Archiv


Ins Ohr

Sie ist über vierzig, als sie ihr Studium beginnt, über fünfzig, als sie endlich das Anwaltspatent erhält. Ihr Mann - Beamter im glücklichen Österreich, also: Hofrat - sieht dem Treiben gelassen zu. Am 20. Hochzeitstag verlässt er sie dennoch. Steckt eine andere Frau dahinter? Nein, das Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, Ruhe, Autonomie. Sagt er und bringt einmal wöchentlich seine Schmutzwäsche zur Ex-Gattin, von der er sich - aus Kostengründen und überhaupt - nicht scheiden lassen will. So viel Autonomie soll doch nicht sein! Eine Maxime, die nahtlos vom Vater auf den Sohn übergegangen zu sein scheint, denn der verlässt auch als reifer Student das mütterliche Nest nur werktags. Jedes Wochenende bringt er - gleich dem Vater - die getragenen Sachen nach Hause mit, lässt sich bekochen und verwöhnen und macht nicht die geringsten Anstalten, das Versorgungsmodell "Mutter" gegen das altersgemäßere Modell "Freundin" oder "Ehefrau" auszutauschen. Denn die Mutter funktioniert. Sie kocht, bügelt und wäscht, baut nebenher eine Anwaltskanzlei auf - und hält sich zwei Liebhaber. Den animalischen Autohändler Wolfram, der es im Bett bringt, im Alltagsleben aber jedoch nicht so recht, wo seine proletarische Manier neben ihrem Chanel-Kostüm unpassend ins Auge sticht. Zum Ausgleich gibt es den formvollendeten, aber auch vollendet verklemmten Notar Theodor, der zwar Schwierigkeiten mit seiner Potenz hat, dafür aber infantile SMS-Nachrichten à la "Katzimausi Bussi" auf ihr Handy schickt. Wie einst der Hofrat kann er sich nicht mal im Traum vorstellen, dass ihm ein anderer Mann das Wasser reiche. Perfekte Arglosigkeit für die menage à trois.

Florian Felix Weyh |
    Das ist der Stoff, aus dem sie alle sind: Die Frauenromane der Hera Lind und ihrer zahllosen Markenfälscherinnen. Bestimmte die Stoffwahl über literarische Qualität, müsste man die schmale Erzählung der von der Kritik weitgehend übersehenen Autorin Evelyn Grill rasch beiseite legen. Das Gegenteil tritt ein. "Ins Ohr" - nämlich in das einer unbekannten Zuhörerin, vielleicht der verstorbenen Mutter - erzählt eine beileibe nicht titanisch starke Protagonistin, wie schwer ihr der Wechsel von der funktionierenden Ehefrau zur Unternehmerin und Geliebten fällt. Denn was auf der einen Seite wie ein Aufbruch zu später Autonomie erscheint, wird auf der anderen von körperlichen Verfallserscheinungen begleitet. Dass Elfriede Schweiger - nomen est omen - nach zwanzig trostlosen Ehejahren endlich ein befriedigendes Leibesglück erfährt, bezahlt sie mit der Angst vor dessen begrenzter Dauer. Ständig wird sie von Infekten heimgesucht, eine Blasenentzündung will nicht weichen und lässt Inkontinenz befürchten. Machen sich Männer solche Gedanken nicht? Doch, aber sie verdrängen sie prompt. Eveleyn Grills Ich-Erzählerin vergräbt sich zwar nicht neurotisch in diesen memento-mori-Schleifen - dazu hat sie gar keine Zeit -, aber sie lebt mit ihnen, räumt ihnen Macht auf ihr Gemütsleben ein. Sie kann nämlich beides: In der Außenwelt Karriere machen und in der Innenwelt Gefühle wahrnehmen. Welcher männliche Kollege Mitte fünfzig wäre dazu in der Lage?

    Mehr als die Sinne fürs Ungewohnte zu öffnen und Empathie fürs Fremde zu erwecken, kann Literatur kaum leisten. Die Prosa Eveleyn Grills ist nüchtern, präzise, aufrichtig - und ergreifend. Sie denunziert niemanden, sondern macht Handlungszwänge und biographische Sackgassen plausibel. Selbst bei noch so großer Emanzipation ist es kaum jemandem gegeben, aus jahrelang gelebten Konstellationen einfach so auszubrechen, Geschlechterrollen und soziale Prägungen abzustreifen. Das gilt für Frauen wie für Männer, und darum ist diese "Frauenliteratur" ein Muss für männliche Leser. Wechseljahre dieser Art betreffen beide Geschlechter, der Mann hat den Aufbruch aus dem erstarrten Berufs- und Eheleben nicht weniger nötig als die Frau, kann ihn aber alleine kaum bewerkstelligen. Dazu ist sein Leidensdruck - oder genauer: die Leidens-Selbstwahrnehmung - viel zu gering. Doch Vorsicht beim Verschenken dieser Erzählung von Frau zu Mann: Dass "Ins Ohr" keine Kriegserklärung, sondern eher ein Liebesgeständnis ans unverzichtbare männliche Geschlecht darstellt, müssen die Herren der Schöpfung erst einmal begreifen. Die positive Provokation kann auch nach hinten losgehen.