Im Gassengewirr von Neu-Delhis Pahar Ganj schaut ein junger Muslim seiner Angebeteten liebevoll ins Gesicht. Das Mädchen mit dem hinduistischen Segenszeichen auf der Stirn erwidert seinen Blick mit einem freudig-scheuen Lächeln. Es ist ein Filmplakat, das an einer Mauer klebt und für einen Bollywood-Streifen wirbt, eine Kinoschnulze, in der ein Muslim und seine Hindu-Freundin ihre Liebe gegen den Rest der Welt behaupten. Für die meisten Inder ist eine solche Beziehung undenkbar. Von der Gasse mit dem Filmplakat ist es nicht mehr weit bis zur Schaltzentrale des Love Commandos.
"Anfangs hatten wir überhaupt nicht gedacht, dass so viel Arbeit auf uns zukommen würde. Wir rechneten mit vielleicht 150 Anrufen im Jahr. Aber bereits am ersten Tag waren es mehr als 7000!"
Sanchjoy Sachdev sitzt, die Füße überkreuz, auf einem alten Sofa im Empfangsraum des Love Commandos, einer Nichtregierungsorganisation, die Sachdev mitgegründet hat. Seit sechs Jahren sind die ehrenamtlichen Mitglieder des Liebeskommandos da, um Verliebten zu helfen, die entweder nicht derselben Kaste oder verschiedenen Religionsgemeinschaften angehören. Oft befinden sich solche Liebespaare auf der Flucht – vor ihren Angehörigen, in deren Augen sie Schande über die Familie bringen.
Das Love Commando hat viele Feinde
"Was in einem Land wie Deutschland eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist hier in Indien eine sehr schwierige Mission. Oft genug setzen wir unser Leben aufs Spiel, damit die Paare zusammenbleiben können."
Ein Alarm ertönt. Sanchjoy Sachdev schreckt zusammen. Er hält inne, bis zwei Mitarbeiter zur Tür gegangen sind und ihm versichern, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hat. Die sechs Teammitglieder und ihre vielen Helfer werden immer wieder attackiert. Im vergangenen Jahr hätten sich zwei von erbosten Eltern beauftragte Ganoven Einlass verschaffen wollen, erzählen sie. Die Männer seien bewaffnet gewesen und hätten Sprengstoff bei sich gehabt. Von den Familien der Liebenden angeheuerte Killer, Mitglieder fundamentalistischer Hinduorganisationen, Väter, Brüder – die Liste der Gegner ist lang. Doch die Mitarbeiter des Love Commandos lassen sich davon nicht beirren. Die beiden Spürhunde beschnüffeln allerdings zunächst jeden, der die Räume der Organisation besucht.
"Warum sind wir hier in Indien so rückständig? Wie kommt es, dass sich keine einzige Partei in diesem Land den Schutz von Liebenden auf die Fahnen geschrieben hat? Wir vom Love Commando haben immer wieder Gespräche mit Regierungsvertretern geführt, um ebendiesen Schutz gesetzlich zu verankern. Doch die Regierung hat keinerlei Interesse daran. Denn wenn unsere Politiker sich von einer Gesetzesänderung persönlich etwas versprechen, dann wird das Ganze binnen eines Tages durchgewinkt."
Die meisten Ehen in Indien werden arrangiert
Die Paare, die sich an das Love Commando wenden, kommen aus allen Schichten: Es handelt sich um arme, aber auch um wohlhabende Inder und Inderinnen, um Muslime, hinduistische Brahmanen, Angehörige hoher oder niedriger Hindu-Kasten. Doch obwohl die Mitarbeiter der Organisation mit dem Ansturm der Hilfesuchenden alle Hände voll zu tun haben, ist der Wunsch nach einer Liebesehe doch immer noch die Ausnahme. Bis dato sind 95 Prozent der Inder und Inderinnen mit einem Partner verheiratet, der aus derselben Kaste stammt. Und: An die 90 Prozent der Ehen arrangieren immer noch die Eltern, sagt die Soziologieprofessorin Rajni Palriwala von der University of Delhi.
