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Inklusionsprojekt
Menschen mit geistigen Einschränkungen als Berater

An der Hochschule Magdeburg-Stendal werden aktuell sechs Menschen mit geistigen Einschränkungen zu Bildungsberatern ausgebildet, um Firmen bei der Inklusion behinderter Mitarbeiter zu unterstützen. Das Projekt ist nicht nur für die Betroffenen eine echte Chance. Auch Hochschulen können davon profitieren.

Von Christoph Richter | 15.04.2019
Ein Plakat mit der Aufschrift "Behinderte nicht ignorieren"
Ein Pilotprojekt an der Hochschule Magdeburg-Stendal soll dabei helfen, mehr Verständnis für Menschen mit geistigen Einschränkungen zu schaffen (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
Unterricht im Haus 3 Raum 0.21 am sonnigen Campus des Standorts Stendal, der gleichnamigen Hochschule. Hier werden seit ein paar Tagen sechs junge Erwachsene ausgebildet. Junge Menschen mit geistiger Behinderung, später sollen sie mal als Bildungsfachkräfte arbeiten. Eine von ihnen ist Sabine Schulze, 31 Jahre alt. Sie hat eine klare Vorstellung von ihrem künftigen Job.
"Wir tun die Menschen und andere Leute aufklären von unserem Leben. Dass sie mit uns klarkommen. Dass sie sehen, dass wir normal arbeiten können, dass sie uns verstehen."
Nach der Ausbildung (pdf) sollen Sabine und ihre fünf Mitstreiterinnen und Mitstreiter den Menschen ohne Einschränkungen erklären beziehungsweise klarmachen, wie der Alltag, die Lebenswelt von Menschen mit Handicap aussieht. Sie selbst verstehen sich als Übersetzer für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Sie wollen die Vorbehalte, Barrieren und Hürden thematisieren. Unternehmen, aber auch Verwaltungen sollen erfahren, worauf es im Umgang mit Betroffenen ankommt. Damit diese am normalen Arbeitsalltag genauso teilnehmen können wie alle anderen auch.
"Ich habe mit der Nervosität zu tun", verbunden mit Lernschwierigkeiten und einer Konzentrationsschwäche, erzählt Sabine Schulze aus der nördlichen Altmark. Vorher hat sie in einer Werkstatt der Lebenshilfe gearbeitet.
Ein bundesweit einzigartiges Projekt
Das Projekt an der Hochschule Magdeburg-Stendal nennt sich "Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt" und wird durch das Wissenschaftsministerium gefördert. Ein bundesweit einzigartiges Vorhaben. Man bilde zwar Bildungsberater für die freie Wirtschaft aus, doch auch an den Universitäten und Hochschulen in Deutschland gebe es Bedarf, sagt Matthias Morfeld. Er ist Professor für Rehabiltationspädagogik an der Hochschule Magdeburg-Stendal:
"Ja, wir sind selbst seit ein paar Jahren dabei, uns als inklusive Hochschule aufzustellen und merken, dass wir da erheblichen Nachholbedarf haben."
Das fange bei baulichen Maßnahmen an und ginge bis zum Blindenpunktschrift-Drucker, ergänzt Gesundheitswissenschaftler Morfeld. Er ist der Projektleiter des Vorhabens, in dem sechs Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen qualifiziert und zu Beratern in Sachen Inklusion ausgebildet werden.
"Meine Vision ist es, wenn wir die drei Jahre hier rum haben: Dass kein Studierender der gesamten Hochschule, sei es Reha-Psychologie, Soziale Arbeit, aber auch Maschinenbau und Bauingenieurwesen, die Hochschule verlässt, ohne eine Hochdosis Inklusion durch unsere Bildungsfachkräfte bekommen zu haben."
Ein anspruchsvolles Vorhaben
Das Ganze sei ein durchaus anspruchsvolles Projekt, sagt Morfeld noch. Denn im Laufe der Ausbildung sollen die Auszubildenden mit geistigen Einschränkungen auch selbst Seminare halten. Um ihre Kommilitonen zu sensibilisieren, um Schwellenängste abzubauen. Damit man sich am Ende auf Augenhöhe begegnet. Der Run auf die sechs Ausbildungsplätze war groß. Drei Jahre dauert die Ausbildung. Das sei eine einmalige Chance, um aus dem eintönigen Alltag einer Behindertenwerkstatt rauszukommen, sagt Teilnehmerin Sabine Schulz:
"Ich probiere es durchzuziehen und hoffe, dass es klappt. Dass ich es schaffe."
Eine Tischreihe vor Sabine sitzt Fiene Herkula. Auch für sie ist die Ausbildung zur Bildungsberaterin an der Hochschule Magdeburg-Stendal ein echter Glücksfall. Vorher habe sie bei der Diakonie, in den Werkstätten der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg, gearbeitet. Doch das war langweilig, sie musste monotone Hilfsarbeiten machen, wie sie sagt. Jetzt könne sie was Richtiges lernen. Das sei aufregend, schiebt die 29-Jährige noch schnell hinterher.
"Es ist was ganz anderes als die Arbeiten bei den Pfeifferschen Stiftungen. Hier werde ich geistig gefördert und gefordert."
Allerdings heißt das für Fiene Herkula auch, dass ihre Tage mehr als zwölf Stunden dauern, denn sie muss jeden Tag mit dem Zug von Magdeburg nach Stendal und zurück fahren.

"Reporter: "Können Sie hier nicht auf dem Campus wohnen?"
Fiene Herkula: "Leider nicht. Hier auf dem Campus direkt dürfen nur Studierende wohnen."
Reporter: "Sie sind doch auch Studierende?"
Fiene Herkula: "Nein, wir zählen als Auszubildende. Wir haben nicht den Status eines Studenten."
In Sachen Inklusion gibt es noch viele Stellschrauben zu drehen
Bei der Inklusion scheint noch viel zu tun. Problematisch sei auch, dass die Auszubildenden mit geistigen Einschränkungen einen eigenen Unterrichtsraum bekommen haben. Das klinge erst einmal positiv, zumal die Auszubildenden auch einen Schutzraum bräuchten, sagt Projektleiter Morfeld. Aber so bekämen sie vom normalen Hochschulalltag nur wenig mit. Nur in der Mensa könnten sie mit anderen Studierenden ins Gespräch kommen, ergänzt noch Gesundheitswissenschaftler Matthias Morfeld.
"Wir merken, dass wir noch an vielen Stellen und Enden noch viele Schrauben drehen müssen. Und das wollen wir mit den Sechs zusammen machen."