Christiane Kaess: Blutig war sie, die Unabhängigkeit Indiens heute vor genau 60 Jahren. Nach der Teilung ins überwiegend muslimische Pakistan und das vor allem für Hindus vorgesehene Indien wurden Hunderttausende Menschen ermordet, als sie versuchten, in den jeweils anderen Landesteil zu kommen. Heute verbindet man das Land mit Wirtschaftsboom und modernster Technologie einerseits und althergebrachten Traditionen aber auch bitterer Armut auf der anderen Seite. Katharina Kakar ist Religionswissenschaftlerin und hat als Autorin die indische Gesellschaft porträtiert und wir erreichen sie jetzt in Goa. Guten Tag.
Katharina Kakar: Ja, guten Tag.
Kaess: Frau Kakar, wie erleben Sie den Unabhängigkeitstag in Indien?
Kakar: Für uns ist das ein ganz normaler Tag, also ohne großen Unterschied.
Kaess: Und was bedeutet der Tag für die Menschen in Indien? Findet der überhaupt Beachtung, oder ist das, ja, wie Sie sagen, ein ganz gewöhnlicher Tag?
Kakar: Nee. Für die Menschen ist das schon ein anderer Tag, also, besonders in den Schulen und in staatlichen Behörden werden Programme initiiert, also beispielsweise Flaggen zu hissen und Reden zu halten und so weiter. Aber in den Familien, also im privaten Bereich, ist es ein normaler Tag.
Kaess: Es wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, weil es Anschlagsdrohungen gegeben hat. Schlägt sich das auf die Stimmung nieder?
Kakar: Ach nö, das wird eigentlich relativ gelassen gesehen.
Kaess: Frau Kakar, über eine Milliarde Menschen leben in Indien, es gibt 22 offizielle Amtssprachen und zahlreiche Religionen und Glaubensgemeinschaften, "Einheit in der Vielfalt" heißt es oft über Indien. Trifft das denn tatsächlich zu, oder ist die Gesellschaft zerrissener, als wir das von Europa aus wahrnehmen?
Kakar: Es ist natürlich eine enorme Vielfalt in Indien sichtbar und auch spürbar mit einem großen Konfliktpotenzial, aber man sollte nicht vergessen, dass bei aller Vielfalt auch so etwas wie, man könnte sagen, eine Familienähnlichkeit vorherrscht, also Ideologie der Familienbeziehung, erweiterte Großfamilie beispielsweise, oder die sozialen Beziehungen, die immer noch auf dem Kastenwesen beruhen, Körpervorstellung, kulturelle Vorstellung. Also all das einigt die Inder schon. Allerdings muss man sagen, Indien ist eher wie Europa, es ist ein Land, was eben ganz, ganz viele Ethnien, Traditionen, religiöse Vorstellungen in sich vereinigt.
Kaess: Sie haben von einem Konfliktpotenzial gesprochen. Wie äußert sich das denn?
Kakar: Na ja, also, es gibt natürlich bei vielen Gruppen mit verschiedenen, religiösen Interessen auch bestimmte Vorstellungen, die jeder durchsetzen möchte. Also beispielsweise zur Zeit ist sehr stark in der indischen Politik der Konflikt mit den Maoisten in Assam und in dem ganzen Stammesgürtel in Zentralindien aktuell, wo also innerpolitische Konflikte deutlich werden oder hochkochen.
Kaess: Warum hat sich denn die indische Gesellschaft, Ihrer Ansicht nach, trotz all ihrer Unterschiede im Großen und Ganzen demokratisch entwickelt? Viele kolonialisierten Länder hatten ja erst einmal diktatorische Systeme nach ihrer Unabhängigkeit.
Kakar: Ja, ich denke, also, einer der Gründe ist, dass die Demokratie genau diese Unterschiedlichkeit, die in Indien Tradition hat, erlaubt, also ein Ventil ist für die Forderungen unterschiedlicher Gruppen und so weiter. Das heißt, kleine Eruptionen sind möglich, aber die große Eruption, wie in Diktaturen, wo der Deckel runtergehalten wird, bleibt damit aus. Das Zweite, denke ich, ist, dass in Indien eine lange Tradition des Panchayats, also der Dorfrat, ist eine lange Tradition, wo so lange diskutiert wird, bis eine Lösung gefunden wird. Also, es ist ... Die Demokratie ist in dem Sinne mit der hinduistischen Vorstellungswelt auch gewissermaßen kompatibel.
Kaess: Ein anderer Ausdruck von Demokratie sind freie Wahlen. Es gehen angeblich in Indien im Vergleich zu anderen Demokratien sehr viele Unterprivilegierte zur Wahl. Was bedeutet denn die Demokratie für sie?
