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Integration und Bildung
"Es ist armselig, dass wir Menschen so auf ihre Herkunft reduzieren"

Der Talentscout Suat Yilmaz sucht in nordrhein-westfälischen Schulen nach Mädchen und Jungen, die von der Gesellschaft vergessen werden – um ihnen ein Studium zu ermöglichen. Über seine Erfahrungen hat er jetzt ein Buch geschrieben. In "Die große Aufstiegslüge" ist er überzeugt: Lebensläufe können anders verlaufen – wenn man es nur will.

Von Irene Geuer | 02.01.2017
    Siebtklässler strecken am 23.11.2016 während des Deutschunterrichts in einem Gymnasium in Friedrichshafen (Baden-Württemberg) ihre Hände nach oben.
    Es ist eine Armseligkeit unserer Gesellschaft, dass wir Menschen in dem Bildungssystem so stark auf ihre Herkunft reduzieren, dass sie keine Chance haben. (dpa/ picture alliance / Felix Kästle)
    Gesamtschule Essen Nord. Hier hat Suat Yilmaz mit dem angefangen, was er in seinem Buch "Die große Aufstiegslüge" beschreibt. Es geht um junge Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft durchs Bildungsraster fallen, also nicht wegen ihrer Intelligenz oder ihres Fleißes, sondern weil sie z.B. keinen Platz und keine Ruhe zum Lernen haben, weil den Eltern das Geld fehlt, ihnen eine lange Ausbildung an einer Universität zu ermöglichen. Er ist der erste Talentscout in Nordrhein-Westfalen für Kinder aus bildungsfernen Schichten, der heute im Auftrag des Landes-Wissenschaftsministeriums auf der Suche ist nach der "Elite von unten". Das war der Arbeitstitel seines Buches. Darin schildert er viele solcher Fälle, er spart nicht mit Anklage, aber auch nicht mit Forderungen. Und: Er bricht eine Lanze für das Zu-Tage-Fördern bislang chancenloser Talente, was den Essener Oberstufenlehrer Ernst Heite immer noch begeistert.
    "Die Idee war so gut, dass wir uns gefreut haben, als eine der ersten Schulen teilnehmen zu dürfen. (…) Weil fast alle unsere Kinder sind Bildungspioniere in ihren Familien."
    Wie zum Beispiel Lisa Maria – Oberstufenschülerin, die Familie stammt aus Italien: "Mein Vater ist 64, ich bin das jüngste Kind, meine Geschwister haben kein Abi, arbeiten. Er ist nächstes Jahr Rentner und ich gehe zur Schule und das ist das, wo er sich den Kopf zerbricht, dass er mich nicht durchbringen kann."
    Sozialer Pate und Mentor gesucht
    Ein Problem, das Suat Yilmaz auch in seinem Buch beschreibt – und die Lösung gleich mitliefert: Talentscouts, Mitarbeiter verschiedener Universitäten in Nordrhein-Westfalen, sorgen dafür, dass Schülerinnen wie Lisa Maria Bafög und andere Hilfen bekommen. So ein Talentscout ist auch Seren Basogul.
    "Der Scout hat ja verschiedene Rollen, die er einnimmt, der soziale Pate, der Mentor, ja, private Themen, die im Schulrahmen nicht so aufgegriffen werden, die haben hier auch Raum und seine Erfahrungen mit in die Arbeit mit reinzubringen und für Schüler da zu sein. Und ich sag auch immer, nichts ist schöner, als morgens aufzustehen und Bock auf den Job zu haben, und das ist es, wo ich gerade bin."
    "Ich sitze in einem recht kahlen Raum einer Gesamtschule in Gelsenkirchen. 8 Uhr 30, mein erster Termin, neun weitere sollten an dem Tag folgen. Der Schüler kennt mich nicht und ich ihn nicht. Das erste Gespräch ist aber äußerst wichtig, denn als Talentscout muss ich schnell die Lücke in der Höflichkeitspanzerung, mit der wir uns vor den anderen Menschen abschirmen, finden. Nur durch diese Lücke kann es gelingen, die emotionale Aufmerksamkeit zu bekommen und das Hoffnungsfeuer bei dem jungen Menschen zu entfachen. Nachdem ich die meine Aufgabe vorgestellt habe, beginne ich wie immer: 'Wie läuft et', Jung.'"
    "Es geht um arm und reich und nichts anderes"
    Suat Yilmaz schreibt begeistert und begeisternd über diese Arbeit. Und das ganz haptisch, wie bei diesem Erstgespräch mit einem Schüler, das er in Dialogform schildert. Immer wieder – das ist der rote Faden des Buches – demonstriert er, wie es gelingen kann, mit Empathie und Motivation junge Menschen aus einem Hartz-IV-Milieu für ein Studium zu begeistern.