"Definitiv gibt man einer arrangierten Ehe immer noch den Vorzug. In der städtischen Mittelschicht gibt es zwar mittlerweile einen gewissen Anteil von Menschen, die sich für eine Liebesheirat entscheiden. Aber diese Leute sind in der Minderzahl. Was man auch noch antrifft, ist ein Arrangement durch Freunde des Paares. Ein Bekannter stellt seinem Freund zum Beispiel die Freundin seiner Schwester vor. Damit bewegt sich das Ganze natürlich auch wieder im selben Zirkel."
Kinder müssen den Eltern gehorchen
Anders als im Westen wird die Ehe in Indien nicht in erster Linie als Verbindung zweier Individuen betrachtet, sondern als Bündnis zweier Familien. Ein festes Band zwischen den Ehepartnern, eine sexuell orientierte Partnerschaft, wird nicht gern gesehen. Wenn das Paar sehr verliebt erscheint und der Mann im Zuge dessen seine Pflichten als Bruder, Sohn und Onkel vernachlässigt, ist dies für die Großfamilie eine reale Bedrohung. Die Angehörigen befürchten, dass seine Loyalität der Familie gegenüber nachlässt. Das vor allem in Indiens Dörfern noch immer vorherrschende Modell der Großfamilie basiert auf der Bindung zwischen den Eltern und dem Sohn und auf der Solidarität innerhalb des Clans. Das Verhältnis zwischen der Ehefrau und ihrem Mann ist immer nachgeordnet. Hinzu kommt, dass Kinder ihren Eltern gehorchen müssen. Tun sie das nicht, bringen sie die ganze Familie in Misskredit.
Manjiri und Sunil haben das zu spüren bekommen. Sie wollten zusammenbleiben und mussten deshalb fliehen. Mitarbeiter von Love Commando brachten sie in einem Schutzzentrum der Organisation unter. Dann kümmerten sie sich darum, die Formulare für die Hochzeit zu beschaffen. Und in ein paar Monaten werden sie dem Paar dabei helfen, ein Zimmer in Delhi zu finden.
Manjiri und Sunil wissen: Sie können nie wieder in ihre Familien zurückkehren.
"Ich gehöre einer höheren Kastengemeinschaft an als mein Mann. Unsere Familien waren dagegen, dass wir heiraten. Nur weil das Love Commando uns geholfen hat, sind wir jetzt hier und seit kurzem auch verheiratet. In unserem Dorf hätten wir nicht bleiben können. Wie unser Leben wird, wenn wir uns demnächst hier in Delhi ein Zimmer mieten und mein Mann sich Arbeit sucht - ich weiß es nicht. Hierzulande ist die Familie unser Ein und Alles. Es wird sehr schwer sein, keinen Kontakt mehr zu unseren Angehörigen zu haben. Aber sie hätten das nie akzeptiert - niemals.”
Und Sanchjoy Sachdev vom Love Commando sagt:
"Die jungen Leute lehnen sich auf. Wir können ihre Gefühle nicht einfach übergehen. Ob Hindu, Muslim, Jaina, Christ oder Sikh – die jungen Männer und Frauen fühlen sich zu bestimmten Menschen hingezogen. Und das ist nur natürlich. Doch einige unserer Landsleute halten dies für ein Verbrechen. Das geht uns völlig gegen den Strich. Dass Eltern ihre Kinder als ihr Eigentum betrachten. Dass Kaste und Religion einen so hohen Stellenwert einnehmen. Wir müssen den Liebenden also helfen. Dieser Kampf wird lange dauern. Aber niemand kann diese Entwicklung aufhalten. In den vergangenen sechs Jahren haben wir 47.000 Liebenden geholfen. Menschen, die sich nun ihrerseits in diesem Sinne engagieren. Das ist ein Kreis, den niemand mehr durchbrechen kann."