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Inès Bayard: „Scham“
Absturz einer vergewaltigten Frau

Die Pariser Vermögensberaterin Marie wird von ihrem Vorgesetzten vergewaltigt. Innerhalb weniger Minuten gerät ihre heile Welt damit aus dem Gleichgewicht. Inès Bayard liefert ein Fallbeispiel zur #MeToo-Debatte – die schonungslose Beschreibung, wie sexueller Missbrauch eine Existenz zerstört.

Von Christoph Vormweg | 15.06.2020
Junges Mädchen als Opfer von häuslicher Gewalt |
Zutiefst verstörende seelische Konflikte: Bis zuletzt kämpft die Heldin um die für sie verlorene, intakte Welt (picture alliance / Photoshot)
Warum will eine Mutter ihren kleinen Sohn vergiften – und ihren Ehemann und sich selbst gleich mit? Der Roman "Scham" beginnt mit einem Horror-Szenario in der heimischen Küche, beschrieben in der kühl-beherrschten Prosa einer allwissenden Erzählerin. Es sei, heißt es, eine Tat ohne "Gewissensbisse", nach mehreren gescheiterten Versuchen. Von einem "einzigen tragischen Vorfall" im Leben der 32-jährigen Marie ist die Rede, der sie zum Mord getrieben habe. Dann folgt eine Rückblende: in die Zeiten des sorgenfreien Ehelebens mit Laurent in Paris. Er ist Rechtsanwalt, Marie arbeitet als Vermögensberaterin in einer Bank.
"Von Anfang an ist es ein bescheidenes Glück gewesen, eine Liebe, die ausreicht, um nicht mehr nur an sich selbst zu denken."
Und dazu gehört Nachwuchs. Beide bejahen den Start der Familienplanung, den die Verwandtschaft schon länger einfordert. Alles scheint in trockenen Tüchern. Bis zum erwähnten "Vorfall", dem zweiten Schocker auf Seite 25.
Der "tragische Vorfall"
Maries Fahrrad ist in der Nähe ihrer Bank zerstört worden. Der Direktor, der sie einige Stunden zuvor noch gelobt hat, bietet ihr an, sie zu Hause abzusetzen. Er hält in einer ruhigen Seitenstraße und bittet Marie, noch einen Moment zu bleiben. Sie erwidert, dass ihr Mann auf sie warte. Dann rastet die Zentralverriegelung des Wagens ein. In wenigen Minuten kippt Maries Existenz. Eine brutale Vergewaltigung aus heiterem Himmel folgt – mit der deutlichen Warnung des Chefs zum Abschied, das Ganze im Sinne ihrer Karriere für sich zu behalten.
Marie entscheidet sich, alles zu verschweigen, damit ihr Leben so bleibt, wie es war. Doch dafür muss sie ihren Ehemann permanent täuschen. Als Laurent am Abend nach der Vergewaltigung ins Bett kommt, tut sie so, als ob sie schon schlafe.
"[Sie] weiß, dass noch viele Tage folgen werden, an denen sie das Leben und den Schlaf vortäuschen muss. Marie öffnet die Augen. Die Stille wird von ein paar Motorrollern auf der Straße durchbrochen. Ihr Blick bleibt unbeweglich, starr. Mitten in der Nacht, zur Wand gedreht, die sie früher aufgewühlt vor Lust betrachtete, scheint ihr das Unglück des Unterleibs wie die Rache des Schicksals an einem augenscheinlich zu einfachen Leben."
Eine Vergewaltigung und ein Kindsmord - der Roman "Scham" beginnt mit zwei drastischen Ereignissen. Das Opfer ist zur Täterin geworden. Die folgenden 190 Seiten erklären, warum.
Tabulose Genauigkeit
Inès Bayard seziert mit tabuloser Genauigkeit, welche Verheerungen eine verschwiegene Vergewaltigung anrichtet: von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Die 28-jährige Autorin beschreibt, wie Marie den ersten ehelichen Sex nach der Tat erlebt; wie das Abendessen mit ihrer besten Freundin abläuft, deren Mann Gynäkologe ist; wie die Familie und der Täter auf ihre Schwangerschaft reagieren. Die Vergewaltigte ist hin- und hergerissen zwischen Suizidgedanken und Hassanfällen auf alles Männliche, zwischen Aggressionsschüben und körperlichem Selbstekel. Wiederholt fragt sich Marie, warum niemand aus dem nächsten Umfeld ihre immer extremeren Stimmungsschwankungen wahrnimmt, warum die Geburt ihres Sohns die Familie in Euphorie versetzt. Denn sie hält den Vergewaltiger für den Vater, nicht Laurent.
"Marie wird es nicht ertragen, Thomas aufwachsen zu sehen. Der Säugling von heute beunruhigt sie, den Mann von morgen fürchtet sie. Ein Mann mit einem Penis, Männlichkeit, einem Körper, stärkeren Händen als ihren, einem Geruch, einer Stimme, einer Bestimmung als Mann, ein Wilder. Wenn Marie ein Mädchen bekommen hätte, wäre das sicher anders gewesen."
"Scham" ist ein mutiger, in seiner Schonungslosigkeit unbedingt nötiger Roman. Inès Bayard führt zutiefst verstörende seelische Konflikte vor, die immer mehr eskalieren. Bis zuletzt kämpft Marie um die verlorene heile Welt. Diesem aufwühlenden Roman kann man nur eins vorwerfen: das gelegentliche Abgleiten in programmatisch anmutende Sätze.
"Die Scham, die jede Frau von Anfang bis Ende ihres Lebens nicht loslässt. Immer ist es dieselbe. Die Scham vor dem Körper, der nicht perfekt, nicht rein ist, der von der allgemeinen Moral missbilligt wird. Der Körper, der leidet, stöhnt, sich krümmt, blutet, sich verändert, heranreift, zunimmt und abnimmt, das ganze Leben lang penetriert, geschwängert."
Bis zum totalen Kontrollverlust
Solche wenn auch raren, verallgemeinernden Sätze aus dem Zitatenschatz des Feminismus hätte Inès Bayard nicht nötig gehabt. Nicht dass diese Sätze falsch wären. Doch ist die so konkret beschriebene schrittweise innere seelische Zerstörung der Vergewaltigten bis zum totalen Kontrollverlust die viel stärkere Botschaft. Inès Bayard überzeugt mit einer zupackenden Prosa, einer scharfen Beobachtungsgabe für intime Details und einem feinem Gespür für psychologische Schieflagen.
Inès Bayard: "Scham"
aus dem Französischen von Theresa Benkert
Paul Zsolnay Verlag, Wien. 224 Seiten, 22 Euro.