Kakar: Also, ich denke, für die Unterprivilegierten kann man sagen, dass das die stärkste Kampfwaffe ist, die sie gegen Unterdrückung haben. Anders als in Deutschland, wo beispielsweise Arbeiter manchmal, oder Menschen ein ganzes Leben mit der SPD oder mit bestimmten Parteien verbunden sind, werden in Indien die Parteien, die regierenden Parteien, regelmäßig wieder rausgeschmissen, wenn sie eben die Wünsche dieser unterprivilegierten Klassen oder Gruppen auch nicht erfüllen. Anders gesagt: Kaste wird ein ganz machtvolles Mittel. Es gibt dann Gruppen, die geschlossen für eine bestimmte Partei wählen, wenn dann die entsprechenden, politischen Vertreter bestimmte Wünsche erfüllen wie Straßenbau und so weiter, und wenn das nicht passiert, werden sie bei den nächsten Wahlen wieder rausgeschmissen.
Kaess: Sie sprechen das Kastensystem an. Das wird ja im Westen immer wieder kritisiert. Offiziell abgeschafft, gibt es auch in politischen Ämtern heute in Indien sogenannte Unberührbare, aber auf der anderen Seite sind sie vor allem in ländlichen Regionen oft noch stark diskriminiert. Welche Rolle spielt denn das Kastensystem überhaupt noch?
Kakar: Also, in bestimmten Richtungen ist es ganz, ganz stark, in anderen nicht. Beispielsweise spielt es keine Rolle mehr in der Berufswahl, aber was die Familie anbelangt, da ist es nach wie vor sehr stark, also, es wird überwiegend immer noch in der eigenen Kaste oder Subkaste geheiratet, und genauso auch eben in der sozialen Organisation, also beispielsweise das Denken in hierarchischen Prinzipien, das ist noch sehr, sehr stark kastenbezogen. Und auf dem Land ist es natürlich stärker als in der Stadt.
Kaess: Wie ist denn die Situation der Frauen in diesem Zusammenhang zu sehen?
Kakar: Ja, das ist auch nuancenreicher, als man denkt. Also, wenn man jetzt, wenn Sie das auf Kaste beziehen, dann kann man sagen, Kaste übertrumpft Geschlecht, das heißt: Hochkastige Frauen haben einen höheren Status als niedrigkastige Männer. Aber die Rolle der Frau an sich ist eben, ja, wir finden alles in Indien. Wenn man aber mal dabei bleibt, bei der Kaste, also, eine hochkastige Frau oder eine Frau, die einen bestimmten Status, einen bestimmten Status auch entwickelt hat durch ihre Bildung, die hat ganz andere Chancen, also beispielsweise Berufe im Managementbereich, Positionen an der Universität und so weiter, werden sehr viel häufiger auch von Frauen besetzt, wo bei uns in Deutschland eben doch die Männer nach wie vor dominant sind.
Kaess: Aber auf der anderen Seite höre ich aus dem heraus, was Sie sagen, dass es auch ein ganz gehöriges Maß an Unterdrückung noch gibt.
Kakar: Oh ja, sehr, sehr stark, und das betrifft natürlich insbesondere auch die Frauen, die aus den unterprivilegierten Schichten kommen und auch aus dem ländlichen Bereich, wo es sehr viel weniger Spielraum gibt, sich in dem Sinne zu emanzipieren.
Kaess: Nun verbindet man vor allem im Westen mit Indien ganz besonders den wirtschaftlichen Boom. Wie wirkt sich der auf die Gesellschaft aus, und erreicht der mittlerweile auch die unteren Schichten?
Kakar: Ja. Also, große Transformationsprozesse wäre das Erste, was mir dazu einfällt in den Städten. Konsumfreude, man sieht die ganzen Malls, diese großen Einkaufspassagen, die gebaut werden und so weiter, aber es greift insofern auch in die anderen Schichten rein, also, wenn wir zum Beispiel in die Landwirtschaft kommen, das ist zur Zeit gerade auch in der indischen Politik aktuell, gibt es einen ganz großen Trend hin zu Dienstleistungsberufen, also, die jüngere Generation will nicht mehr in der Landwirtschaft bleiben. Es gibt eine starke Landflucht in die Städte, da kommen natürlich noch wahnsinnige Probleme auf die Stadtmigration, also, durch die Stadtmigration auf Indien zu.
Kaess: Und die Leute, die in die Stadt gehen, denen geht es dann wirtschaftlich nicht unbedingt besser?
