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Ingo Schulze: Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte
Der doppelte Erzähler

Der 1962 in Dresden geborene Autor Ingo Schulze zeigt sich in seiner neuen Essaysammlung wieder einmal als eine sensibel aufklärerische, kapitalismuskritische Stimme aus dem Osten. Dabei verbindet er konzise literarische Analysen mit den Erfahrungen seiner politischen Biografie.

Von Helmut Böttiger |
Ingo Schulze: "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte …"
Ingo Schulze: "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte …" (Foto: IMAGO / jmfoto, Buchcover: S. Fischer Verlag)
Die Art und Weise, wie Schriftsteller sich politisch zu Wort melden, hat sich in den letzten Jahren sehr geändert. Es gibt Beiträge zu einer „Debattenkultur“, die vor allem auf Distinktionsgewinn im literarischen Markt zielen und niemandem weh tun. Es gibt aber auch streitbare politische Wortmeldungen, die einen unausgesprochenen öffentlichen Konsens in Frage stellen.

Die Umkehrung der Perspektive

Der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze gehört zu letzterer Kategorie. Dabei scheint er sich erst allmählich, und zwar ziemlich lange nach dem Fall der Mauer, als ehemaligen, von sozialistischen Utopien geprägten Bürger der DDR wahrgenommen zu haben. Dadurch wird er unbequem. Sein Essayband sammelt verschiedenste Texte zur Tagespolitik, zum offiziellen Sprachgebrauch, aber auch zu literarischen und essayistischen Themen. Der Titel stammt aus einem Aphorismus des Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung“. Für Schulze ist diese Umkehrung der Perspektive zentral. Er irritiert damit vermeintliche Selbstverständlichkeiten unserer westlichen Zivilisation, also des Kapitalismus. 2017 stellte er in einer großen öffentlichen Rede fest:
"Jetzt rächt sich die Politik der letzten Jahrzehnte, die der Gesellschaft nicht viel mehr als Marktgläubigkeit anzubieten hatte, in der Privatisierung, betriebswirtschaftliche Effizienz und Wachstum die Kriterien nicht nur für die Ökonomie, sondern die gesamte Gesellschaft wurden und die eine Vereinzelung und sozial-ökonomische Polarisierung bewirkt haben, die ein Wir nur noch als Sentimentalität erträgt."

Schulze arbeitet sich am Sozialismus ab

Ingo Schulze ist in den achtziger Jahren in der DDR erwachsen geworden. Anders als seine westlichen Generationskollegen hat er die popkulturelle Wende dieser Zeit in der alten Bundesrepublik nicht wahrgenommen, die mit einer zunächst subversiven Affirmation des Kapitalismus und Distinktionsgewinnen durch überlegenen Konsum begann. Schulze arbeitete sich am Sozialismus ab, engagierte sich 1989 in der Bürgerrechtsbewegung der DDR und erlebte das Desaster, dass das „Neue Forum“ bei den entscheidenden Wahlen dort 1990 nur 2,9 Prozent der Stimmen erhielt.

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Die Erfahrung eines herrschaftsfreien Raums, von 1989 bis in den Sommer 1990 hinein, als der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unausweichlich geworden war, hat ihn geprägt. Und er registriert immer fassungsloser, wie vor der Tagesschau die aktuellen Börsenkurse als von außen verhängtes Schicksal verkündet werden, genauso wie anschließend der Wetterbericht. Die alte gesellschaftskritische Frage „Wem nützt das?“, die er einst von Bertolt Brecht gelernt hatte, wurde dadurch immer aktueller.

Das Experiment von Freiheit und Gleichheit

Die Dankesrede zum Bertolt-Brecht-Preis in Augsburg 2013 ist einer der zentralen Texte dieses Sammelbandes, sie steht neben einer kritischen Antrittsrede als Mainzer Stadtschreiber 2011 oder provokativen Auseinandersetzungen mit der westlichen Politik im Irak oder in der Ukraine. Mit einer sich abkapselnden DDR-Identität hat Schulze dabei nicht das Geringste zu tun. Sein Fixpunkt sind die wenigen Monate, in denen in der zu Ende gehenden DDR Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit ausprobiert wurden. Und das verbindet sich fast nahtlos mit konzisen literarischen Analysen, zum Beispiel des Romans „Der Trost des Nachthimmels“ des bosnischen Autors Dževad Karahasan, der vermeintlich im 11. und 12. Jahrhundert spielt. Politik und Ästhetik gehen dabei Hand in Hand:
"Auf 700 Seiten entspinnt sich diese Geschichte zum Gleichnis unserer Welt. Wie nebenbei wird deutlich, dass die zu bekämpfenden äußeren Feinde aus dem Inneren der bestehenden Macht hervorgehen. Mit Chayyam lernen wir einen Protagonisten kennen, der sich weigert, sich zum Feind machen zu lassen und zu hassen. Unbeirrt antwortet er auf Vereinfachung mit Differenzierung. Weil Dževad Karahasan es auf Verständigung anlegt, weil er seine Leser als Gesprächspartner behandelt, hält er am Erzählen fest wie ein avancierter moderner Komponist, der die Melodie nicht preisgeben will, diese aber nicht allein in Dur oder Moll entwickelt, sondern sie auch aus der Zwölftontechnik oder östlichen Vierteltonschritten herzustellen weiß."

Der doppelte Erzähler

Politische Differenzierung und Überlegungen zur Erzähltechnik: bei Ingo Schulze hängt das zusammen. Und so kann es nicht überraschen, dass bei diesem Autor zwischen tagesaktuellen Glossen über Wörter wie „Abwrackprämie“ oder ironischen Einwürfen gegen geistesaristokratische Anwandlungen des Schriftstellers Martin Mosebach auch sensible literarische Einfühlungen stehen können. Schulzes Darstellung des „doppelten Erzählers“ bei dem 1991 gestorbenen Schriftsteller und Bibliothekar Ludwig Greve hat etwas ungemein Zwingendes, und anhand des russischen Autors Vladimir Sorokin entwickelt er insgeheim auch seine eigene Poetik:
"Wir müssen das Selbstverständliche und Bekannte als das Fremde und Unbekannte zeigen. Die Literatur muss auf Schritt und Tritt staunen und nichts als gegeben hinnehmen. Das wäre die Voraussetzung, um jene zu attackieren, die die Welt nach ihren Interessen und Bedürfnissen einrichten, um sie dann als gegeben und unveränderlich hinzustellen."
Dieses Buch ist, obwohl es auf den ersten Blick wie eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten daherzukommen scheint, ein spannender Einblick in die Inspirationsquellen eines kritischen Ästheten.
Ingo Schulze: "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte ... Essays"
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main.
317 Seiten, 24 Euro.