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Innenansicht einer Belagerung

Ein Leben hinter Mauern und Straßensperren: Wie gestaltet sich der Alltag der Palästinenser in Israel und im Westjordanland? Darüber schreibt der Literaturprofessor Saree Makdisi in "Palästina. Innenansichten einer Belagerung." Auch die Journalistin Marlène Schnieper bietet mit "Nakba" eine Innenansicht.

Von Helge Buttkereit | 13.02.2012
    "Schreib’s auf!
    Ich bin Araber.
    Hab nicht mal einen Nachnamen.
    Ich lebe geduldig in einem Land,
    Wo alle vor Wut kochen.
    Meine Wurzeln reichen zurück
    Bis zum Anbeginn der Zeit,
    Waren da vor den Zypressen und Ölbäumen
    Und da, bevor hier Gras wuchs."


    Diesen Auszug aus dem Gedicht "Identitätskarte" des palästinensischen Nationaldichters Mahmoud Darwish zitiert die Schweizer Journalistin Marlène Schnieper in ihrem Buch über die "Nakba". Der Dichter beschreibt eindrucksvoll die Ereignisse des Jahres 1948 und ihre katastrophalen Folgen aus Sicht der Palästinenser. Mit "Nakba" bezeichnen sie die Kolonisierung ihres Landes durch die Zionisten und die Vertreibung aus einer Unzahl von Dörfern und Städten. Schon die Wahl dieses Gedichts zeigt die Perspektive, aus der Schnieper schreibt. Der komplette Buchtitel "Nakba – Die offene Wunde" verstärkt dies. Auch Saree Makdisi nimmt diese Perspektive ein. Der Literaturprofessor, der in Los Angeles lehrt und dessen Eltern aus Palästina und dem Libanon stammen, befasst sich in seiner Neuerscheinung mit "Innenansichten einer Belagerung". Das Buch besticht durch genaue Beobachtung.

    "Die überwältigende Mehrzahl der ständigen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern findet bei den alltäglichen Gelegenheiten statt, bei denen die israelische Politik palästinensische Realität wird – wenn eine politisch motivierte Sichtweise die neutrale und technische Sprache von Verwaltungsprozessen und bürokratischen Regelungen annimmt, wenn sie in Regierungsbüros, an Straßensperren und Kontrollpunkten verwirklicht wird und sich in Form von Baugenehmigungen, Staatsbürgerschaft, Personalausweisen und Meldedokumenten und natürlich in Form von Visastempeln auswirkt."

    Makdisi überschreibt die palästinensische Realität immer wieder mit dem Verhältnis von Außen und Innen. Diese Begriffe spielen in der palästinensischen Gesellschaft eine besondere Rolle, wird sie doch zum einen durch eine Besatzung von außen reglementiert und zum anderen durch Mauern, Straßensperren und Abriegelungen immer wieder auf sich selbst nach innen zurück geworfen. Es geht ihm darum, den Alltag unter der Besatzung klar zu machen. Er stellt dar, wie das Land jenseits der israelischen Mauer für die Palästinenser in der Westbank immer unerreichbarer und damit zum Außen wird.

    "Seit die Mauer auf der ehemals imaginären Linie errichtet wurde, haben die Worte 'außerhalb' und 'innerhalb' eine vollkommen neue Bedeutung. So haben beispielsweise palästinensische Bauern, die außerhalb der Stadtgrenzen wohnen, keinen Zugang mehr zu ihrem Land auf der anderen Seite dessen, was früher einmal nur eine Linie auf einer Landkarte war, heute aber eine Betonmauer ist."

    Der Autor beschreibt auch die Innenperspektive der Palästinenser in Ost-Jerusalem, die sich nicht trauen, die Stadt zu verlassen. Viele erhalten von den Israelis kein Aufenthaltsrecht in ihrer Heimatstadt Jerusalem und könnten deshalb nicht ohne weiteres nach Hause zurückkehren

    "Um die Behauptung, Jerusalem sei eine jüdische Stadt, wahr zu machen, hat Israel vielen Palästinensern das Wohnrecht in Jerusalem entzogen, hat sie gewaltsam aus Jerusalem vertrieben, ihre Anträge auf Familienvereinigung abgelehnt, sich geweigert, die Geburt ihrer Kinder in die Einwohnerlisten einzutragen und Gesetze erfunden, durch die ihre Kinder im Alter von achtzehn Jahren gezwungen werden, sie zu verlassen und in die Westbank zu ziehen."

