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Indische Landarbeiter in Italien
Moderne Sklaverei für unser Obst und Gemüse

Indische Landarbeiter, südlich von Rom. Sie erhalten 2,50 Euro pro Stunde und arbeiten 14 Stunden am Tag. Sie arbeiten für Obst und Gemüse, das auch in Deutschland verkauft wird. All das hat der italienische Soziologe Marco Omizzolo beobachtet. Sein Fazit im DLF: das ist Sklaverei, nur ohne Ketten.

Marco Omizzolo im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.08.2015
    Verschiedene Sorten Obst liegen auf einem Teller.
    Frisches Obst ist eine Freude - aber in Italien wird es zum Teil unter sklavereiähnlichen Umständen produziert. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Christoph Heinemann: Gern verschwiegen wird, dass bestimmte Leute von Migration profitieren. Indem sie Menschen, die nach Europa gekommen sind, ausbeuten. Beispiel Süditalien. Dort schuften indische Hilfsarbeiter für Hungerlöhne auf den Feldern. Obst und Gemüse für Europa. Die Früchte dieser Ernte werden auch hierzulande feilgeboten. Mit dem Profit füllen sich die Arbeitgeber die Taschen. Von modernerer Sklaverei spricht deshalb der italienische Soziologe Marco Omizzolo, der die die Zustände in seiner Heimat Latina untersucht hat. Omizzolo ist Mitarbeiter des Studieninstituts für Sozialdienstleistungen in Rom und er befürchtet - und das hören wir gleich im Interview - dass viele der Flüchtlinge, die jetzt Italiens Küsten erreichen, sich bald als Sklavenarbeiter im Süden des Landes verdingen werden. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, welche Arbeitsbedingungen er in der Provinz Latina vorgefunden hat.
    Marco Omizzolo: Ich habe mir die Lage indischer Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft angeschaut, um das System der Rekrutierung und der Ausbeutung verstehen zu können. Es handelt sich um Menschen, die überwiegend aus der Region Punjab stammen. Die Bedingungen sind unglaublich: Sie erhalten 2,50 Euro pro Stunde und arbeiten 14 Stunden am Tag, für Obst und Gemüse, das in ganz Europa angeboten wird. Obst, das in Deutschland, Frankreich, in Italien auch bei der Weltausstellung in Mailand oder sogar in den Vereinigten Staaten zu kaufen ist. Unter Bedingungen einer neuen Sklaverei.
    Die Rechte dieser Menschen werden nicht anerkannt, und sie können sie gegenüber ihren Arbeitgebern nicht geltend machen. Sie sind psychologischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Sie müssen zu den Bedingungen der Arbeitgeber schuften. Die Arbeitgeber lassen sich als "Herren" anreden. Die indischen Arbeiter müssen vor ihrem "Herrn" drei Schritte zurücktreten und den Kopf senken.
    Sklaverei ohne Ketten
    Heinemann: Ist der Begriff Sklaverei nicht übertrieben?
    Omizzolo: Wenn man an traditionelle Sklaverei denkt: es gibt keine Ketten. Es geht um eine moderne Sklaverei, die den Arbeiter isoliert und ihm keinerlei Recht zugesteht. Er muss den Kopf senken, wenn er sich an seinen Herren wendet, etwa wenn er ihn nach der Mittagspause fragt. Wenn der indische Arbeiter den Kopf nicht senkt, oder Rechte einfordert, wird ihm sofort Gewalt zugefügt. Wir haben Fälle registriert, in denen Arbeitern stimulierende Substanzen verabreicht wurden, damit sie die körperlichen und psychischen Anstrengungen auf den Feldern der Provinz Latina aushalten und unter den aufgezwungenen Bedingungen arbeiten und produzieren können.
    Heinemann: Wer sind die Unternehmer, die davon profitieren?
    Omizzolo: Sie sind überwiegend, aber nicht nur, Italiener, aus Kampanien oder aus dem Norden Italiens. In einzelnen Fällen handelt es sich auch um nordeuropäische Unternehmer, die hier ein neues El Dorado gefunden haben. Auf Kosten der indischen Arbeiter erzielen sie einen extrem hohen Ertrag, gewaltige Profite. Wir haben mit Arbeitern gesprochen, die seit acht bis zehn Jahren etwa 300 oder 400 Euro im Monat verdienen. Sie müssen sich das so vorstellen: Alles, was diesen Arbeitern gegeben werden müsste und was ihnen vorenthalten wird, bleibt in den Taschen des Unternehmers.
