Lange: Ist das für Sie eine Frage des Tempos, des Zeitplans oder sind Sie, wie zum Beispiel Ihre Kollegen aus der CSU, grundsätzlich dagegen?
Wissmann: Ich habe keine ideologischen Gründe. Ich bin auch keineswegs gegenüber der Türkei abgeneigt. Das ist ein beeindruckendes Land mit Menschen, die sich gerade auch Deutschland in besonderer Weise verbunden fühlen, die wir auch besonders schätzen und deren Kultur wir achten. Ich glaube nur, dass es auf Dauer weder der Türkei noch der Europäischen Union gut tut, wenn man etwas erzwingt, was man am Ende wirtschaftlich, sozial und finanziell nicht bewältigen kann, und ich fürchte auch, wenn man die Türkei reinnimmt, dann hat man keine sehr guten Gründe mehr, um beispielsweise im Blick auf Weißrussland, die Ukraine oder auch Russland die Vollmitgliedschaft zu verweigern, ja dann hat man nicht einmal mehr die allerbesten Gründe, um den sogenannten Maghreb-Staaten - denken Sie an Marokko, Algerien - zu sagen, ihr könnt nicht eines Tages doch in die Europäische Union, und eine solche Überdehnung der Europäischen Union führt dazu, dass am Ende der Integrationsprozess innerhalb der Europäischen Union nicht mehr gelingen kann. Dann wird daraus eine gehobene Freihandelszone, aber keine starke politische Kraft mehr, die in entscheidenden Fragen zusammenwirkt. Deswegen schlage ich vor, machen wir doch eine privilegierte Partnerschaft mit Ländern mit der EU, ohne sie als Vollmitglied aufzunehmen. Schaffen wir Zug um Zug einen gemeinsamen Wirtschaftsmarkt, aber versuchen wir zu vermeiden, dass wir mit einer Vollmitgliedschaft Lasten auf uns nehmen, die wir am Ende nicht bezahlen und nicht bewältigen können.
Lange: Aber nun ist die Türkei anders als die Maghreb-Region, seit Jahrzehnten assoziiertes EU-Mitglied, gehört dem Europarat an und gehört, anders als die Ukraine und Russland, seit Jahrzehnten auch der NATO an. Ist es OK, wenn Europa die geographisch exponierte Stellung der Türkei gerne für seine Sicherheitsinteressen nutzt, gleichzeitig dann aber durchblicken lässt, also zu Europa und zu unserer Wertegemeinschaft gehört ihr eigentlich nicht dazu?
Wissmann: Auch die NATO ist eine Wertegemeinschaft, und der gehört die Türkei ja an, aber die Europäische Union war immer gedacht als mehr als ein reiner Staatenbund. Sie war immer gedacht auch als eine Gemeinschaft, die politisch Themen und Gebiet zu einer Entscheidung verdichtet, zu einer politischen Union, und das ist eine solche Verbindung auf Dauer, dass man sagen muss - Helmut Schmidt hat diese Frage ja zurecht in den letzten Tagen aus seiner Erfahrung gestellt -, kann die Europäische Union eine solche Überdehnung angesichts der riesigen Unterschiede überhaupt noch bewältigen, oder fällt sie als Konsequenz dann nicht am Ende auseinander? Insofern, glaube ich, handeln wir nicht nur im eigenen Interesse, sondern durchaus auch im Interesse anderer europäischer Staaten, und ich glaube auch im gut verstandenen Interesse der Türkei. Wenn der gegenwärtige Mehrheitsführer Erdogan in der Türkei in einem Interview heute sagt, er glaube, dass man ja, wenn man mit der Europäischen Union nicht zurande käme, man auch mit der NAFTA verhandeln könne, also dem wirtschaftlichen Zusammenschluss der Vereinigten Staaten, Kanadas und Mexikos, dann sieht man ja, welch zum Teil eigenartiges Verständnis von der Europäischen Union selbst bei führenden Verantwortlichen in der Türkei vorhanden ist.
Lange: Bulgarien und Rumänien stehen ja ökonomisch auch nicht besser da als die Türkei, und wie stark da Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verankert sind und gelebt werden, da ist zumindest ein kleines Fragezeichen erlaubt. In Bulgarien gibt es zudem eine islamische Minderheit. Was qualifiziert diese Länder für den Kandidatenstatuts und die Türkei nicht?
Wissmann: Nun, Bulgarien und Rumänien sind objektiv überprüft durch die Europäische Union, auf die ganzen Konditionen gecheckt worden, die man üblicherweise in Sachen Rechtsstaat, in Sachen Minderheitenschutz, in Sachen Menschenrechte einem Mitglied der Europäischen Union abverlangt, und diese Prüfung hat ein positives Ergebnis ergeben. Trotzdem ist der Beitritt dieser beiden Länder immer noch abhängig von der Frage, ob auch die wirtschaftlichen, sozialen und anderen Fragen, die ja entscheidend sind, gelöst werden können, und ich finde, die Entscheidung kann erst dann bei diesen beiden Ländern erfolgen, wenn alle Fragen positiv beantwortet sind. Der entscheidende Unterschied besteht nicht nur darin, dass Bulgarien und Rumänien zwar in ihrer Gänze zum europäischen Raum gehören, sondern er besteht auch darin, dass es sich hier um Länder handelt, die auch erhebliche wirtschaftliche Fragezeichen aufwerfen, deren Größe aber eine Integration in die Europäische Union möglicherweise noch erlaubt, während wir bei der Türkei von einem Land einer Größe reden und einer Tiefe der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, bei dem man sich einfach fragen muss, wie es der Historiker Heinrich-August Winkler kürzlich in der Zeit geschrieben hat, macht man damit nicht eine Überdehnung - er nennt das einen 'imperial overstretch' - der Europäischen Union, die dann am Ende ihre Kraft überfordert und vor allem die Kraft der wohlhabenden Länder in der Europäischen Union, die am Ende die Bedingungen einer solchen Integration gar nicht mehr bezahlen können.
Lange: Aber glauben Sie denn, dass die Regierung in Ankara mit so etwas leben könnte?
Wissmann: Ich glaube, der Fehler, der gemacht worden ist - das muss man selbstkritisch sagen -, und zwar seit den 60er Jahren: man hat immer relativ vollmundig der Türkei die Öffnung der Tür zu Europa zugesagt, ohne die Konsequenzen zu bedenken...
Lange: Im Vertrauen darauf, dass sie die Bedingungen sowieso nicht erfüllt.
Wissmann: Um dann hinter vorgehaltener Hand zu sagen, ihr werdet es ja ohnehin nicht schaffen, und ich finde, jetzt, wo Ernst gemacht wird - es wäre besser gewesen, man hätte es früher gemacht -, sollte man gerade mit Freunden - und ich betrachte die türkische Republik als ein befreundetes Land und die Türken als unsere Freunde - ein ehrlicheres Wort reden, was nützt euch, was nützt uns, und was können wir gemeinsam schultern?
Lange: Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.
Link: Interview als RealAudio