Kakar: Nee. Also, das ist natürlich ein großer Überlebenskampf, aber da ist immer die Hoffnung, dass es der nächsten Generation besser geht.
Kaess: Katharina Kakar war das, sie ist Religionswissenschaftlerin und Autorin, und wir haben sie in Goa erreicht. Vielen Dank.
Kakar: Herzlichen Dank.
Katharina Kakar: Ja, guten Tag.
Kaess: Frau Kakar, wie erleben Sie den Unabhängigkeitstag in Indien?
Kakar: Für uns ist das ein ganz normaler Tag, also ohne großen Unterschied.
Kaess: Und was bedeutet der Tag für die Menschen in Indien? Findet der überhaupt Beachtung, oder ist das, ja, wie Sie sagen, ein ganz gewöhnlicher Tag?
Kakar: Nee. Für die Menschen ist das schon ein anderer Tag, also, besonders in den Schulen und in staatlichen Behörden werden Programme initiiert, also beispielsweise Flaggen zu hissen und Reden zu halten und so weiter. Aber in den Familien, also im privaten Bereich, ist es ein normaler Tag.
Kaess: Es wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, weil es Anschlagsdrohungen gegeben hat. Schlägt sich das auf die Stimmung nieder?
Kakar: Ach nö, das wird eigentlich relativ gelassen gesehen.
Kaess: Frau Kakar, über eine Milliarde Menschen leben in Indien, es gibt 22 offizielle Amtssprachen und zahlreiche Religionen und Glaubensgemeinschaften, "Einheit in der Vielfalt" heißt es oft über Indien. Trifft das denn tatsächlich zu, oder ist die Gesellschaft zerrissener, als wir das von Europa aus wahrnehmen?
Kakar: Es ist natürlich eine enorme Vielfalt in Indien sichtbar und auch spürbar mit einem großen Konfliktpotenzial, aber man sollte nicht vergessen, dass bei aller Vielfalt auch so etwas wie, man könnte sagen, eine Familienähnlichkeit vorherrscht, also Ideologie der Familienbeziehung, erweiterte Großfamilie beispielsweise, oder die sozialen Beziehungen, die immer noch auf dem Kastenwesen beruhen, Körpervorstellung, kulturelle Vorstellung. Also all das einigt die Inder schon. Allerdings muss man sagen, Indien ist eher wie Europa, es ist ein Land, was eben ganz, ganz viele Ethnien, Traditionen, religiöse Vorstellungen in sich vereinigt.
Kaess: Sie haben von einem Konfliktpotenzial gesprochen. Wie äußert sich das denn?
Kakar: Na ja, also, es gibt natürlich bei vielen Gruppen mit verschiedenen, religiösen Interessen auch bestimmte Vorstellungen, die jeder durchsetzen möchte. Also beispielsweise zur Zeit ist sehr stark in der indischen Politik der Konflikt mit den Maoisten in Assam und in dem ganzen Stammesgürtel in Zentralindien aktuell, wo also innerpolitische Konflikte deutlich werden oder hochkochen.
Kaess: Warum hat sich denn die indische Gesellschaft, Ihrer Ansicht nach, trotz all ihrer Unterschiede im Großen und Ganzen demokratisch entwickelt? Viele kolonialisierten Länder hatten ja erst einmal diktatorische Systeme nach ihrer Unabhängigkeit.
Kakar: Ja, ich denke, also, einer der Gründe ist, dass die Demokratie genau diese Unterschiedlichkeit, die in Indien Tradition hat, erlaubt, also ein Ventil ist für die Forderungen unterschiedlicher Gruppen und so weiter. Das heißt, kleine Eruptionen sind möglich, aber die große Eruption, wie in Diktaturen, wo der Deckel runtergehalten wird, bleibt damit aus. Das Zweite, denke ich, ist, dass in Indien eine lange Tradition des Panchayats, also der Dorfrat, ist eine lange Tradition, wo so lange diskutiert wird, bis eine Lösung gefunden wird. Also, es ist ... Die Demokratie ist in dem Sinne mit der hinduistischen Vorstellungswelt auch gewissermaßen kompatibel.
Kaess: Ein anderer Ausdruck von Demokratie sind freie Wahlen. Es gehen angeblich in Indien im Vergleich zu anderen Demokratien sehr viele Unterprivilegierte zur Wahl. Was bedeutet denn die Demokratie für sie?