    Wer sich nicht beschwert, dem geht es angeblich gut
    Heinemann: Haben Sie mit diesen Unternehmern sprechen können?
    Omizzolo: Einige sind interviewt worden. Sie sagen, das seien normale Arbeitsbedingungen. Sie sagen, wenn die Inder in die Provinz Latina kommen, um zu arbeiten, dann bedeutet das, dass sie die Arbeitsbedingungen akzeptieren. Und wenn sie sich nicht beschweren, dann deshalb, weil es ihnen gut geht.
    Heinemann: Also keinerlei schlechtes Gewissen ...
    Omizzolo: Kein Gewissen in diesem Sinne. Und kein Bewusstsein dafür, dass Rechte anerkannt werden müssten, die vom italienischen Staat zugesichert sind. Gegenüber diesen indischen Arbeitern herrscht eine Gleichgültigkeit, ein auf Vorteil bezogenes Denken bei dieser Ausbeutung. Und das ist die Kette, durch die diese Arbeiter zu Sklaven werden.
    Heinemann: ... eine systematische Ausbeutung?
    Omizzolo: Ja, das System besteht seit 30 Jahren. Das ist eingespielt. Die Leute werden im Punjab von Menschenhändlern angeworben. Und sie werden in die landwirtschaftlichen Betriebe gebracht, wo sie unter den Bedingungen, die ich eben beschrieben habe, arbeiten müssen bis sie ein paar tausend Euro zusammenbekommen haben, um sich eine Wohnung leisten und woanders arbeiten zu können.
    Heinemann: Wenn man auf die vielen Menschen schaut, die gegenwärtig kommen: Besteht eine direkte Verbindung zwischen den Schleusern und Unternehmern, die Menschen ausbeuten?
    Omizzolo: Mit den Schleusern wahrscheinlich nicht. Aber mit den Leuten an der Spitze, das sind ja nicht unbedingt die Schleuser. Es besteht kein Zweifel daran, dass viele Flüchtlinge, die die italienischen Küsten erreichen, auf den Feldern unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Ermittlungsbehörden haben entsprechende Untersuchungen durchgeführt. Das gibt es in großem Umfang auch in der Provinz Latina, aber vor allem in Apulien, Sizilien und Kalabrien. Nicht zufällig Regionen, in denen das organisierte Verbrechen seit langer Zeit am Werk ist.
    Heinemann: Die Dramen, die sich im Mittelmeer abspielen, sind inzwischen bekannt. Gilt das auch für die Arbeitsbedingungen dieser Menschen?
    Omizzolo: Ja, das ist bekannt. Wir prangern das jedenfalls an. Wir hatten eine Anhörung im Anti-Mafia-Ausschuss der beiden italienischen Parlamentskammern und haben mehrere öffentliche Konferenzen veranstaltet. Wir haben ein Buch mit Fotos veröffentlicht, das die Lage der Migranten in allen Einzelheiten zeigt. Wir hoffen, dass die politische Klasse ein Wirtschaftssystem unterbindet, das auf Ausbeutung gründet. Mit neuen Gesetzen und mit neuen Formen der Aufklärung für soziale Gerechtigkeit und Legalität.
    Politik hat das System selbst begünstigt
    Heinemann: Wieso gibt es den politischen Willen dazu bisher nicht?
    Omizzolo: Die Politik reagiert mit Verspätung, auch deshalb, weil sie dieses System in einigen Fällen begünstigt hat. Dieses System sklavenartiger Ausbeutung und der illegalen Anwerbung und das entsprechende Geld sorgen dafür, dass in regionale oder nationale Ämter bestimmte Leute gewählt werden, die das öffentliche Bewusstsein gedämpft haben. Das Phänomen der Ausbeutung gibt es aber auch in anderen europäischen Ländern: in Frankreich, England, Belgien. Auch deshalb sprechen wir von einem System. Es handelt sich nicht um eine zufällige Organisation, das ist nicht sporadisch. Nicht einige Personen, einige Unternehmer. Es ist ein internationales System, das uns leider in das Zeitalter der Sklaverei zurückversetzt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.