    Makdisi erläutert an unzähligen Beispielen, wie Israel versucht, das Land in Palästina zu übernehmen. Das Jahr 1948 und die Nakba sind dabei immer gleichzeitig Geschichte und Gegenwart. Das versucht auch Marlène Schnieper darzustellen. Zunächst leitet sie kenntnisreich in den Stand der historischen Forschung ein. Im Hauptteil ihres Buches nutzt sie dann das Stilmittel des Porträts. So beschreibt sie beispielsweise das Schicksal des Bauarbeiters, den sie in ihrem Appartement in Tel Aviv kennengelernt hatte, wo er mit Handwerksarbeiten beschäftigt war. Später besucht sie ihn in einem Flüchtlingslager in der Stadt Nablus im Westjordanland.

    "Ich merkte, dass hier ganz normale Menschen lebten, was keine Überraschung, doch aus den täglichen Bulletins der israelischen Armee nicht unbedingt abzuleiten war. Hanin, die Älteste, grüßte und zog sich hastig wieder zurück. Die Jurastudentin musste ein Examen über die Unterschiede zwischen angelsächsischem und kontinentalem Verfahrensrecht vorbereiten. Die Gymnasiastinnen Jana und Lama fragten sich unter viel Getuschel und Gekicher französische Verben ab. Der zehnjährige Karam machte sich mit einem Fußball aus dem Staub, während sein um drei Jahre älterer Bruder Akram vom Vater Zimmerarrest verpasst bekam."

    Leider traut die Autorin ihren Protagonisten nicht zu, die ganze Geschichte ihres Lebens zu erzählen. So folgt einer knappen Beschreibung der Person in der Gegenwart jeweils ein ausführlicher historischer Exkurs, der zum Schicksal der beschriebenen Familie gehört und wieder in der Gegenwart endet. Da Schnieper dabei oft weitere Schicksale einblendet, droht der Leser häufig die Orientierung zu verlieren. Dadurch fehlt dem Buch die Intensität, die Makdisi zu erzeugen weiß. Beide Autoren blenden in ihrer Darstellung die Gewalt von palästinensischen Gruppen in Gegenwart und Vergangenheit nicht aus. Sie stellen sie aber in den Kontext mit der israelischen Besatzung. Makdisi verweist zudem auf das Versagen der palästinensischen Autonomiebehörde, die in seinen Augen keine positive Rolle mehr spielen wird. Schnieper verharrt bei dieser Frage in journalistischer Distanz. Die Schweizerin lässt ihre Interviewpartner sprechen. Beispielsweise den eigenwilligen Hamas-Berater Ahmed Youssef. Seine Zukunftsprognose erstaunt jeden, der in der Hamas nur die Terrororganisation sieht.

    "Könnte Youssef eine Schweiz des Nahen Ostens kreieren, lebten Juden und Araber (unter ihnen Christen und Muslime) in getrennten Entitäten, geeint durch ein föderales Band. Mehrheitlich von Arabern bewohnte Gebiete würden zu arabischen, jüdisch bewohnte Gebiete zu jüdischen Kantonen. Beide Völker hätten das Recht, die eigene Sprache, Religion und Tradition zu pflegen. Ein gemeinsames Parlament erließe Gesetze zu übergeordneten Belangen wie Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaft und nationale Ressourcen. Über dieses Parlament würde die Regierung bestellt."

    Hier scheint die Ein-Staaten-Lösung durch, die auf palästinensischer Seite immer mehr diskutiert wird. Saree Makdisi beschreibt sie im abschließende Kapitel seines Buches als logische Konsequenz aus der andauernden Besatzung, der Landnahme der Israelis und dem Siedlungsbau.

    "Demokratische Zusammenarbeit zwischen Palästinensern und Israelis ist nicht nur möglich, sie ist auf die Dauer gesehen die einzige Alternative, die einzige echte Hoffnung. Die Vorstellung, dass man die Menschen ihren religiösen Überzeugungen entsprechend gewaltsam voneinander trennen muss, hat keinen Platz im 21. Jahrhundert.

    Wer die Bücher Makdisis und Schniepers gelesen hat, der kann die Palästinenser und damit den ganzen Nahost-Konflikt besser verstehen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Buch der Schweizer Israel-Korrespondentin trotz seiner Schwächen lesenswert. Zu Makdisi sollte hingegen jeder greifen, der sich mit Israel und Palästina beschäftigt.

    Marlène Schnieper: "Nakba – die offene Wunde: Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und ihre Folgen."
    Rotpunktverlag, 380 Seiten, 28 Euro
    ISBN: 978-3-858-69444-7

    Saree Makdisi: "Palästina. Innenansichten einer Belagerung."
    Laika Verlag, 400 Seiten, 21 Euro
    ISBN: 978-3-942-28190-4