke.