Donnerstag, 25. April 2024

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Integrationsbeauftragte Widmann-Mauz
"Polarisierung bringt uns nicht weiter"

Integration sei in Deutschland nicht immer und überall gelungen, sagte Annette Widmann-Mauz im Dlf. Das müsse die Bundesregierung ehrlich aufarbeiten. Man müsse aber auch darauf achten, "dass wir die Werte, die wir von anderen einfordern, selbst an den Tag legen", sagte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung.

Annette Widmann-Mauz im Gespräch mit Paul Vorreiter | 10.06.2018
    Annette Widmann-Mauz, CDU
    "Wir brauchen eine respektvolle Sprache": Annette Widmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt (AFP/Stefanie Loos)
    Paul Vorreiter: Das Interview der Woche, dieses Mal aus dem Kanzleramt, denn das ist der Arbeitsplatz von Annette Widmann-Mauz. Die CDU-Politikerin ist die neue Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration: Guten Tag.
    Annette Widmann-Mauz: Guten Tag, Herr Vorreiter.
    Vorreiter: Der gewaltsame Tod eines 14-jährigen Mädchens in Wiesbaden hat eine neue, besonders heftige Debatte über Sicherheit in Deutschland und die Kriminalität von Flüchtlingen ausgelöst. Hat Sie das überrascht?
    Widmann-Mauz: Nein, die Diskussion der letzten Wochen und Jahre ist eine sehr polarisierte, aber diese schreckliche Tat muss jetzt konsequent aufgeklärt werden. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie müssen auch hier die volle Härte unseres Rechtsstaates erfahren, und dennoch gilt gleichzeitig, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass durch diese Tat Hass in unserem Land gesät wird, dass ganze Gruppen unter einen Generalverdacht gestellt werden, sondern es kommt darauf an, dass wir den Opfern der Familie, den Angehörigen gerecht werden und eine solche, wirklich schreckliche Tat nicht politisch instrumentalisieren.
    "Ich warne vor Schnellschüssen"
    Vorreiter: Die Sicherheitslage hat sich ja laut Polizeilicher Kriminalstatistik eigentlich gebessert, auch bei Gewaltdelikten, trotzdem scheint das mit dem Sicherheitsgefühl vieler Menschen nicht zusammenzugehen. Wie erklären Sie sich das?
    Widmann-Mauz: Wir haben eine große Aufmerksamkeit für Kriminalität in unserem Land und das subjektive Empfinden entspricht nicht immer der objektiven Lage und das muss uns besonders aufmerksam machen, dass wir die Ängste und Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen - umso wichtiger ist es, dass unser Rechtsstaat funktioniert, dass unsere Ermittlungsbehörden ihre Arbeit machen, und deshalb bin ich froh, dass es gelungen ist, den Verdächtigen im Irak festzusetzen, dass unsere Sicherheitsbehörden und das Auswärtige Amt gut auf internationaler Ebene zusammenarbeiten. Aber wir müssen jetzt auch ermitteln und klären, wie es dazu kommen konnte, dass der Verdächtige ausreisen konnte. Wir müssen klären, warum er nicht in Untersuchungshaft war, damit wir auch die Antworten an die Bevölkerung geben, die sie brauchen, damit am Ende auch wieder Vertrauen entsteht und Akzeptanz für ein gutes Zusammenleben in unserem Land gewährleistet ist.
    Vorreiter: Abgesehen von der Arbeit der Sicherheitsbehörden gibt es ja jetzt auch Forderungen, also politische Konsequenzen, die dem Ganzen folgen sollten. Ein Migrationsgipfel, eine Neuordnung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik: Ist die notwendig?
    Widmann-Mauz: Ich warne vor Schnellschüssen. Ich glaube, jetzt ist es notwendig, dass wir Aufklärung betreiben. Wenn wir feststellen, dass wir daraus politische Konsequenzen ziehen müssen, müssen wir das tun, rasch tun, aber wir sind in dieser Koalitionsregierung mittendrin in einer Veränderung auch von Regeln und wir werden in diesen Tagen einen Masterplan zur Migration vom Bundesinnenminister vorgelegt bekommen. Wir werden Gewaltprävention verstärken müssen und wir werden auch weitere Fortschritte im Bereich der Integration machen müssen und dazu ist ein neuer Nationaler Integrationsplan das richtige Instrument.
    Polizisten ermitteln in Wiesbaden nach dem Gewaltverbrechen an der 14-jährigen Susanna aus Mainz
    Das Gewaltverbrechen an der 14-jährigen Susanna aus Mainz: "Es kommt darauf an, dass wir den Opfern der Familie, den Angehörigen gerecht werden und eine solche, wirklich schreckliche Tat nicht politisch instrumentalisieren." (Arne Dedert/dpa )
    Vorreiter: An dieser Stelle eine harte Zäsur: Wir treffen uns ja auch wenige Tage vor dem Start der Fußball-WM: Also das Testspiel zwischen Deutschland-Österreich lief ja schon mal nicht so gut. In Erinnerung ist auch geblieben, dass die beiden Spieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan von den Fans ausgepfiffen wurden. Das war dann wohl eine Reaktion oder eine Replik darauf, dass sich die beiden haben mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan freudig abfotografieren lassen. Frau Widmann-Mauz, ist das eine angemessene Reaktion der Fans gewesen?
    Widmann-Mauz: Ich glaube, die Fans haben dabei zum Ausdruck gebracht, dass sie von den Nationalspielern erwarten, dass sie nicht nur auf dem Spielfeld die Regeln beachten, sondern sich auch außerhalb des Spielfeldes zu unserem Land bekennen und zu den Werten, die dieses Land ausmacht. Aber ich glaube auf der anderen Seite auch, es war gut und notwendig, dass die Gesellschaft, Politik die Diskussion mit den Spielern geführt hat und dass die Spieler sich auch erklärt haben, dass sie bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier waren, die Bundeskanzlerin war bei der Nationalmannschaft zu Besuch und im Gespräch. Und jetzt finde ich, sollten wir uns auf die WM konzentrieren, auf das, was auf dem Spielfeld läuft. Wir wollen gewinnen und dabei sollten wir unsere Spieler auch unterstützen.
    "Auf die Leistung kommt es an, nicht auf die Religion"
    Vorreiter: Wir erinnern uns noch an die WM 2006. Das war ja vor allem auch ein Zeichen, dass sich Deutschland auch erneuert hat. Deutschland hatte ein weltoffenes, tolerantes Gesicht nach außen gezeigt. Welche Erwartungen haben Sie an die WM, jetzt auch eben mit Blick darauf, dass wir ja eben doch auch ein sehr buntes Team haben?
    Widmann-Mauz: Zunächst einmal habe ich sportliche Erwartungen und ich bin ganz gespannt darauf, ob es uns gelingt, den Titel wieder zu verteidigen. Und auf der anderen Seite freut es mich, dass wir eine Nationalmannschaft haben, bei der es nicht darauf ankommt, wo jemand herkommt, welche Religion er hat, welchen Namen er trägt, sondern dass es darauf ankommt, mit welcher Leistung er auf dem Spielplatz performt und vor allen Dingen auch wie der Teamgeist und der Mannschaftsgeist in dieser unserer Nationalmannschaft ist. Man kann so vieles übertragen von dem, was im Sport wichtig ist, auf die Gesellschaft als Ganzes.
    Vorreiter: Aber trotzdem ist es immer wieder Thema der politischen Debatte, wie sich Fußballnationalspieler verhalten, und es wird eben auch darauf geguckt, wie sich Fußballspieler mit Migrationsgeschichte verhalten. Müssen denn Nationalspieler wie Özil, Gündogan, Boateng, müssen sie eigentlich immer wieder aufs Neue beweisen, dass sie Deutsche sind?
    Widmann-Mauz: Es geht gar nicht darum, dass sie beweisen, dass sie Deutsche sind. Ein Mitglied der Fußballnationalmannschaft ist per se Deutscher, sondern es geht darum, dass Fußballnationalspieler ja nicht nur auf irgendeinem Platz spielen, sie spielen nicht für irgendein Team, sondern sie spielen und repräsentieren unser Land. Und unser Land ist geprägt durch eine Kultur, durch Werte, die unser Grundgesetz ausmachen, die eine große Tradition haben. Vor dem Hintergrund erwarte ich und erwarten die Menschen zu Recht von allen unseren Nationalspielern, dass sie zu diesen Werten stehen, dort, wo sie gefragt sind. Und das kann auch einmal sein, wenn man einem anderen Staatspräsidenten begegnet, das kann aber auch einmal sein, wenn man sich vielleicht auch sonst nicht so benimmt, wie wir das von Repräsentanten für unser Land dann auch erwarten. Und deshalb gab es ja immer wieder auch mal Kritik am Verhalten von anderen Spielern, also nicht nur vor dem Hintergrund der Migrationsgeschichte, die der einzelne Spieler verkörpert.
    Frank-Walter Steinmeier mit Ilkay Gündogan (l.)und Mesut Özil (M.)
    "Ich glaube auf der anderen Seite auch, es war gut und notwendig, dass die Gesellschaft, Politik die Diskussion mit den Spielern geführt hat und dass die Spieler sich auch erklärt haben." Ilkay Gündogan (l.)und Mesut Özil (M.) im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier (Bundespresseamt)
    Vorreiter: Aber was sind denn vielleicht die Botschaften, die gerade Spieler mit Migrationsgeschichte auch anderen Heranwachsenden oder anderen Jugendlichen vermitteln können, die eben auch eine Migrationsgeschichte haben, wozu sie es in diesem Land schaffen können?
    Widmann-Mauz: Ja die positiven Momente, die wir in einem gemischten Team auch von Menschen mit Migrationsgeschichte demonstrieren können, sind so herrlich und so gut, weil sie zeigen, dass es darauf ankommt, wie bringe ich mich ein, was leiste ich auf dem Platz, wie verhalte ich mich gegenüber meinen Mitspielern. Und das sind im Grunde ja auch Tugenden, die in der Gesellschaft gefragt sind. Und das Schöne ist, das in unserer Fußballnationalmannschaft deutlich wird, dass es Spieler, die vielleicht einmal als Jungs vor Ort in ihrem Stadtteil-Club gespielt haben oder auf der Straße und die vielleicht aus einem Elternhaus kommen, wo man nicht mit dem goldenen Löffel aufgewachsen ist, sondern wo sich auch die Eltern vieles haben hart erarbeiten müssen, als sie hier angekommen sind, oder auch aus Stadtteilen kommen, in denen wir auch soziale Probleme haben, dadurch dass nicht der Aufstieg immer gewährleistet war, aber dass wir sehen können, jawohl, das ist ein Land, in dem Aufstieg möglich ist, in dem Perspektiven auch für Menschen, egal woher sie kommen, möglich sind, und dass es eben nicht die Rolle spielen darf, wo komme ich her, wie sehe ich aus.
    Defizite bei der Integration
    Vorreiter: Also Aufstieg durch Leistung, ohne Rücksicht auf die Herkunft, das ist in Deutschland möglich. Aber trotzdem gibt es ja auch einen Teil, vielleicht auch gerade unter den Türkeistämmigen, die sich hier nicht so sehr zu Hause fühlen. Wir erinnern uns an das Verfassungsreferendum in der Türkei, wo ja auch hier die Türkeistämmigen mit abstimmen konnten. Und da ist ja schon auch aufgefallen, dass es einen großen Anteil eben gab von Türkeistämmigen, die für die Verfassungsreform gestimmt haben, die ja doch rechtsstaatlich bedenklich war. Wie erklären Sie sich das?
    Widmann-Mauz: Ja, Integration ist in Deutschland nicht immer und überall gelungen. Ich finde, auch darüber müssen wir ehrlich miteinander ins Gespräch kommen. Wir erleben die positiven Seiten, und das sind die weit überwiegenden, ja die oft unsichtbare Mehrheit in unserem Land, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, die ihren Dienst tun, ob im Krankenhaus oder am Fließband, an der Hochschule, als Arzt. Wir haben enorm viele erfolgreiche Geschichten. Wir haben aber auch die nicht gelungene Integration. Folgen, die wir heute feststellen, von Fehlern, die wir in den 70er Jahren gemacht haben.
    Ein Schild "Hier sind wir zuhause" in verschiedenen Sprachen hängt am 12.08.2015 in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) auf der Straße. Händlern brechen die Geschäfte weg, Familienclans reklamieren die Gegend für sich.
    "Wir haben enorm viele erfolgreiche Geschichten. Wir haben aber auch die nicht gelungene Integration." Im Bild. Straßenszene in Duisburg-Marxloh (picture alliance/dpa/Maja Hiti)
    Und deshalb müssen wir ganz ehrlich analysieren und bilanzieren, was gut gelungen ist und wo wir nachsteuern müssen. Und das tut die Bundesregierung ,und sie hat sich auch zum Auftrag gemacht, dass wir in einem Monitoring ehrlich, wirklich in allen Bereichen schauen, wo haben wir Defizite. Und gerade, wenn es zum Beispiel um den Zugang zum Arbeitsmarkt geht, können wir feststellen, dass wir noch lange nicht die Erfolge haben, die die Menschen auch aufgrund ihrer Leistung, ihrer Qualifikation verdient haben. Es gibt jetzt jüngst eine Studie des Wissenschaftszentrums in Berlin, die noch einmal deutlich macht, dass wir hier Nachholbedarf haben.
    Und deshalb müssen wir uns um diese Themen intensiv kümmern. Wir müssen uns fragen, sind die Maßnahmen, die wir entwickelt haben für Integration, denn eigentlich auch bei den Menschen angekommen in der richtigen Art und Weise, sodass wir Erfolge verzeichnen können. Wo müssen wir nachsteuern, wo müssen wir ganz neue Akzente setzen. Das halte ich für notwendig.
    Öffnung des Arbeitsmarktes für Menschen mit Migrationshintergrund
    Vorreiter: Sie sprechen diese Studie an, da geht es vor allem auch darum, dass man festgestellt hat, dass Menschen mit afrikanischem Hintergrund oder Menschen, die aus muslimischen Ländern kommen, dass sie Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt angenommen zu werden, weil es da durchaus Hemmnisse gibt vonseiten eben der Unternehmen. Eine Möglichkeit, dem entgegenzusteuern, wäre ja zum Beispiel anonymisierte Bewerbungsverfahren gesetzlich einfach festzuschreiben. Davon ist ja in Ihrem Koalitionsvertrag nicht die Rede.
    Widmann-Mauz: Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, Zugangshürden, Teilhabebarrieren abzubauen und ich finde, es gibt eine Vielzahl von interessanten Instrumenten, wie wir hier zu mehr Teilhabegerechtigkeit kommen können. Ich will mich im Moment noch gar nicht auf eine Maßnahme beschränken, weil ich glaube, es ist notwendig, dass wir Offenheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zeigen, damit diese Potenziale überhaupt zur Geltung kommen können. Und deshalb habe ich jetzt eine Forschungsstudie in Auftrag gegeben, in der ich analysieren will, wo wir gerade auch im öffentlichen Dienst als Vorbildgeber Möglichkeiten haben, mehr Menschen die Zugangschancen zu eröffnen. Und ich erwarte mir auch Vorschläge für wirklich passgenaue und gute Instrumente, wie wir hier Verbesserungen erreichen können, und die werde ich dann auch in die politische Arbeit mit einbringen.
    Vorreiter: Jetzt gibt es ja Integrationspolitik nicht erst seit dieser Legislaturperiode. Integrationskurse gibt es ja seit 2005. Und immer wieder, wenn die Forderung im Raum steht, dass etwas auf den Prüfstand muss, dann habe ich den Eindruck, dass das doch eigentlich anachronistisch ist. Müsste man inzwischen nicht eigentlich wissen, welche Instrumente für gelungene Integration notwendig sind?
    Widmann-Mauz: Wir haben natürlich gerade in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse sammeln können, wo wir nicht nur bei den Integrationsmaßnahmen, sondern auch bei Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, bei Maßnahmen der Integration in den Schulen, in den Kitas, bei der Ausbildung nachsteuern müssen und Verbesserungen angehen müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gerade nachdem wir eine große Zahl von Menschen ja zu verzeichnen hatten, die seit 2015 und 2016 zu uns gekommen sind, dass wir unsere Instrumente zielgenauer ausrichten. Es reicht zum Beispiel nicht, bei den Integrationskursen nur festzustellen, so und so viel Menschen haben teilgenommen, der Haken ist hinter der Maßnahme und damit Aufgabe erfüllt. Sondern es kommt darauf an, dass wir auch die Ziele, die wir mit den Integrationskursen erreichen wollen, dann auch bewirken können. Und dazu ist es notwendig, dass wir genauer schauen, welche Menschen sind eigentlich in den Integrationskursen.
    Da sitzt zum einen der Akademiker aus Syrien und auf der anderen Seite vielleicht der nicht ausgebildete Somalier, und alle laufen durch den gleichen Kurs mit dem gleichen Angebot. Das kann nicht dann am Ende zu den guten Ergebnissen führen, die wir wollen. Wir müssen zum Beispiel die Wartezeiten auf die Kurse deutlich reduzieren. Auch hier haben wir erheblichen Verbesserungsbedarf. Und wenn ich an die Teilnahme von Frauen denke, dann glaube ich, auch hier müssen wir noch stärker differenzieren, damit auch die Bereitschaft vorhanden ist, die Angebote anzunehmen. Also hier haben wir schon viele Erkenntnisse, und jetzt müssen wir die Maßnahmen entsprechend darauf hin ausrichten.
    "Besonders liegt mir die Situation der Frauen am Herzen"
    Vorreiter: Sie haben ja das Amt übernommen von Aydan Özoğuz, die ja auch eigentlich auf diesem Feld schon sehr viel geleistet hat. Sie hat ja zum Beispiel die Leitbilddebatte angeregt, im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, wo sie auch zusammen mit Migrantenorganisationen darüber gesprochen hat, wie eben Zusammenleben in Deutschland funktionieren soll. Sehen Sie sich in einer Linie mit Frau Özoğuz oder wollen Sie andere Akzente setzen?
    Widmann-Mauz: Jede Integrationsbeauftragte setzt eigene Schwerpunkte und ich will diese insbesondere in der neuen Auflage eines nationalen Aktionsplans Integration umsetzen. Wir werden in der nächsten Woche, beginnend mit dem Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin, dafür einen Startschuss geben. Und mir kommt es darauf an, dass wir die integrationspolitischen Maßnahmen in der Breite haben, und das sind viele Felder, das beginnt bei dem Ankommen hier in Deutschland. Es geht weiter über die Erstvermittlung von Werten, zum Beispiel in Integrationskursen. Es geht dann weiter in die Phasen, in denen wir ja Kindern Sprache und Bildung beibringen, Ausbildungszugänge eröffnen. Der Arbeitsmarkt ist ein ganz wichtiges Feld, um Integration im Alltag dann auch wirklich zu leben.
    Zwei muslimische Frauen mit Kopftüchern reichen sich die Hände und lachen in die Kamera.
    "Frauen vermitteln häufig in den Familien ein Bild an die nächste Generation, das ganz entscheidend ist, weil es wiederum die Integration der nächsten Generation prägt." - Im Bild: Deutschkurs für Flüchtlinge in Berlin (dpa picture alliance/ Britta Pedersen)
    Und besonders liegt mir die Situation der Frauen am Herzen. Hier werde ich einen Schwerpunkt setzen, denn sie sind so wichtig, erstens in der Fragestellung, wie können wir sie stärken in ihrem Selbstbewusstsein, dass sie auch eigene freie Entscheidungen treffen können. Und im Übrigen vermitteln Frauen häufig in den Familien auch wieder ein Bild an die nächste Generation, das ganz entscheidend ist, weil es wiederum die Integration der nächsten Generation prägt. Und deshalb ist es notwendig, dass wir auch hier spezifischer, zielgerichteter diese Gruppen ansprechen.
