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Indien
Die Lebenseinstellung der Sikhs

Sikhs sollen den inneren Frieden suchen und etwas zur Gemeinschaft beitragen. In der Geschichte der Glaubensbewegung ging es aber nicht immer ohne Gewalt zu, wie ein Besuch des Goldenen Tempels in Amritsar zeigt.

Von Ingrid Norbu | 12.06.2014
    Ein "Nihang", ein bewaffneter Sikh-Krieger, betet vor dem Heiligtum der Sikhs, dem goldenen Tempel Amritsar im indischen Bundesstaat Punjab
    Ein Nihang, ein bewaffneter Sikh-Krieger, betet vor dem Heiligtum der Sikhs, dem goldenen Tempel Amritsar im indischen Bundesstaat Punjab. (picture alliance / EPA / Raminder Pal Singh)
    Sobald sich der Morgennebel lichtet, lässt die Sonne den Goldenen Tempel in Amritsar wie ein Märchenschloss erstrahlen. Der mit Blattgold belegte und reich verzierte Bau liegt auf einer Insel mitten im See "Amrit Sarowar", dem Nektarteich. Jeder Besucher muss die Schuhe ausziehen und ein Kopftuch umbinden, so weit er kein Sildas ist und ohnehin einen Turban trägt oder als Sikh-Frau einen Schal um den Kopf geschlungen hat. Die mit Marmor ausgelegte Tempelanlage ist rund um die Uhr geöffnet. Aus den Lautsprechern ertönen den ganzen Tag über gesungene Verse aus dem Heiligen Buch der Sikhs, dem Guru Granth Sahib.
    Die heute so friedlich anmutende Tempelanlage aus dem 16. Jahrhundert blickt auch auf Zeiten von Gewalt zurück, zuletzt in den 1980er Jahren, als sich Silda-Extremisten hier verschanzt hatten, die ein freies Khalistan forderten. Am 3. Juni 1984 drangen indische Soldaten mit Waffen hier ein und stürzten den Punjab und die Gemeinschaft der Sikhs bis in die 90er Jahre in pogromartige Unruhen. Heute nach 30 Jahren scheint das vergessen zu sein. Der Sikh Davindra Singh Chawla, ein hagerer Mann Mitte 50, kommt fast jeden Tag in den Goldenen Tempel.
    "Als Sikh muss ich täglich fünfmal beten. Außerdem darf ich nicht rauchen, Alkohol trinken, lügen oder betrügen, so wie es auch andere Religionen vorschreiben. Aber unser Guru Nanak hat uns einen Schlüssel gegeben, wie wir Gott erreichen können. Zunächst gibt es für uns Sikh die Verpflichtung, etwas zur Gemeinschaft beizutragen, anderen zu helfen. Wir nennen es Sewa. Zweitens sollen wir inneren Frieden suchen, ganzheitlich leben und uns um den Fortschritt der Menschheit bemühen. Wir nennen diese Haltung Meditation. Diese beiden Lebenseinstellungen, Mitmenschlichkeit und Meditation, sind für mich als Silch sehr wichtig. So wollte es Guru Nanak, unser Religionsgründer."
    In einem Gurdwara, einem Sikhtempel, wird nicht nur gebetet und gesungen. Jeder kann hier übernachten und er bekommt ein einfaches Mahl. In der Tempelküche putzen Freiwillige den ganzen Tag über Gemüse, kochen Reis und Linsen und backen Brot, finanziert aus den Spenden der Besucher. Zehntausende werden so täglich verköstigt. Ständig wird Geschirr gespült und auf riesigen Regalen zum Trocknen ausgelegt. Von morgens bis abends übertönen hier klappernde Metallteller die Gesänge.
    Große Spendenfreudigkeit
    "Die Menschen stehen einer Religion automatisch positiv gegenüber, wenn sie etwas Gutes erfahren. Wir benutzen unsere Spenden, um Essen zu kaufen und die Gesellschaft durch gute Dienste positiv zu beeinflussen. Das zieht auch die Besucher aus anderen Religionen auf unsere Seite und sie interessieren sich für den Sikhismus. Zehn Prozent meines Einkommens oder zehn Prozent meiner Zeit gebe ich wie andere Silchs dem Tempel und damit an die Gesellschaft."
    Die im 15. Jahrhundert entstandene Silda-Religion geht auf den Wanderprediger Guru Nanak zurück. Gott ist gestaltlos, ist weder Mann noch Frau. Religiöse Dogmen, Priester oder Mönche gibt es im Sikhismus nicht. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung Indiens bekennen sich dazu. Religion soll alltagstauglich sein, deshalb steht für einen Silda das Streben nach Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen neben der Spendenfreudigkeit im Vordergrund. Ein Sikh soll Vorbild sein, besser auf allen Gebieten als andere. Trotzdem oder vielleicht auch deshalb werden die Sikhs von den übrigen Indern gerne verlacht. Sie sind sozusagen die "Ostfriesen Indiens". Witze über sie machen im ganzen Land die Runde. Liegt es daran, dass sie sich oft wie Musterschüler verhalten und obendrein zu gutgläubig sind? Arjit Singh ist ein junger Silda, groß und kräftig gebaut, der mit seinen Eltern den Goldenen Tempel von Amritsar besucht.
    "Es kursieren so viele Witze über uns Sikhs, aber die haben nichts mit unsrer Wirklichkeit zu tun. Wir sind in aller Welt als sehr großzügige Menschen bekannt. Ein Sikh hilft anderen. Es ist schade, dass wir so verlacht werden, aber wir verstehen natürlich auch Spaß."
    Viele Sildas sind erfolgreich. Sie haben sich in der Wissenschaft, der Wirtschaft und beim Militär hervorgetan. Seit Beginn der 1990er Jahre dominiert sogar ein Sikh die indische Politik, Manrnohan Singh. Der Sohn eines Bauern aus dem Punjab war Stipendiat in Cambridge und Oxford. 1991 wurde er Finanzminister und gilt als Vater des indischen Wirtschaftswunders. Extreme lehnen die Sikhs seit den Ereignissen der 1980er Jahre ab. Der Goldene Tempel von Amritsar ist jedermann zugänglich, egal welcher Religion er angehört, sagt Arjit Singh:
    "Hier im Goldenen Tempel gibt es vier Türen, die stets offen sind. Eine für uns Sikhs, eine zweite für die Muslime, die dritte für Christen und eine vierte für andere Religionen. Für uns gibt es keine Ungleichheiten."