    "Es ist eine Armutsdebatte, die wir führen. Es ist eine Armseligkeit unserer Gesellschaft, dass wir Menschen in dem Bildungssystem so stark auf ihre Herkunft reduzieren, dass sie keine Chance haben. Und ich hab neulich wieder mit Leuten gesprochen, die da wieder ein Kulturthema draus machen wollen, die das ethnisieren, nein, es geht um arm und reich und nichts anderes."
    Die Zahlen in seinem Buch untermauern dies. Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 77 an die Uni. Von 100 Arbeiterkindern sind es 23. Und er schreibt:
    "Die Forderung nach echten Bildungschancen ist kein altruistischer Reflex, sondern strategisches Element einer gesellschaftlichen Entwicklungsplanung. Wenn wir es nicht schaffen, die jungen Menschen durch Bildung und Ausbildung an unsere Gesellschaft zu binden (…) wird die gesellschaftliche Ordnung wie wir sie bisher kennen, schwer aufrechtzuerhalten sein."
    "Ich will das nicht einfach akzeptieren. Weil ich einfach glaube und ich wiederhole das immer wieder: Wenn wir uns die Lebenskontexte nicht anschauen und dementsprechend mit den Menschen umgehen produzieren wir ein Stück weit Unrecht."
    Alle Kinder fördern
    Dieses Unrecht konnte bislang nur mit Glück abgewendet werden, sagt Yilmaz. Das belegt er mit verschiedenen Lebensläufen und mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Er selbst kam als Kind aus der Türkei, und wenn er nicht das Glück gehabt hätte, einem Schuldirektor aufzufallen, dann hätte er heute einen Hauptschul- und keinen Studienabschluss in Sozialwissenschaften. Solche Lebensläufe, die Yilmaz immer wieder einstreut, beeindrucken und machen eindringlich klar: Bildung darf nicht länger vom Vermögen der Eltern abhängen.
    "Dass eine Mutter, die selber Lehrerin ist und ein Vater, der Rechtsanwalt ist, den eigenen Kindern bei den Hausaufgaben behilflich sein können, ihnen ermöglichen, in den Sommerferien ins Sprachcamp zu gehen (…),wird stillschweigend akzeptiert."
    Aber genau aus diesen Kreisen, so schreibt Yilmaz, kommt Kritik, wenn es darum geht, öffentliche Gelder in die Hand zu nehmen, um alle Kinder zu fördern.
    "Und dann wundern wir uns, wenn radikale Triefnasen im Internet sich die Kids packen. 'Wie haben die das gemacht?' Die haben sich mit den Kids auseinandergesetzt, mit denen gesprochen und denen einen Traum gegeben, einen barbarischen Traum gegeben. Und ich bin einfach sprachlos, wenn ich sehe, wie wehrlos wir sind, wenn es um unsere Kinder geht. Da stehen wir da mit runtergelassenen Hosen."
    Plädoyer für ein Netz aus Schule, Jugendamt, Fördertöpfen
    Also macht Yilmaz eine Liste auf. Er fordert nicht nur mehr Lehrer und bessere Bezahlung, sondern auch, dass der Lehrerberuf ernster genommen wird. Zum Beispiel dadurch, dass die Ausbildung auch im Punkt Sozialkompetenz verbessert wird. Er fordert mehr ehrenamtliches Engagement an Schulen. So viele Rentner – so viel Potential, das sich nutzen ließe. Und er plädiert für ein Netz aus Schule, Jugendamt, Fördertöpfen, damit kein Kind aus Geldmangel seinen Traum sausen lässt.
    "Diese Bildungspolitik ist für mich erst einmal ein gesellschaftliches Thema, was alle Schichten betrifft, wir müssen alle gewinnen für dieses Thema, und diese Experimentiererei, das geht mir tierisch auf den Zeiger, ich meine: Schulsysteme lassen sich nicht von heute auf morgen verändern, diese Geduld hat die Politik nicht, die denkt in Legislaturperioden, das ist das Dilemma."
    "Die große Aufstiegslüge" sind 238 Seiten voller Engagement, was sich auch darin ausdrückt, dass der Autor zuweilen gebetsmühlenartig wiederholt, dass es mehr Chancen für junge Menschen geben muss. Er sagt aber auch, dass diese Arbeit viel Energie und Zeit kostet. Und doch, trotz mancher Redundanzen, macht das Buch große Lust darauf, mit an einer Zukunft zu arbeiten, die nicht mehr an eine Aufstiegslüge glaubt.
    Yilmaz, Suat: "Die große Aufstiegslüge – Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden", Eichbornverlag, 238 Seiten, 20 Euro