    Vorreiter: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche mit Annette Widmann-Mauz. Sie ist Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration. Lassen Sie uns ein bisschen persönlich werden. Sie stammen aus Tübingen, haben dort Politik und Recht studiert, waren 2002 bis 2009 Gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag. Von 2009 bis 2018 waren Sie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium und Sie waren auch als Bundesgesundheitsministerin im Gespräch. Was qualifiziert Sie denn jetzt nun für dieses Amt als Integrationsbeauftragte?
    Widmann-Mauz: Ich habe in meiner politischen Laufbahn stets gesellschaftspolitische Felder mit gestaltet und das heißt Themenbereiche, die nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen sind, die ihren Alltag beeinflussen und gestalten. Und Integrationspolitik ist eine solche Querschnittsaufgabe der Gesellschaftspolitik.
    Vorreiter: Aber empfinden Sie es nicht als Manko, dass mit dem Weggang von Aydan Özoğuz jetzt die Situation entstanden ist, dass niemand im aktuellen Kabinett einen Migrationshintergrund hat und quasi diese 17 Millionen Menschen, die in Deutschland hier leben, hier keine Repräsentanz finden?
    "Auch die Interessen migrantischer Verbände Gehör verschaffen"
    Widmann-Mauz: Es gibt zwei Antworten. Erstens, Integration ist immer ein Thema, das diejenigen, die schon länger hier leben, und diejenigen, die zu uns gekommen sind oder eine Migrationsgeschichte haben. Integration, wenn sie gelingen soll, muss auch hier den Zusammenhalt aller Menschen formulieren, und deshalb finde ich es nicht falsch, wenn Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund dieses Themenfeld bestellen. Insgesamt finde ich es bedauerlich, dass wir noch viel zu wenig Menschen mit Migrationshintergrund in allen gesellschaftlichen Bereichen haben, ob das die Politik ist, ob das die Wirtschaft ist, ob das in der Gesellschaft wichtige Organisationen sind.
    Vorreiter: Aber da gibt es doch inzwischen ganz konkrete handfeste Vorschläge, eben auch von Migrantenorganisationen, ein Paritätsgesetz zum Beispiel im Bund, dann ein Einwanderungsgesetz. Da hat sich ja Ihre Partei jahrelang dazu durchringen müssen, das wird ja jetzt dann als Fachkräftezuwanderungsgesetz nun dann kommen. Es gibt ja auch die Vorstellung, ich habe es vorhin angesprochen, die anonymisierten Bewerbungen einzuführen oder zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für Drittstaatler zu öffnen. Welches dieser Vorhaben würden Sie denn umsetzen im Sinne einer gelingenden Integration?
    Widmann-Mauz: Ich glaube, es ist wichtig, dass wir in allen politischen Diskussionen Menschen mit Migrationshintergrund beteiligen. Der nationale Aktionsplan Integration ist ein institutionalisiertes Format, das diese Möglichkeiten eröffnet, frühzeitig beteiligt, mit den Betroffenen, mit den Beteiligten auch entsprechend Konzepte entwickelt, diese auch modellhaft erprobt und weiterführt, aber ich halte es für richtig, dass wir am Ende nicht in denen und den anderen, wieder nach Sonderformaten suchen, sondern dass wir wirklich integrativ von Anfang an ganz selbstverständlich, so wie wir in Beteiligungsverfahren Verbände jeglicher Couleur unseren Gesetzgebungsverfahren beteiligen, auch die Interessen von migrantischen Verbänden in unsere Planungen, Entwicklungen und auch in der Gesetzgebung Gehör verschaffen.