Kakar: Also, ich denke, für die Unterprivilegierten kann man sagen, dass das die stärkste Kampfwaffe ist, die sie gegen Unterdrückung haben. Anders als in Deutschland, wo beispielsweise Arbeiter manchmal, oder Menschen ein ganzes Leben mit der SPD oder mit bestimmten Parteien verbunden sind, werden in Indien die Parteien, die regierenden Parteien, regelmäßig wieder rausgeschmissen, wenn sie eben die Wünsche dieser unterprivilegierten Klassen oder Gruppen auch nicht erfüllen. Anders gesagt: Kaste wird ein ganz machtvolles Mittel. Es gibt dann Gruppen, die geschlossen für eine bestimmte Partei wählen, wenn dann die entsprechenden, politischen Vertreter bestimmte Wünsche erfüllen wie Straßenbau und so weiter, und wenn das nicht passiert, werden sie bei den nächsten Wahlen wieder rausgeschmissen.
Kaess: Sie sprechen das Kastensystem an. Das wird ja im Westen immer wieder kritisiert. Offiziell abgeschafft, gibt es auch in politischen Ämtern heute in Indien sogenannte Unberührbare, aber auf der anderen Seite sind sie vor allem in ländlichen Regionen oft noch stark diskriminiert. Welche Rolle spielt denn das Kastensystem überhaupt noch?
Kakar: Also, in bestimmten Richtungen ist es ganz, ganz stark, in anderen nicht. Beispielsweise spielt es keine Rolle mehr in der Berufswahl, aber was die Familie anbelangt, da ist es nach wie vor sehr stark, also, es wird überwiegend immer noch in der eigenen Kaste oder Subkaste geheiratet, und genauso auch eben in der sozialen Organisation, also beispielsweise das Denken in hierarchischen Prinzipien, das ist noch sehr, sehr stark kastenbezogen. Und auf dem Land ist es natürlich stärker als in der Stadt.
Kaess: Wie ist denn die Situation der Frauen in diesem Zusammenhang zu sehen?
Kakar: Ja, das ist auch nuancenreicher, als man denkt. Also, wenn man jetzt, wenn Sie das auf Kaste beziehen, dann kann man sagen, Kaste übertrumpft Geschlecht, das heißt: Hochkastige Frauen haben einen höheren Status als niedrigkastige Männer. Aber die Rolle der Frau an sich ist eben, ja, wir finden alles in Indien. Wenn man aber mal dabei bleibt, bei der Kaste, also, eine hochkastige Frau oder eine Frau, die einen bestimmten Status, einen bestimmten Status auch entwickelt hat durch ihre Bildung, die hat ganz andere Chancen, also beispielsweise Berufe im Managementbereich, Positionen an der Universität und so weiter, werden sehr viel häufiger auch von Frauen besetzt, wo bei uns in Deutschland eben doch die Männer nach wie vor dominant sind.
Kaess: Aber auf der anderen Seite höre ich aus dem heraus, was Sie sagen, dass es auch ein ganz gehöriges Maß an Unterdrückung noch gibt.
Kakar: Oh ja, sehr, sehr stark, und das betrifft natürlich insbesondere auch die Frauen, die aus den unterprivilegierten Schichten kommen und auch aus dem ländlichen Bereich, wo es sehr viel weniger Spielraum gibt, sich in dem Sinne zu emanzipieren.
Kaess: Nun verbindet man vor allem im Westen mit Indien ganz besonders den wirtschaftlichen Boom. Wie wirkt sich der auf die Gesellschaft aus, und erreicht der mittlerweile auch die unteren Schichten?
Kakar: Ja. Also, große Transformationsprozesse wäre das Erste, was mir dazu einfällt in den Städten. Konsumfreude, man sieht die ganzen Malls, diese großen Einkaufspassagen, die gebaut werden und so weiter, aber es greift insofern auch in die anderen Schichten rein, also, wenn wir zum Beispiel in die Landwirtschaft kommen, das ist zur Zeit gerade auch in der indischen Politik aktuell, gibt es einen ganz großen Trend hin zu Dienstleistungsberufen, also, die jüngere Generation will nicht mehr in der Landwirtschaft bleiben. Es gibt eine starke Landflucht in die Städte, da kommen natürlich noch wahnsinnige Probleme auf die Stadtmigration, also, durch die Stadtmigration auf Indien zu.
Kaess: Und die Leute, die in die Stadt gehen, denen geht es dann wirtschaftlich nicht unbedingt besser?
Kakar: Nee. Also, das ist natürlich ein großer Überlebenskampf, aber da ist immer die Hoffnung, dass es der nächsten Generation besser geht.
Kaess: Katharina Kakar war das, sie ist Religionswissenschaftlerin und Autorin, und wir haben sie in Goa erreicht. Vielen Dank.
Kakar: Herzlichen Dank.