    Vorreiter: Jetzt findet ja die Integrationsdebatte nicht im luftleeren Raum statt. Wir haben eine ziemlich aufgeheizte politische Debatte. Es kommen eigentlich fast im Wochenrhythmus neue, ich sage jetzt mal, rhetorische Aussagen, die vielleicht durchaus auch zündeln. Es ist von einer Anti-Abschiebeindustrie die Rede. Der Abschiebedruck in Bayern soll erhöht werden. Was die Sprache angeht, müssten Sie nicht Alarm schlagen? Finden Sie nicht, dass diese Töne integrationsunförderlich sind?
    Widmann-Mauz: Ich finde, wir brauchen eine respektvolle Sprache. Was die Frage des Aufenthalts in unserem Land anbelangt, da haben wir klare Regeln, dass wir ein Verfahren brauchen, das qualitativ hochwertig ist, aber möglichst auch so schnell wie möglich durchlaufen wird, damit die betroffenen Menschen, die zu uns kommen und unseren Schutz wollen, so schnell wie möglich wissen, ob sie eine Bleibeperspektive haben oder nicht. Dann müssen wir auch, wenn die Entscheidungen gefallen sind, die entsprechenden konsequenten Handlungen oder Beratungen auch bis hin zur Ausreise, am besten und am liebsten zur freiwilligen Ausreise, angehen; aber umgekehrt auch denjenigen, die eine Bleibeperspektive und ein Bleiberecht haben, so früh wie möglich alle die Chancen eröffnen, damit Integration in unsere Gesellschaft auf dem Arbeitsmarkt auch entsprechend gelingen kann.
    Deshalb ich mahne zur Differenzierung. Es macht keinen Sinn, alle Themen mit pauschalen Vorurteilen zu behandeln. Polarisierung bringt uns nicht weiter, aber auf der anderen Seite dürfen und müssen wir auch die Probleme klar benennen, denn nur, wenn wir sie lösen, werden wir im Ergebnis dann auch die Akzeptanz für Integration und für gesteuerte und für geregelte Zuwanderungen in unserem Land erhalten und die ist notwendig, damit Zusammenhalt, gutes Zusammenleben und Integration im Ergebnis gelingt.
    "Wir müssen als Gesellschaft klar formulieren, was wir erwarten"
    Vorreiter: Wir haben das ja jetzt vor einigen Wochen erlebt hier bei der Demonstration, die von der AfD veranstaltet wurde, wo sich ja tatsächlich zwei Lager gegenüberstanden, unversöhnlich. Welcher Beitrag könnte denn von Ihnen kommen als eben Integrationsbeauftragte, um hier Brücken zu bauen?
    Widmann-Mauz: Wenn wir die Ängste von Menschen nicht ernst nehmen, dann werden wir erleben, dass Polarisierung auf der einen Seite zunimmt. Wenn wir umgekehrt auf der anderen Seite aber jede Herabwürdigung, auch Diskriminierung, nicht von Anfang an in den Worten, in unserer Sprache klar zurückweisen, dann werden wir immer mehr auch an Aggressionen bis hin zu Gewaltbereitschaft in unserem Land erfahren, und deshalb ist es notwendig, Befürchtungen ernst zu nehmen, aber trotzdem klar in der Sprache zu sein, dass wir auch die Werte, die wir von anderen einfordern, auch im Umgang, in unsere Gesellschaft selbst an den Tag legen.
    Vorreiter: Und diese Werte, die wir einfordern, sollten die sich an dem Begriff einer Leitkultur orientieren oder an dem einer Heimat?
    Widmann-Mauz: Jeder hat eine Heimat oder vielleicht auch mehrere Heimaten, weil es ist kein Begriff, der sich reduzieren lässt, und jeder stellt sich für sich auch etwas anderes vor. Ich halte nicht viel davon, dass wir uns an Begrifflichkeiten abarbeiten, sondern wir müssen uns in der Diskussion vergewissern, was ist uns wichtig und hier müssen wir auch als Gesellschaft klar formulieren, was erwarten wir, denn umgekehrt, wenn wir nicht klar formulieren, was erwarten wir, können andere auch nicht verstehen, was denn von ihnen erwartet wird.
    Vorreiter: Frau Widmann-Mauz, danke schön für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.